SOL 37 MORGEN

Jamie stand nackt unter der heißen Sonne des Mars. Schweiß lief ihm die Rippen und Beine hinunter, als die Götter sich um ihn versammelten. In seinen Lenden tobte der süße Schmerz der Sehnsucht. Voller Verlangen streckte er die leeren Hände aus.

Das Land war rot wie Blut, der Himmel von einem so strahlenden Blau, daß ihm die Augen wehtaten, wenn er nach oben schaute. Jenseits der sandigen Wüste kamen die Götter in ihren feurigen Wagen herab, einer nach dem anderen. Überall, wo sie aufsetzten, verwandelte sich das Marsgestein sofort in leuchtende Blüten. Bald war die ganze Wüste von einem bunten Teppich bedeckt, und sogar die zerklüfteten Klippen in der Ferne veränderten sich und gerannen zu Städten aus Adobe und Holz. Jamie sah Rauchfahnen aus ihren Schornsteinen aufsteigen.

Die Götter trugen Federn und glitzernde Perlen. Ihre Gesichter waren die von Totems: Fuchs, Adler, Hund, Schlange. Sie hatten prachtvolle Körper, aufrecht und hochgewachsen wie stolze Kiefern, mit herrlichen Muskeln; sie glänzten wie poliertes Kupfer.

Sie versammelten sich feierlich und schweigend um Jamie, bildeten einen Kreis um ihn, bis er sich in ihrer hehren Gegenwart wie ein kleines Kind fühlte. Jamie betastete das Totem, das sein Großvater ihm gegeben hatte; der Bär war sein Beschützer und sein Führer.

»Ich bin zu euch zurückgekehrt«, sagte Jamie zu den Göttern. »Ich bin in euer Reich zurückgekommen.«

Die Götter schwiegen. Sie starrten wortlos auf Jamie herab, während die sanften Winde des Mars ihr Morgenlied sangen.

»Ich komme aus weiter Ferne«, erklärte Jamie und zeigte auf einen einzelnen Stern, der sogar am Tageshimmel leuchtete. »Von der Erde.«

Die Götter rückten näher, ragten drohend über Jamie auf, so daß er sich klein und schwach vorkam. Er hatte Angst. Seine Knie zitterten. Er schwitzte stark.

»Du hast alle Krankheiten des weißen Mannes mitgebracht«, sagte die Stimme der Götter. »Du hast den Tod zu unserem Wohnsitz gebracht.«

»Nein!« protestierte Jamie. »Ich bringe euch Leben!«

»Du bringst den Tod.«

Sie erhoben die Hände gegen Jamie. Jeder hatte einen mächtigen Gegenstand in der Hand. Bei manchen war es eine Rassel, die aus einem riesigen Flaschenkürbis gefertigt und in fröhlichen Farben bemalt war. Bei anderen war es ein schwarz gestrichener, äußerst bedrohlich wirkender Knüppel. Sie schwangen die Knüppel, rasselten mit den Kürbissen. Und verschwanden.

Die Götter verschwanden, verblaßten, und aus der Welt um sie herum entwich alles Leben. Die Blumen, die Blüten, die schönen Adobestädte schmolzen dahin, lösten sich auf und ließen nur die leere Trostlosigkeit des Mars zurück, so weit das Auge reichte.

Das summende Rasseln der Flaschenkürbisse ertönte jedoch weiterhin — bedrohlich, beharrlich, unentrinnbar.

Jamie erkannte, daß es das Summen der Kommunikationskonsole war. Er schlug die Augen auf und wechselte so widerstrebend vom Traum zur Realität wie ein Mann, der ein warmes Feuer verläßt, um einem Wintersturm zu trotzen.

Er befand sich im Rover. Einen halben Meter über ihm dehnte sich die graue Unterseite von Joannas Liege. Noch näher, zu seiner Linken, lag Connors ausgestreckt und in seine Decke verheddert. Das Gesicht des Astronauten war von einem Schweißfilm bedeckt. Sein schlafendes Gesicht war verzerrt; er sah aus, als hätte er Schmerzen.

