7 Gezeitensturm minus siebenundzwanzig

Erdstoß veränderte sich. Nicht in der Art und Weise, vor der Max Perry gewarnt hatte, verwandelte sich nicht, während der Gezeitensturm immer näher rückte, von einer ausgedörrten, aber friedlichen Welt mit starker seismischer Aktivität in ein bebendes Inferno aus Strömen geschmolzener Lava und aufreißendem Erdreich. Stattdessen war Erdstoß in diesem Jahr der Großen Konjunktion einfach … unvorhersagbar geworden.

Und in gewisser Weise mochte Opal sich ebenso sehr verändern. Mehr als irgendjemand, der sich auf diesem Planeten aufhielt, begreifen mochte.

Dieser Gedanke war Rebka durch den Kopf gegangen, während sie einmal den halben Planeten umrundeten, auf ihrem Weg von der Basis von ›Nabelschnur‹ zum Sternenseiten-Raumhafen, wo Darya Lang vermutlich schon auf sie wartete.

Vor sechs Tagen war ihm der Flug, einmal um den wolkenverhangenen Planeten herum bis zur Basis von ›Nabelschnur‹, unendlich langweilig erschienen, es gab keine Turbulenzen und kaum etwas anderes zu sehen als nur gleichförmiges Grau, über sich und unter sich. Jetzt, wo es nur noch siebenundzwanzig Tage bis zum Gezeitensturm waren, wurde der Flugwagen von umherwirbelnden, heftigen Winden geschüttelt. Plötzliche Aufwinde zerrten an den Schwebeflächen und rüttelten am Rumpf. Max Perry war gezwungen, den Flugwagen höher und höher zu lenken, um dem peitschenden Regen zu entkommen, den schwarzen Gewitterwolken und den Luft- und Wasserwirbeln.

Also waren die Bewohner von Opal überzeugt, ihnen könne nichts geschehen, ja? War das so, auch wenn viel größere Gezeiten anstanden als normal?

Hans Rebka war sich da nicht so sicher.

»Sie gehen da aber von einer Annahme aus, die auf ganz schön wackeligen Beinen steht«, meinte er zu Perry, als dieser zum Landeanflug durch die Windböen ansetzte, um den Raumhafen auf der Sternenseite zu erreichen. »Sie denken, die Gezeiten auf Opal werden genauso sein wie bei allen anderen Gezeitenstürmen auch, nur ein bisschen kräftiger.«

»Jetzt übertreiben Sie aber ein bisschen.« Sobald es dank der allgegenwärtigen Wolkendecke von Opal unmöglich geworden war, Erdstoß noch zu erkennen, war Perrys andere Persönlichkeit wieder zum Vorschein gekommen: kühl, steif und den meisten Ereignissen gegenüber völlig teilnahmslos. Er wollte nicht über ihre Erfahrungen auf der Oberfläche von Erdstoß sprechen und auch nicht über seine Verwirrung darüber, was dort gerade geschah. »Ich habe nicht gesagt, dass sich auf Opal nichts anderes ereignen werde als sonst«, fuhr er fort. »Aber ich denke, dass es der Wahrheit tatsächlich sogar recht nahe kommt. Wir werden es hier vielleicht mit Gezeitenkräften zu tun bekommen, die zu groß für einige der größeren Schlingen sind, vielleicht werden eine oder zwei auch auseinander brechen. Aber ich sehe keine Gefahr für die Leute hier. Wenn es notwendig ist, dann kann jeder auf Opal auf das Meer hinausfahren und den Gezeitensturm da gefahrlos abreiten.«

Rebka schwieg, er umklammerte mit beiden Händen die Armlehnen seines Sessels, als der Flugwagen in ein so großes Luftloch sackte, dass beide Männer eine oder zwei Sekunden lang das Gefühl hatten, schwerelos zu sein. »Vielleicht wird es aber nicht so sein«, sagte er, sobald sein Herz aufgehört hatte, an seiner Kehle anzuklopfen.

Wieder und wieder hatte er dieses Bedürfnis, alles Mögliche bei Max Perry auszuprobieren, um dann dessen Reaktionen zu analysieren. Das war wie Regelungstheorie: Man gab einen definierten Datensatz in eine Blackbox und analysierte den Datenoutput. Wenn man das oft genug machte, so jedenfalls die Theorie, dann konnte man ganz genau sämtliche Funktionen dieser Box kennen lernen, auch wenn man vielleicht nicht herausfand, warum sie tat, was sie tat. Doch in Perrys Fall schien es zwei verschiedene Boxen zu geben. In der einen lebte ein fähiger, rücksichtsvoller, sympathischer Mann. In der anderen lebte eine Molluske, die sich sofort in ihr schützendes Haus zurückzog, sobald gewisse Stimuli auftraten.

