8 Gezeitensturm minus sechsundzwanzig

Der Augenblick des Todes. Das ganze Leben läuft vor deinen Augen ab.

Darya Lang hörte, wie der Seitenwind den Wagen traf, genau in dem Augenblick, als der Flugwagen zum zweiten Mal aufzusetzen versuchte. Sie sah, wie die rechte Tragfläche über das Rollfeld schrammte, spürte, wie die Maschine vom Rollfeld abkam, wusste, dass das Fahrzeug sich auf den Rücken drehen würde. Sie hörte, wie die überlasteten Dachplanken kreischten.

Plötzlich wirbelten schwarze Erdklumpen dicht an ihr vorbei. Schlamm spritzte auf und nahm ihr den Atem. Das Licht erlosch, völlige Dunkelheit hüllte sie ein.

Als der Sicherheitsgurt schmerzhaft in ihre Brust schnitt, wurde ihr Verstand durch diesen Schmerz wieder klarer. Sie fühlte sich betrogen.

Das war also ihr ganzes Leben, das jetzt so vor ihrem geistigen Auge vorbeiziehen sollte? Wenn ja, dann hatte sie wirklich ein armseliges Leben geführt. Das Einzige, woran sie denken konnte, war ›Wachposten‹. Dass sie ihn niemals mehr würde begreifen können, niemals seine uralten Rätsel lösen, niemals erfahren würde, was mit den Baumeistern geschehen war. All diese Lichtjahre ihrer Reise, nur um dann wie ein Käfer vom Dreck eines lausigen, unbedeutenden Planeten zerquetscht zu werden!

Wie ein Käfer. Der Gedanke an Käfer gab ihr ein unbestimmtes Schuldgefühl.

Warum?

Dann erinnerte sie sich, merkte, dass sie kopfüber in ihrem Sicherheitsgurt hing. Das Denken fiel ihr schwer, aber sie musste es tun. Sie lebte noch. Die Flüssigkeit, die an ihrer Nase entlang — und dann in ihre Augen lief, brannte schrecklich, doch sie war zu kalt, als dass es Blut hätte sein können. Aber was war mit den beiden anderen, Atvar H’sial und J’merlia, die auch in Fahrgastsitzen hängen mussten? Keine Käfer, dachte sie, eigentlich mit Insekten sogar noch weniger verwandt als ich. Vernunftbegabte Lebewesen. Schäm dich, Darya Lang!

Nur: Hatte sie die beiden vielleicht umgebracht mit ihren jämmerlichen Versuchen, diesen Flugwagen zu steuern?

Darya reckte den Hals, versuchte sich umzuschauen, hinter sich zu blicken. Irgendetwas mit ihrem Hals stimmte nicht. Schockartig brannte reine Hitze sich tief in ihre Kehle und ihre linke Schulter, bevor sie den Kopf ganz hatte drehen können. Sehen konnte sie nicht das Geringste.

»J’merlia?« Es hatte gar keinen Sinn, nach Atvar H’sial zu rufen. Selbst wenn die Cecropianerin sie hätte hören können, wäre es ihr doch unmöglich gewesen, ihr zu antworten. »J’merlia?«

Keine Antwort. Doch draußen, außerhalb des Schiffes, ließen sich menschliche Stimmen vernehmen. Riefen sie nach ihr? Nein, sie riefen einander etwas zu — in dem heulenden, pfeifenden Wind war es schwer zu verstehen.

»So kann man das nicht machen.« Eine Männerstimme. »Das Dach ist aufgerissen. Wenn diese Strebe da bricht, dann wird das Gewicht ihnen die Schädel zertrümmern!«

»Die sind doch eh schon hin.« Eine Frau. »Schauen Sie sich doch an, wie die aufgeschlagen sind! Die sind schon zerquetscht. Sollen wir auf den Lastkran warten?«

»Nein. Ich habe jemanden gehört. Halten Sie die Lampe! Ich geh jetzt da rein!«

Das Licht! Darya spürte, wie neuerliche Panik in ihr aufstieg. Die Dunkelheit, die sie einhüllte, war absolut, vollkommen, dunkler als jede Nacht, schwarz wie die Pyramide im Inneren von ›Wachposten‹. Um diese Jahreszeit lag Opal immer im Tageslicht, ob nun von Mandel oder von dessen Begleiter, Amarant. Warum konnte sie nichts sehen?

Sie versuchte, die Augen zusammenzukneifen, und merkte, dass ihr das nicht gelingen wollte. Ihre linke Hand war verschwunden — sie spürte sie nicht mehr, keine Reaktion, nur Schmerzen in der Schulter, wenn sie versuchte, den Arm zu bewegen.

Sie rieb sich die Augen, doch das machte das Brennen nur noch schlimmer. Und sie konnte immer noch nichts sehen.