Die verdammte Kommunikationsanlage im Cockpit summte wie ein Hornissenschwarm. Außer ihm schien es niemand zu hören. Jamie kroch vorsichtig aus seiner Koje und tappte auf seinen Socken ins Cockpit. Er fröstelte. Sein Overall war von kaltem Schweiß durchtränkt. Sein Kopf dröhnte, als ob er einen fürchterlichen Kater hätte.

Er ließ sich auf den rechten Sitz fallen und legte einen Finger auf die Taste, die den Kommunikator aktivierte. Mit der anderen Hand begann er das kleine Rad zu drehen, mit dem der Thermovorhang von der Kanzel gezogen wurde. Draußen auf dem Boden des Canyons war es noch dunkel. Das einzige Licht im Cockpit kam von den hellen Anzeigen an der Instrumententafel.

Seiji Toshimas rundes Gesicht erschien auf dem kleinen Bildschirm. Mit den dicken Tränensäcken unter den trüben Augen sah er genauso aus, wie Jamie sich fühlte.

»Tut mir leid, daß ich Sie so früh wecke«, sagte der Meteorologe ohne Einleitung, »aber ich muß Sie vor einem Staubsturm warnen, der heute vormittag über Ihre Region hereinbrechen könnte.«

»Staubsturm?« murmelte Jamie. »Was?«

»Ein Staubsturm! Windgeschwindigkeiten von zweihundert Knoten. Sicht beinahe gleich Null. Teilchendichte in der Luft hoch genug, um ungeschützte Geräte zu beschädigen. Ihr müßt euch vorbereiten!«

»Moment …« Jamie schwirrte der Kopf. »Langsam. Wovon sprechen Sie?«

»Das Grabensystem wirkt wie ein Windkanal«, sagte Toshima in rasantem Tempo. »Die herannahende Kaltfront wird eine Energiewelle in den Canyon schicken und einen äußerst heftigen Staubsturm erzeugen. Ihr müßt darauf vorbereitet sein! Ungeschützte Geräte könnten beschädigt werden. Menschen, die sich draußen im Freien befinden, könnten die Orientierung verlieren. Der Staub könnte so dicht werden, daß die Sicht stark eingeschränkt ist. Sogar Funkverbindungen könnten betroffen sein.«

»Aber ich dachte, die Stürme kämen zu dieser Jahreszeit nicht so weit nach Süden«, sagte Jamie, als ihm allmählich dämmerte begann, was Toshimas Worte bedeuteten.

Der Meteorologe bremste sich und erklärte, er glaube, der gesamte Grabenkomplex könne zu einem riesigen Windkanal voller Staub in der Luft werden.

»Ich kann euch stündlich auf dem laufenden halten«, sagte er. »Ich habe Ulanow und Diels im Orbiter gebeten, alle Instrumente heute vormittag auf das Canyongebiet zu richten. Glücklicherweise bleibt das Raumschiff in seiner Umlaufbahn konstant über dieser Hemisphäre.«

Jamie hörte die Geräusche der anderen, die hinter ihm von ihren Liegen aufstanden.

»Ich würde davon abraten, heute eine EVA zu unternehmen, bei der sich jemand mehr als ein paar Minuten Fußmarsch vom Fahrzeug entfernt«, sagte Toshima. »Bei Windgeschwindigkeiten von zweihundert Knoten könnte so ein Sturm bei euch sein, bevor ihr es richtig bemerkt.«

»Mist«, schimpfte Jamie. »Angenommen, wir fahren mit dem Rover weiter nach Westen? Das wollten wir sowieso tun. Dann graben wir dort ein tiefes Bohrloch und statten es mit Meßinstrumenten aus.«

Toshima zog die Augenbrauen hoch. »Der Sturm wird euch einholen, ganz gleich, wo ihr seid.«

»Falls es tatsächlich einen Sturm gibt«, sagte Jamie.