»Die Lage hier erinnert mich an Pelikan-Wirbel«, fuhr Rebka fort. »Haben Sie gehört, was da passiert ist, Commander?«

»Wenn ja, dann habe ich es inzwischen wieder vergessen.« Das war nicht die Art von Reaktion, auf die Rebka eigentlich abgezielt hatte; doch Max Perry hatte eine gute Entschuldigung für sein Verhalten. Er musste sich auf das automatische Stabilisationssystem konzentrieren, das sich gerade nach Kräften mühte, eine weiche Landung zu ermöglichen.

»Auf Pelikan-Wirbel ergab sich eine Situation, die sich gar nicht allzu sehr von der hier auf Opal unterschied«, fuhr Rebka fort. »Nur, dass es da um das Massenverhältnis von Pflanzen zu Tieren ging, nicht um Meeresgezeiten.

Als sich die ersten Kolonisten dort ansiedelten, war alles noch in Ordnung. Aber alle vierzig Jahre durchquert Pelikan-Wirbel einen Teil einer Kometenwolke. Kleine Zusammenballungen leichtflüchtiger Verbindungen, die meisten davon so klein, dass sie in der Atmosphäre verdampfen und gar nicht erst bis zum Boden kommen. Luftfeuchtigkeit und Temperatur steigen innerhalb kürzester Zeit, nur um ein paar Prozent und ein paar Grad. Das Verhältnis von Pflanzen zu Tieren kehrt sich um, der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre sinkt ein wenig ab; und in weniger als einem Jahr pendelt sich alles wieder auf die gewohnten Werte ein. Alles nichts Besonderes.

Das haben zumindest alle gedacht. Das haben die Kolonisten sogar dann noch gedacht, als ihre Astronomen ihnen erklärten, dass bei der nächsten Durchquerung der Wolke Pelikan-Wirbel dreißig Prozent mehr Material absorbieren werde als bisher.«

»Ich glaube, jetzt erinnere ich mich wieder.« Perry zeigte distanziertes, höfliches Interesse. »Das ist ein Fall, mit dem wir uns befasst haben, bevor ich nach Dobelle gekommen bin. Irgendetwas ist da schiefgelaufen, und die hätten beinahe die ganze Kolonie verloren, war es nicht so?«

»Das hängt ganz davon ab, wen man danach fragt.« Rebka zögerte. Wie viel konnte, sollte er hier sagen? »Es konnte nichts bewiesen werden, aber ich bin zufälligerweise genau Ihrer Meinung. Beinahe wäre die Kolonie verloren gewesen. Der springende Punkt ist nur: Da ist nichts schiefgelaufen, was man anhand vorhandener Modelle hätte voraussagen können. Dieser deutlich größere Zustrom von Kometenmaterial versetzte die Biosphäre von Pelikan-Wirbel in einen neuen, stabilen Zustand. Innerhalb von drei Wochen fiel der Sauerstoffgehalt der Luft von vierzehn auf drei Prozent. Und so blieb der auch, bis endlich ein Terraformierungstrupp anrückte und alles wieder rückgängig machte. Diese plötzliche Veränderung hätte tatsächlich beinahe alle dort umgebracht, weil in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht einmal der Hauch einer Chance bestanden hatte, alle auszufliegen.«

Max Perry nickte. »Ich weiß. Nur, dass der Verantwortliche auf Pelikan-Wirbel die Entscheidung traf, die Evakuierung der Kolonisten einzuleiten, lange bevor Pelikan-Wirbel sich diesem Kometenregen auch nur genähert hatte. Er hatte anhand von Fossilien Hinweise für Veränderungen gefunden, klar? Das ist ein ganz klassisches Szenario — der Mann vor Ort wusste mehr, als jeder andere, der Lichtjahre weit entfernt ist, auch nur zu wissen in der Lage ist. Er hat also die Anweisungen seines eigenen Hauptquartiers ignoriert und ist so zum Helden avanciert.«

»Nicht ganz. Er hat einen gewaltigen Anschiss dafür bekommen.« Der Wagen hatte aufgesetzt, und nun rollte er auf die Grenze des Raumhafens zu, und Rebka war schon bereit, es dabei bewenden zu lassen. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, Max Perry zu erzählen, wer der Mann gewesen war, von dem hier die Rede war. Und auch wenn er öffentlich einen Verweis dafür erhalten hatte, war ihm doch insgeheim dafür gratuliert worden, dass er den Mut besessen hatte, den schriftlichen Anweisungen des Sektoren-Koordinators zuwiderzuhandeln. Die Tatsache, dass seine unmittelbaren Vorgesetzten ihn ganz bewusst die Existenz dieser Anweisungen verschwiegen hatten, wurde dabei nicht mit einem Wort erwähnt. Ein solches Verhalten schien Teil der Regierungsphilosophie im Phemus-Kreises zu sein: Krisenmanager leisten die beste Arbeit, wenn sie nicht zu viel wissen. Rebka war mehr und mehr davon überzeugt, dass man ihm nicht sämtliche relevanten Fakten vorgelegt hatte, bevor er in das Dobelle-System geschickt worden war.

»Ich sage nur, dass sich auf Opal eine ähnliche Situation ergeben könnte«, fuhr er dann fort. »Wenn ein System durch eine periodisch auftretende Fremdeinwirkung gestört wird, dann muss eine Steigerung des Ausmaßes dieser Fremdeinwirkung nicht zwangsläufig lediglich zu einer größeren Störung der gleichen Art und Weise führen. Angenommen, die Fluten auf Opal werden stark genug, dass sie chaotisch miteinander agieren? Dann haben Sie überall Turbulenzen — Strudel und Wasserhosen. Gewaltige Solitonen vielleicht, vereinzelte Wellen, die eine Meile oder zwei hoch sind!

Das würde kein Boot überstehen und auch keine Schlinge. Könnten Sie während der Gezeitensturms alle evakuieren, wenn das notwendig werden sollte? Ich meine nicht auf das Meer hinaus — ich meine wirklich die Leute vom Planeten fortschaffen?«

»Das bezweifle ich.« Perry deaktivierte den Antrieb und schüttelte den Kopf. »Nein, um ganz präzise zu sein und der Wahrheit die Ehre zu geben: Nein, das könnten wir nicht. Außerdem: Wohin sollten wir diese Leute denn bringen? Gargantua hat vier Satelliten, jeder ungefähr so groß wie Opal, und manche von denen haben sogar eine eigene Atmosphäre. Aber die besteht aus Methan und Stickstoff, ohne Sauerstoff — und außerdem sind die viel zu kalt. Der einzige andere Ort hier wäre Erdstoß.« Er starrte Rebkaan. »Ich nehme an, wir können uns darauf einigen, dass da nun wirklich niemand hin sollte, oder nicht?«

Der sintflutartige Regen, der ihren Flug zur Sternenseite so beschwerlich gemacht hatte, war deutlich schwächer geworden, und nun kam der Wagen kurz vor dem Gebäude zum Stehen, das Perry Darya Lang als Wohnquartier zugewiesen hatte.

Mit steifen Beinen erhob sich Hans Rebka aus seinem Sessel und rieb sich die Knie. Darya Lang sollte eigentlich hier auf sie warten, und die Landung des Luftwagens musste sie eigentlich gehört haben. Doch in der Nähe des Gebäudes war keine Spur von ihr zu entdecken. Stattdessen stand dort, halb unter dem vorspringenden Dachgesims, ein hochgewachsener Mann, dürr wie ein Skelett und mit einem kahlen, auffallend großen Schädel, und starrte den Wagen an. Er hielt einen schreiend bunten Regenschirm in der Hand. Sein schimmernd weißer Anzug mit den goldenen Epauletten und den hellblauen Verzierungen konnte nur aus den gesponnenen Fasern eines Ditron-Kokons gewebt sein.

Aus der Entfernung wirkte er elegant und eindrucksvoll, auch wenn sein Gesicht und seine Kopfhaut von harter Strahlung purpurrot verbrannt war. Aus der Nähe sah Rebka, dass seine Lippen und seine Augenbrauen beständig unkontrolliert zitterten und zuckten.

»Wussten Sie, dass er hier sein würde?« Mit dem Daumen deutete er auf den Besucher, doch knapp unterhalb der Unterkante des Fensters, sodass der Fremde es nicht würde sehen können. Er brauchte nicht zu erwähnen, wer dieser Fremde war. Mitglieder des Rates der Allianz bekam man nur selten zu Gesicht, doch die Uniform war jeder Clade auf jeder Welt des ganzen Spiralarms vertraut.

»Nein. Aber ich bin nicht überrascht.« Max Perry hielt die Tür des Wagen offen, damit Rebka aussteigen konnte. »Wir waren sechs Tage fort, und das entspricht genau dem Zeitfenster für seine uns avisierte Ankunft.«

Der Mann bewegte sich nicht, als Perry und Rebka ausstiegen und dann Schutz unter dem breiten Dachgesims suchten. Er klappte seinen Regenschirm zu und blieb eine halbe Minute reglos stehen, ignorierte die Regentropfen, die auf seinem kahlen Schädel zerplatzten. Schließlich wandte er sich zu ihnen um und begrüßte sie.