Der japanische Meteorologe schloß kurz die Augen. »Ja«, zischte er. »Falls meine Vorhersage korrekt ist.«

Jamie lehnte sich im Sitz zurück. Er war jetzt schon erschöpft. »Okay. Danke für die Warnung. Geben Sie uns eine Stunde, damit wir die Sache besprechen und frühstücken können. Dann melden wir uns wieder.«

Toshima wandte den Blick vom Bildschirm ab, dann wurde er von Wosnesenski beiseite geschoben. Der Russe schaute noch grimmiger drein als sonst.

»Jamie, wir haben die Lage mit Doktor Li erörtert. Toshimas Vorhersage ist nicht hundertprozentig sicher, aber ernst genug, daß man sie beherzigen muß.«

»Ja. Ich verstehe.«

»Ihr unternehmt keine EVA und keine Fahrt mit dem Rover ohne vorherige Abstimmung mit mir«, sagte Wosnesenski.

Jamie nickte.

»Jetzt würde ich gern mit Connors sprechen.«

Es kostete Jamie Mühe, den Kopf zu drehen und in den rückwärtigen Teil des Moduls zu schauen. »Er ist auf der Toilette«, sagte Jamie zum Bildschirm. »Ich sage ihm, daß er Sie anrufen soll.«

»Ja. Sofort, wenn er herauskommt.«

Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis alle vier sich gewaschen und ihre Tagesoveralls angezogen hatten. Jamie war bereits zu erschöpft, um auch nur ans Rasieren zu denken. Ein Vorteil des indianischen Blutes, sagte er sich, als er mit trüben Augen in den Spiegel spähte. Kein sonderlich starker Bartwuchs. Als er aus der Naßzelle kam, bemerkte er, daß Connors sich ebenfalls nicht rasiert hatte. Sein Bart war von grauen Strähnen durchsetzt; er machte ihn älter.

Sie klappten schweigend die Liegen ein und setzten sich auf die Bänke, vier dampfende Mahlzeiten auf dem Tisch zwischen ihnen, dazu die übliche Flasche Vitaminpillen.

»Mikhail will nicht, daß wir weiterfahren, bis sie wissen, ob sich wirklich ein Sandsturm entwickelt«, sagte Connors, während er in seinen aus Konzentrat zubereiteten Eiern und dem Sojaschinken lustlos herumstocherte.

»Soll mir recht sein«, sagte Ilona. »Ich glaube, wir sind sowieso nicht in der Verfassung, sehr viel zu tun.«

»Geht es dir immer noch so schlecht?« fragte Jamie.

»Schrecklich. Und dir?«

»Ziemlich mies. Aber ich finde, wir könnten wenigstens rausgehen und noch ein paar Proben sammeln. Was ist mit dir, Joanna?«

Sie sah elend aus: blaß und rotäugig. Unter ihren Augen waren dunkle Ringe. Ilona sah noch schlimmer aus: hager und hohlwangig. Jamie wußte, daß er selber auch eingefallene Wangen und ein schrecklich müdes Gesicht hatte.

»Wir kommen nicht drum herum. Wir werden Reed Bescheid sagen müssen.«

Jamie nickte widerstrebend. »Wie wär’s, wenn wir eine Tiefbohrung machen würden, solange wir hier festsitzen?«

»Hat keinen Sinn, den Motorbohrer rauszuholen, wenn wir ihn wieder abbauen und wegpacken müssen, sobald der Sturm losgeht. Wir sind sowieso nicht gerade in der Verfassung, gerade jetzt schwere Arbeiten zu erledigen.«

»Aber wenn es keinen Sturm gibt, haben wir den ganzen Tag vergeudet.« Jamie merkte, daß er sich allmählich wie Patel anhörte. Aus dem gleichen Grund: Ihm wurde wertvolle Zeit gestohlen, Zeit, die er brauchte, um seine Arbeit zu tun.

»In ein oder zwei Stunden müßten wir wissen, ob es einen Sturm geben wird«, meinte Connors.

»Kann sein«, sagte Jamie. »Kann aber auch sein, daß Toshima bloß unüberlegt irgendwas losgetreten hat.«

»Soll ich Mikhail fragen?«

Jamie wußte, daß Wosnesenski einfach wiederholen würde, was er bereits gesagt hatte: Bleibt im Rover, wo ihr in Sicherheit seid, und geht keine Risiken ein.