»Guten Tag. Aber kein gutes Wetter. Und ich nehme an, dass es noch schlimmer wird.« Die Stimme passte zu dem Mann, eine tiefe Grabesstimme, und ein rauer Unterton schwang in seinem kultivierten Akzent mit, der deutlich verriet, dass seine Heimatwelt Miranda war. Er streckte den beiden das linke Handgelenk entgegen, auf das unauslöschlich seine Identifikation eingeprägt war. »Ich bin Julius Graves. Ich nehme an, dass Sie über mein Kommen bereits informiert wurden.«

»Das ist richtig«, bestätigte Perry.

Er klang, als fühle er sich unbehaglich. Die Anwesenheit eines Ratsmitgliedes gleich welcher Clade reichte aus, um die meisten Leute dazu zu bewegen, über ihr Sündenregister nachzudenken oder sich darüber klar zu werden, wie eingeschränkt ihre Befehlsgewalt doch war. Rebka fragte sich, ob Graves noch einen weiteren Grund für seinen Besuch auf Opal haben mochte. Eines wusste er: Mitglieder des Rates waren stets hoffnungslos mit Arbeit überlastet, und sie mochten es nicht, ihre Zeit mit Nebensächlichkeiten zu vergeuden.

»Auf den Informationsblätter waren keine Details über den Grund Ihres Besuches vermerkt«, sagte Rebka also und streckte die Hand aus. »Ich bin Captain Rebka, zu Ihren Diensten, und das hier ist Commander Perry. Warum haben Sie das Dobelle-System aufgesucht?«

Graves rührte sich nicht. Schweigend und reglos stand er unter dem Sims, weitere fünf Sekunden lang. Schließlich nickte er den beiden Männern kurz zu und nieste lautstark. »Vielleicht sollten Ihre Fragen besser drinnen beantwortet werden. Ich habe mich unterkühlt. Ich warte hier bereits seit Sonnenaufgang, weil ich davon ausging, dass die anderen zurückkehren.«

Perry und Rebka blickten einander an. ›Die anderen‹? Und von wo ›zurückkehren‹?

»Sie sind vor acht Stunden aufgebrochen«, fuhr Graves fort, während man sich in das Gebäude begab, »genau zum Zeitpunkt meines Eintreffens. Der offizielle Wetterbericht lässt vermuten, dass ein …« Die tief im Schädel liegenden Augen schienen sich zu verdunkeln, und wieder schwieg ihr Besucher kurz. »Dass ein Sturm der Kategorie Fünf auf den Raumhafen von Sternenseite zuhält. Für jemanden, der an die Umweltbedingungen des Kreises nicht gewöhnt ist, müssen derartige Stürme gefährlich sein. Ich mache mir Sorgen, und ich wünsche mit den anderen zu sprechen.«

Rebka nickte. Eine Frage war damit bereits beantwortet. Darya Lang war auf Opal mit weiteren Besuchern zusammengetroffen, die nicht aus dem Phemus-Kreis stammten. Aber wer waren diese anderen Besucher?

»Wir sollten die Landepapiere durchsehen«, raunte er Perry zu. »Schauen wir mal, was wir da haben.«

»Tun Sie das ruhig, wenn Sie möchten!« Graves starrte ihn an; die blassblauen Augen schienen geradewegs bis in Rebkas Verstand hineinzuschauen. Der Allianzrat ließ sich auf einen Sessel aus gelbem Rohr und geflochtenem Schilf fallen, schniefte und fuhr dann fort. »Aber Sie müssen das nicht tun. Ich kann Ihnen berichten, dass Darya Lang von der Vierten Allianz auf Opal mit Atvar H’sial und J’merlia von der Cecropia-Föderation zusammengetroffen ist. Nachdem ich sie getroffen hatte, habe ich mir die Daten zu Werdegang und Lebensverhältnissen der drei genau angesehen. Zweifelsohne sind sie die, die sie zu sein auch vorgeben.«

Rebka sann einen Augenblick über die so erlangte Information nach und wollte schon den Mund öffnen, um etwas zu erwidern, da fuhr Perry ihm dazwischen.

»Das kann doch gar nicht funktionieren!«

Graves starrte ihn an, und die unruhigen Augenbrauen zuckten.

»Ein Tag, haben Sie gesagt, seit Sie hier angekommen sind«, erläuterte Perry. »Selbst wenn Sie eine Anfrage über den nächstgelegenen Punkt des Bose-Netzwerks abgeschickt haben, sobald Sie hier eingetroffen sind, diese dann über die Knotenpunkte weitergeleitet und sogar unmittelbar beantwortet wurde, muss die Bearbeitungszeit mindestens einen ganzen Standardtag gedauert haben — drei Opal-Tage. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, ich habe das schon oft genug versucht.«

Perry hat ganz recht, dachte Rebka bei sich. Und er ist schnell, schneller, als mir das bisher klar war. Aber: Er macht einen taktischen Fehler. Allianzräte lügen nicht, und es bringt einem immer nur Ärger ein, sie der Lüge zu bezichtigen.

Doch Graves lächelte, zum ersten Mal, seit sie einander begegnet waren. »Commander Perry, ich bin Ihnen sehr dankbar. Sie haben mir meine nächste Aufgabe immens vereinfacht.« Er zog ein makellos weißes Tuch aus der Tasche, wischte sich damit über seinen kahlen Schädel und tippte sich dann mit dem Zeigefinger gegen eine mächtige, buschige Augenbraue.

»Wie kann ich das wissen, fragen Sie. Ich bin Julius Graves, wie ich bereits gesagt habe. Aber in gewisser Weise bin ich auch Steven Graves.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, schloss für einige Sekunden die Augen, blinzelte kurz und fuhr dann fort. »Als man mich eingeladen hatte, mich dem Rat anzuschließen, wurde mir erklärt, ich hätte die Geschichte, die Biologie und die Psychologie jeder vernunftbegabten und jeder potenziell vernunftbegabten Spezies des gesamten Spiralarms zu kennen. Diese Datenmenge übersteigt die geistige Kapazität eines jeden Menschen.

Man hat mich vor die Wahl gestellt: Ich konnte mich für ein anorganisches Gedächtnisimplantat mit hoher Speicherdichte entscheiden — klobig und so schwer, dass mein Kopf und mein Hals ständig einer Stütze bedurft hätten. So etwas wird von den Ratsmitgliedern bevorzugt, die aus der Zardalu-Gemeinschaft stammen. Oder ich konnte einen internen Mnemotechnik-Zwilling entwickeln, ein zweites Paar Großhirnhemisphären, die aus meinem eigenen Hirngewebe herangezüchtet werden sollten und ausschließlich der Speicherung von Daten und Erinnerungen dienen. Dieser ›Zwilling‹ sollte in meinen eigenen Kopf passen, unmittelbar hinter meine Hirnrinde, und es wäre dafür nur eine minimale Schädelerweiterung erforderlich gewesen.

Ich habe mich für diese zweite Möglichkeit entschieden. Man hatte mich gewarnt, dass, weil diese neuen Hemisphären integraler Bestandteil meines eigenen Körpers wären, ihre Effizienz der Datenspeicherung und des Erinnerungsvermögens von meinem eigenen Gesundheitszustand abhängig sein würde — je nachdem, wie müde ich sei oder ob ich irgendwelche Aufputschmittel genommen hätte. Ich sage Ihnen das nur, damit Sie mich nicht für ungesellig halten, wenn ich einen Drink ablehne, oder denken, ich sei ein Gesundheitsfanatiker, der ständig nur an sein körperliches Wohlergehen denkt. Ich muss sehr darauf achten, ausreichend Ruhephasen zu bekommen und Entspannungsstimulantien jeder Art meiden, sonst ist mein Mnemotechnik-Interface in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Und das mag Steven nicht.«

Er lächelte, und widerstreitende Emotionen zeichneten sich auf seinem Gesicht ab, gerade als ein plötzlicher heulender Windstoß gegen das Gebäude peitschte. Die Faserwände erzitterten. »Denn was man mir nicht sagte, verstehen Sie«, fuhr er dann fort, »war, dass mein interner Mnemotechnik-Zwilling auch ein Bewusstsein würde entwickeln können — ein Selbst-Bewusstsein. Genau das ist geschehen. Wie ich schon sagte, ich bin Julius Graves, aber ich bin eben auch Steven Graves. Er ist die Quelle meiner Informationen über Darya Lang und diese Cecropianerin, diese Atvar H’sial. So. Können wir uns jetzt anderen Dingen widmen?«

»Kann Steven sprechen?«, fragte Rebka. Max Perry war von Graves Eröffnung wohl immer noch schockiert. Ein Mitglied des Rates, das sich in die eigenen Angelegenheiten einmischte, war schon schlimm genug — aber hier waren es gleich zwei! Und hatte Julius Graves stets die Kontrolle über sich selbst wie seinen Zwilling? Dem Augenschein nach, also der Beobachtung nach, wie häufig sein Gesichtsausdruck sich veränderte, lieferten sich diese beiden Ichs in Graves beständig einen Zweikampf.