Joanna aß verbissen ihr Frühstück auf. Sie löffelte die letzten Happen geeistes Obst zum Nachtisch in sich hinein. »Ich kann den Tag ja wenigstens für die Untersuchung der Gesteins- und Bodenproben nutzen, die wir gestern mitgebracht haben«, sagte sie.

Ilona murmelte: »Ich helfe dir. Ich glaube, das schaffe ich. Die mit den leuchtend orangefarbenen Intrusionen sehen interessant aus.«

»Wie Jamies grüner Stein?« Joanna zwang sich zu einem Lächeln.

Ilona lächelte zurück. »Die hier sind orange.«

Jamie sagte: »Es wäre nett, wenn ihr zuerst die Kernproben analysieren würdet.«

»Nicht die Steine?«

Er schüttelte den Kopf, aber bei der Bewegung schossen ihm neue Schmerzen durch den Schädel. »Aus dem Boden kommen Wärme und Wasser herauf und erzeugen auf irgendeine Weise den Frühnebel. Ich glaube, die Kernproben haben uns mehr zu sagen als bunte Steine.«

Joanna legte den Kopf ein wenig schief. »Wenn du es wünschst«, sagte sie, aber es klang nicht überzeugt.

»Ich rufe Reed an«, sagte Connors und schlüpfte hinter dem Tisch hervor.

Und ich bleibe hier sitzen wie ein Idiot und drehe Däumchen. Das Labormodul war zu klein, als daß sie alle drei gleichzeitig darin hätten arbeiten können. »Dann werde ich wohl mal aufräumen«, sagte er.

Die Frauen gingen nach hinten zur Luftschleuse und durch sie hindurch ins Labormodul. Connors war bereits vorn im Cockpit und rief Reed an. Jamie stand allein an dem schmalen Tisch, auf dem die Überreste ihres Frühstücks herumlagen, und spürte einen dumpfen Schmerz in den Gelenken und ein ekliges Pochen im Kopf.

Das kann keine Grippe sein, sagte er sich. Wenn es die Grippe oder eine andere ansteckende Krankheit wäre, hätten wir sie schon vor Monaten bekommen. Es ist etwas, das wir uns hier geholt haben, etwas vom Mars. Das ist die einzige Möglichkeit.

Er erinnerte sich an seinen Traum und erschauerte.


* * *

Er hat die Katze aus dem Sack gelassen, sagte sich Tony Reed, als er das Gesicht von Pete Connors auf seinem Kommunikationsbildschirm betrachtete. Bilde ich es mir nur ein, oder ist er ganz blaß geworden?

Der Astronaut schwitzte stark, das sah Reed sofort. Seine Augen waren blutunterlaufen, und er sprach ein bißchen langsamer als sonst. Und er hatte berichtet, daß sich alle vier Personen im Rover krank fühlten. Das kann Wosnesenski nicht vor Li geheimhalten. Ganz egal, wie gern Mikhail Andrejewitsch diese Sache vertuschen würde, Connors hat alles ausgeplaudert.

»Und Sie sagen, es geht euch allen vieren ähnlich?« fragte Reed.

»So ziemlich«, bestätigte Connors. »Ilona scheint es am schlimmsten erwischt zu haben. Jamie ist noch in der besten Verfassung — oder zumindest klagt er nicht so viel.«

Der stoische Indianer. Er würde wahrscheinlich auch dann keinen Piepser von sich geben, wenn man ihn am Marterpfahl rösten würde.

»Leidet jemand unter Appetitlosigkeit?« fragte er laut und sachlich.