Graves schüttelte den Kopf. »Steve kann nicht sprechen. Er kann auch nichts fühlen, sehen, anfassen oder hören, es sei denn, ich würde meine eigenen Sinneseindrücke zur mnemotechnischen Speicherung über einen zusätzlichen Corpuscallosum weiterleiten. Aber Steven kann denken — besser, so behauptet er hartnäckig, als ich. Er sagt mir, er habe dafür mehr Zeit. Und er sendet Signale an mich zurück, seine eigenen Gedanken, in Form wiederkehrender Erinnerungen. Die kann ich übersetzen, gut genug, dass die meisten annehmen würden, Steven würde unmittelbar mit mir sprechen. So zum Beispiel!«

Einen Augenblick schwieg er. Als er dann wieder das Wort ergriff, klang seine Stimme deutlich jünger und sehr viel lebhafter. »Hi. Ich freue mich wirklich, hier auf Opal zu sein. Allerdings hat mir niemand gesagt, wie miserabel das Wetter hier ist! Na ja, es ist hin und wieder auch von Vorteil, zu sein, wo ich bin: Nass jedenfalls werde ich nicht, nicht mal, wenn’s so schüttet wie hier.« Dann kehrte die gewohnte Grabesstimme wieder zurück. »Ich bitte um Verzeihung. Steven liebt Witze, unabhängig von deren Qualität, und hat leider nur einen erbärmlichen Sinn für Humor. Ich bin nicht in der Lage, das zu kontrollieren; aber ich versuche herauszufiltern, was mir herauszufiltern möglich ist. Und ich muss zugeben, dass ich nichts gegen meine Abhängigkeit von Stevens Wissen tue. So verfügt beispielsweise er über die meisten Informationen, was diesen Planeten betrifft, während mein eigenes Wissen über dieses Thema bedauerlicherweise äußerst lückenhaft ist. Ich bedauere meine eigene Trägheit sehr.

Aber jetzt: können wir uns nun wieder der eigentlichen Aufgabe zuwenden? Mich führen Angelegenheiten in das Dobelle-System, denen man wohl kaum mit Humor begegnen kann.«

»Mord«, flüsterte Perry nach einer langen Pause. Der Sturm hatte jetzt schon fast seinen Höhepunkt erreicht, und je weiter das Tosen des Windes zugenommen hatte, desto unwohler fühlte er sich sichtlich. Er war außer Stande, still sitzen zu bleiben, und ging nun unruhig vor dem Fenster auf und ab, blickte zu den windgepeitschten Farnen und Gräsern hinaus oder zu den dahinrasenden Wolken hinauf, die im rostfarbenen Licht von Amarant rötlich erschienen.

»Mord«, wiederholte er. »Mehrfacher Mord. Das stand als Begründung in Ihrem Gesuch, Opal aufsuchen zu dürfen.«

»Das ist richtig. Aber nur, weil ich mich gescheut habe, eine Meldung über eine deutlich bedrohlichere Anschuldigung über das Bose-Netzwerk zu schicken.« Ganz offensichtlich scherzte Julius Graves keineswegs. »Eine zutreffendere Bezeichnung wäre Völkermord. Ich bin bereit, es mit der Bezeichnung mutmaßlicher Völkermord ein wenig abzumildern.«

Schweigend blickte er sich um, während neuerlicher Regen die Wände und das Dach peitschte. Die beiden anderen Männer waren wie erstarrt, Max Perry vor dem Fenster, Hans Rebka auf der Kante seines Sessels.

»Völkermord. Mutmaßlicher Völkermord. Gibt es da einen deutlichen Unterschied?«

»Das ist eine Frage des Standpunkts.« Die vollen Lippen des Allianzrates zuckten und zitterten. »In beiden Fällen gibt es keinerlei rechtliche Beschränkung bei der Untersuchung einer solchen Anschuldigung. Aber uns liegen nur Indizien vor, ohne echte Beweise und ohne Geständnis. Es ist meine Aufgabe, Beweise beizubringen. Und ich beabsichtige, diese Beweise hier auf Opal zu finden.«

Graves griff in die blau abgesetzten Taschen seines Jacketts und holte zwei Bildwürfel hervor. »So unwahrscheinlich es scheinen mag, das hier sind die beiden Beschuldigten, Elena und Geni Carmel, einundzwanzig Standardjahre alt, geboren und aufgewachsen auf Shasta. Und, wie Sie unschwer erkennen können, eineiige Zwillingsschwestern.«

Er hielt den beiden Männern die Bildwürfel entgegen. Rebka sah nur zwei junge Frauen, sonnengebräunt, mit großen Augen, sehr hübsch; sie trugen die gleiche Kleidung, olivgrün und hellbraun. Doch Max Perry sah offensichtlich noch etwas anderes in diesen Bildern. Er keuchte, als erkenne er eine oder beide Personen wieder, beugte sich ein wenig vor und griff hastig nach den Datenwürfeln. Schweigend starrte er sie an. Es dauerte weitere zwanzig Sekunden, bis die Anspannung aus seinem Gesicht wich und er wieder aufblickte.

Julius Graves beobachtete beide Männer. Rebka war plötzlich davon überzeugt, dass diesen trüben, blauen Augen nicht das Geringste entging. Man konnte diesen Mann für wunderlich, für exzentrisch halten, gewiss, der Mann war wunderlich und exzentrisch, auch wenn das nur eine bewusst nach außen getragene Maske war — hinter dieser Maske aber verbarg sich in jedem Falle eine vielleicht befremdliche, aber enorme Intelligenz. Narren wurden schließlich keine Ratsmitglieder.

»Sie scheinen diese Mädchen zu kennen, Commander Perry«, stellte Graves in diesem Moment fest. »Ist das so? Falls Ihnen die beiden jemals begegnet sind, ist es von immenser Wichtigkeit, dass ich erfahre, wann und wo diese Begegnung stattgefunden hat.«

Perry schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war noch bleicher als sonst. »Nein. Ich hatte nur einen Augenblick lang das Gefühl, nur im ersten Augenblick allerdings, die Würfel zeigten … jemand anderes. Jemanden, den ich von früher her kenne.«

»Jemanden?« Graves wartete, und dann, als klar wurde, dass Perry nichts mehr hinzufügen würde, fuhr er fort: »Ich habe nicht vor, irgendetwas vor Ihnen zu verbergen, und ich rate Ihnen dringend, nichts vor mir zu verbergen. Wenn Sie gestatten, werde ich jetzt Steven bitten, Ihnen den Rest zu erklären. Er verfügt über sämtliche uns zur Verfügung stehenden Informationen, und ich habe Schwierigkeiten, darüber zu sprechen, ohne dass Emotionen meine Aussagen färben.«

Das Zucken hörte auf. Graves Miene wurde sehr viel ruhiger, und auf einmal sah er aus wie ein sehr viel jüngerer, glücklicherer Mann. »Okay, los geht’s«, meinte er dann. »Die traurige Geschichte von Elena und Geni Carmel: Shasta ist eine ziemlich reiche Welt, und wer dort aufwächst, darf so ziemlich machen, was er will. Als die Carmel-Zwillinge einundzwanzig wurden, haben sie ein kleines Raum-Kabrio geschenkt bekommen, die Sommer-Traumschiff. Doch statt einfach nur ein wenig in ihrem eigenen System herumzuflitzen, wie das die meisten Kids machen, haben sie ihre Familie dazu überredet, das Schiff mit einem Bose-Antrieb auszustatten. Und dann haben sie richtig einen draufgemacht: neun Welten der Vierten Allianz, drei der Zardalu-Gemeinschaft. Auf ihrem letzten Planet haben sie sich dann entschlossen, mal ›das richtige, unverfälschte Leben‹ kennen zu lernen — so jedenfalls möchten ihre Großeltern zu Hause die Sache verstanden wissen. Das heißt, die Zwillinge wollten, ohne Abstriche an ihren Ansprüchen machen zu müssen, irgendeine rückständige Welt erforschen.

Die beiden sind also auf Pavonis-Vier gelandet und haben da ein Luxus-Zelt aufgestellt. Pav Vier ist ein armer Sumpfplanet der Gemeinschaft. Jetzt ist diese Welt arm, sollte ich vielleicht besser sagen — sie war reich genug, bevor sich gewisse Konzerne unter menschlicher Leitung dieser Welt angenommen haben. Hinderlich bei der ganzen Sache war da nur die einheimische Amphibien-Spezies, die als die ›Bercia‹ bekannt ist. Die Bercia jedenfalls standen nach so viel wirtschaftlichem Interesse fast vor der Ausrottung. Ein Glück nur, dass der Planet recht schnell ausgeschlachtet war und die Konzerne sich daraufhin wieder verzogen. Den überlebenden Bercia — den wenigen, die noch übrig waren — gewährte man großzügig den vorläufigen Status einer ›potenziellen Intelligenz‹. Die Bercia wurden von nun an geschützt. Endlich.«

Graves machte eine Pause. Und auf seinem Gesicht waren derart viele und unterschiedliche Emotionen ablesbar, dass hinter dieser sonderbaren Maske nicht mehr zu erkennen war, ob es Julius oder Steven war, der hier sprach.