Connors runzelte nachdenklich die Stirn. »Kommt mir nicht so vor«, sagte er dann. »Aber wir sind alle so verdammt müde, daß man’s kaum mit Worten ausdrücken kann.«

»Hm, ja.« Reed nagte einen Augenblick an seiner Unterlippe. »Und ihr nehmt eure Vitaminpräparate ein?«

»Ja, Sir. Ich sorge dafür, daß sie alle jeden Morgen die Pillen nehmen.«

»Ihr seid erst zwei Tage unterwegs«, murmelte Reed, »da kann es eigentlich keine Mangelerkrankung sein …«

»Es fühlt sich an, als würden wir alle die Grippe oder so was ähnliches kriegen«, erklärte Connors unaufgefordert.

»Ich verstehe.« Reed kratzte sich am Kinn, befingerte seinen bleistiftdünnen Schnurrbart, strich sich die sandfarbenen Haare glatt. Dieselben Symptome zeigten sich auch in der Kuppel.

»Es ist schwierig für mich, aus der Ferne viel für euch zu tun«, sagte er zu Connors. »Ich fürchte, es wäre das Beste, wenn ihr euch auf den Rückweg machen würdet, bevor es noch schlimmer wird.«

»Aber wir sind gerade erst angekommen! Laut Plan sollten wir eine Woche im Canyon verbringen …«

»Nicht, wenn ihr alle krank seid.« Wosnesenski würde einsehen müssen, daß es nicht anders ging, sagte sich Reed. Schließlich habe ich als der hiesige Sanitätsoffizier die Befugnis, ihnen den Rückkehrbefehl zur Basis zu geben. Selbst wenn der Russe Einwände erhebt.

»Vielleicht, wenn wir alle eine ordentliche Dosis Antibiotika einnehmen würden?«

»Ich bezweifle, daß das hilft.«

»Geben Sie uns wenigstens noch einen Tag. Wir fahren heute nirgend wohin, wenn dieser Sturm ausbricht. Sehen wir mal, was sich in den nächsten vierundzwanzig Stunden tut.«

Reed musterte das ernste, nervöse Gesicht des Astronauten. Connors fleht mich ja geradezu an. Ich bin der Arzt des Teams. Ich sollte wissen, was zu tun ist. Ich sollte damit fertigwerden können. Wenn ich ihnen jetzt den Befehl zur Rückkehr gebe, wird Wosnesenski wütend sein. Höchstwahrscheinlich wird er denken, es wirft ein schlechtes Licht auf ihn.

»Ich muß es Wosnesenski melden, das ist Ihnen doch klar«, sagte er.

»Ja. Ich weiß.«

»Dieses Gespräch wird automatisch vom Orbiter überwacht. Und von Kaliningrad.«

Connors nickte bedrückt.

Reed schürzte die Lippen, als dächte er gründlich und sorgfältig nach. Schließlich sagte er: »Ich werde Mikhail Andrejewitsch empfehlen, euch für die nächsten vierundzwanzig Stunden dort zu lassen, wo ihr seid. Eine Dosis Breitband-Antibiotikum wird euch nicht schaden; ich schicke genaue schriftliche Anweisungen über die Computerverbindung. Dann wollen wir sehen, wie es euch morgen früh geht.«

»Okay! Prima!« Der Astronaut war so dankbar wie ein junger Hund für einen Happen.

Reed beendete das Gespräch, rief dann seine medizinische Computerdatei auf und verschrieb ihnen das Antibiotikum. Er stemmte sich langsam und widerstrebend vom Stuhl hoch. Ich muß die Sache mit Wosnesenski klären, sagte er sich. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich in die Höhle des Löwen zu wagen. Trotzdem hatte er Angst vor der Konfrontation.

Der Russe war in der Messe. Er hockte über einem Becher dampfendem Tee. Mironow und er unterhielten sich leise und ernst in ihrer Muttersprache. Für Reeds professionelles Auge sahen sie beide krank aus. Hager, blasses Gesicht. Sogar ihre Overalls wirkten ausgebeult und zerknittert, ganz anders als noch vor ein paar Tagen, als sie einen tadellosen Anblick geboten hatten. Was immer es ist, sie haben es. Und alle anderen auch. Alle außer mir. Und vielleicht Toshima.

Reed fühlte sich absurd normal: gesund und stark. Aufmerksam und hellwach. Er hatte sogar seinen morgendlichen Amphetamin-Cocktail reduziert, um festzustellen, ob seine offenkundige Gesundheit auf chemische Ursachen zurückzuführen war.