»Waren denn nun die Bercia vernunftbegabt?«, fragte Graves leise. »Das Universum wird es niemals erfahren. Wir wissen, dass die Bercia jetzt ausgelöscht sind, eine ausgestorbene Spezies. Ihre letzten beiden Baue wurden vor zwei Monaten zerstört … durch Elena und Geni Carmel.«

»Aber doch bestimmt nicht mit Absicht?« Immer noch umklammerte Perry die Datenwürfel und starrte sie an. »Das kann doch nur ein Unfall gewesen sein!«

»Selbstverständlich, das ist möglich, gut möglich.« So ernst, wie seine Stimme klang, hatte jetzt wohl wieder Julius Graves den Körper übernommen. »Wir wissen es nicht, kaum war es geschehen, da waren die Carmel-Zwillinge auch schon auf und davon. Sie blieben nicht, um Erklärungen abzugeben. Sie sind geflohen, aus welchem Grund auch immer. Sie sind immer weiter geflohen, bis wir ihnen vor einer Woche den Zugang zum Bose-Netzwerk gesperrt haben. Und jetzt können sie nicht mehr weiter flüchten.«

Nun hatte der Sturm seinen Höhepunkt erreicht. Von draußen drang das traurige Heulen und Tosen des Windes herein, übertönt nur vom Kreischen einer Sirene und dem Prasseln von Regen auf dem Dach. Dennoch bereitete es Rebka keine Schwierigkeiten, Graves’ Worten zu folgen; Perry hingegen folgte einer völlig andersartigen Konditionierung. Beim ersten Ton der Sirene war er bereits zur Tür gestürzt.

»Da landet jemand! Und ist, deshalb die Sirene, in Schwierigkeiten! Die müssen verrückt sein, wenn sie nicht genügend Erfahrung haben, bei einem Sturm der Kategorie Fünf …«

Und fort war er. Langsam erhob sich nun auch Julius Graves. Doch Hans Rebkas Hand auf seinem Arm hielt den Allianzrat zurück.

»Sie sind geflohen«, gab Rebka ihm das Stichwort. Durch die vom dichten Regen fast blinden Scheiben konnte er die Lichter eines herabsinkenden Flugwagens erkennen, der schlingerte und taumelte in den tückischen Seitenwinden. Er war nur noch wenige Meter vom Boden entfernt, und bald würde auch Rebka hinaus müssen. Aber vorher musste er noch eine Information bestätigt wissen. »Sie sind geflohen. Und dann sind sie … nach Opal gekommen?«

Graves schüttelte den massigen, vernarbten Kopf. »Das hatte ich angenommen, und deswegen hatte ich auch um eine Landeerlaubnis hier gebeten. Stevens Berechnungen nach muss ihre Flugbahn ihren Endpunkt im Dobelle-System gehabt haben. Doch als ich hier eintraf, habe ich sofort mit der Kontrolle des Sternenseiten-Raumhafens gesprochen. Man versicherte mir glaubhaft, niemand könne ohne Wissen der Hafenkontrolle ein Schiff, das mit einem Bose-Antrieb ausgestattet sei, auf diesem Planeten landen.«

Draußen begannen weitere Sirenen zu schrillen, und das fahle Gleißen orangeroter Warnleuchten flammte auf. Lautstark versuchten verschiedene Stimmen einander zu übertönen. Rebka schaute zum Fenster hinüber und sah, wie der Flugwagen aufsetzte, zu hart, zu schnell, vom Boden förmlich abprallte, sich in der Luft drehte und kopfüber zu Boden stürzte. Rebka wollte schon zur Tür stürmen, doch plötzlich hielt ihn Graves zurück, mit der Hand fest seinen Arm umklammernd.

»Wenn Commander Perry zurückkehrt, werde ich ihn über ein neues Gesuch in Kenntnis setzen«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Wir wollen nicht Opal absuchen. Hier befinden sich die Zwillinge nicht. Aber sie befinden sich im Dobelle-System. Und das kann nur eines bedeuten: Sie sind auf Erdstoß.«

Er neigte den Kopf zur Seite, als höre er zum ersten Mal das Schrillen der Sirenen und das Kreischen reißenden Metalls. »Wir müssen Erdstoß absuchen, und das bald. Aber im Augenblick scheint es dringlichere Probleme zu geben.«

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