Die Russen schauten beide auf, als Tony sich einen Stuhl heranzog und sich zu ihnen setzte.

»Das Team im Rover hat es auch«, erklärte Reed ihnen leise, »was immer es sein mag.«

»Erschöpfung«, sagte Wosnesenski sofort. »Psychologische Erschöpfung. Das habe ich bei Langzeitmissionen im Orbit auch schon erlebt.«

»Nach nur siebenunddreißig Tagen?« Reed hätte beinahe spöttisch gelacht.

»Wir sind seit fast einem Jahr im Raum.«

»Ja«, gab Reed zu. »Das stimmt.«

»Die Belastungen, denen man in dieser Umgebung ausgesetzt ist …« begann Mironow und verstummte.

»Der Mars ist nicht anstrengender als der Mond oder eine Raumstation in der Umlaufbahn«, sagte Reed. »Eigentlich eher weniger anstrengend, würde ich meinen.«

»Was ist es dann?« knurrte Wosnesenski. »Was passiert mit uns?«

Reed schüttelte den Kopf. »Was immer es ist, es ruft bei allen dieselben Symptome hervor: Schwäche, Glieder- und Kopfschmerzen.«

»Es ist die Grippe«, sagte Mironow.

Reed sah ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an. »Wie sollten wir alle fast ein Jahr nach unserem Abflug von der Erde die Grippe kriegen? Influenza-Viren haben keine so lange Inkubationszeit. Wenn es die Grippe wäre, hätten wir sie schon längst bekommen.« Sofern es kein Slow Virus ist, dachte Tony plötzlich. Wie die Legionärskrankheit oder etwas in der Art.

In Mironows Miene lag eine störrische Skepsis.

»Und im Orbit hat es niemand«, hob Reed hervor. Er versuchte nicht nur, den Kosmonauten zu überzeugen, sondern ebenso sich selbst.

»Die Marsgrippe eben«, sagte Wosnesenski halb scherzhaft.

»Es ist absolut unmöglich, sich auf einem Planeten, auf dem es überhaupt kein Leben gibt, eine Krankheit zu holen«, fauchte Reed beinahe wütend. »Hier gibt es keine Viren, die uns infizieren könnten. Selbst wenn es marsianische Mikroben gäbe, wären sie nicht an unsere Zellen angepaßt. Auf dem Mars könnte es alle möglichen Bakterien geben, aber sie würden uns überhaupt keine Probleme bereiten. Sie könnten es gar nicht.«

»Das ist die Theorie der Ärzte«, murmelte Mironow finster.

»Vielleicht ist es gar keine richtige Krankheit«, sagte Wosnesenski.

»Keine Krankheit?«

»Bergleute bekommen eine Staublunge«, sagte Wosnesenski. »Nicht von Bazillen, sondern weil sie Kohlenstaub einatmen.«

Reed starrte ihn an. Dieser Kosmonaut hat tatsächlich ein Gehirn in seinem dicken Schädel!

»Vielleicht enthält der Marsstaub eine Substanz, die schädlich für uns ist«, fuhr Wosnesenski fort.

»Aber wir geben uns doch große Mühe, den Staub aus unseren Anzügen und unserem Wohnbereich fernzuhalten«, hob Reed hervor.

»Der Staub ist sehr fein. Vielleicht bemühen wir uns nicht genug.«

»Daran hatte ich noch gar nicht gedacht«, gestand Reed.

Mironow sagte: »Wir könnten die Luft hier drin überprüfen und feststellen, wieviel Staub sie enthält.«

»Ja«, sagte Wosnesenski. »Das müssen wir tun.«

Reed wollte gerade etwas erwidern, als Toshima zum Tisch gerannt kam. Seine Augen waren groß vor Erregung. Wenn er die ›Marsgrippe‹ hatte, dann war es ihm jedenfalls nicht anzumerken.

»Der Staubsturm!« schrie er beinahe. »Er hat begonnen!«

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