»Himmel, was für eine Scheiße!« Wieder der Mann. Vor sich sah sie einen ganz schwachen Lichtschimmer, wie eine Taschenlampe, die man mit geschlossenen Augen betrachtete. »Allie, hier drinnen sind drei Leute — glaube ich. Ein Mensch, zwei andere, alle umeinander gewickelt. Überall ist Käfersaft. Ich weiß nicht, was hier was ist, und ich traue mich nicht, die anzufassen. Setz ein Notsignal ab; schau mal, ob du in der Nähe des Raumhafens jemanden findest, der sich ein bisschen in Nichtmenschen-Anatomie auskennt!«

Eine schwache, unverständliche Antwort.

»Verdammt, das weiß ich nicht.« Die Stimme klang jetzt näher. »Da bewegt sich nichts — die könnten alle tot sein. Ich kann hier nicht warten. Die sind mit schwarzem Öl bedeckt, alle miteinander. Eine einzige offene Flamme hier, und die sind knusprig!«

Stimmen in der Ferne, undeutlich: mehr als nur eine Person.

»Ist doch egal.« Die Stimme war jetzt unmittelbar neben ihr. »Muss die rausziehen. Kommt mal jemand hier rein, mir helfen?«

Die Hände, die jetzt nach Darya fassten, wollten sicherlich nicht grob sein. Doch als sie ihre Schulter und ihren Nacken packten, wirbelten zahllose Galaxien des Schmerzes über die Schwärze vor ihren Augen hinweg. Sie stieß einen Schrei aus, ein Heulen aus tiefster Kehle, das ungefähr so klang wie das Miauen einer sehr kleinen Katze.

»Großartig!« Der Haltegriff wurde geändert und packte sie besser und fester. »Hier lebt noch jemand. Ich komme durch. Jetzt hab ich ihn.«

Bäuchlings wurde Darya über ein schlammiges Gewirr aus Wurzeln und abgebrochenen Farnhalmen gezogen. Ein Klumpen aus schleimigem, ekelhaft schmeckendem Moos drang in ihren offenen Mund ein. Schmerzhaft musste sie würgen. Dann bohrte sich eine emporragende Wurzel tief in ihr gebrochenes Schlüsselbein, und plötzlich wurde ihr klar: Sie musste nicht bei Bewusstsein bleiben, um diese entwürdigende Situation zu ertragen!

Dunkelheit hüllte sie ein. Es war an der Zeit, mit dem Kämpfen aufzuhören; es war an der Zeit, sich auszuruhen; es war an der Zeit, in diese lindernde Dunkelheit zu flüchten.


Einen Tag hatte Darya gebraucht, um es zu lernen, doch endlich war sie sich sicher: Ein Dialog zwischen Menschen und Cecropianern war unmöglich ohne J’merlia oder einen anderen Lo’tfianer, der als Vermittler fungierte; Kommunikation hingegen funktionierte. Und auch dabei konnte eine ganze Menge an Informationen ausgetauscht werden.

Das starre Exoskelett der Cecropianer verhinderte jegliche Form von Gesichtsausdruck, so wie Menschen das kannten. Doch beide Spezies bedienten sich einer gewissen Körpersprache. Sie mussten nur die spezifischen Bewegungscodes des jeweils anderen deuten lernen.

Ein Beispiel: Wenn Atvar H’sial sich recht sicher war, bereits zu wissen, welche Antwort auf eine Frage Darya geben würde, dann lehnte sie sich ein wenig zurück. Oft hob sie dabei auch ein oder beide Vorderbeine. Wenn sie die Antwort nicht schon vorher kannte und daher besonders begierig war, sie zu erfahren, dann faltete sie den Saugrüssel eine Winzigkeit zusammen, sodass er etwas kürzer wurde — aber wirklich nur ein wenig. Und wenn eine Bemerkung oder eine Frage sie richtig aufregte — oder beunruhigte: es war schwierig, den Unterschied festzustellen-, dann richteten sich die Härchen und die Borsten an ihren langen, fächerartigen Fühlern so auf, dass sie ein wenig buschiger erschienen.

Und genau das war auch geschehen, und das sehr auffällig, als Julius Graves hereingekommen war.

Darya wusste, dass es den Rat gab — das wusste jeder —, doch sie war viel zu tief in ihre eigene Arbeit versunken gewesen, um allzu sehr darauf zu achten. Und sie war sich immer noch nicht ganz klar, was die Funktion des Rates eigentlich genau war, auch wenn sie wusste, dass es vage irgendetwas mit Fragen der Ethik zu tun hatte.

»Aber es wird doch von jedem erwartet, dass er vage bleibt, Frau Professor Lang«, hatte Graves gesagt. Er lächelte sie an, und dieses Lächeln ließ seinen vergrößerten, an ein Skelett erinnernden Schädel eindeutig bedrohlich erscheinen. Es war nicht klar, wie lange es her war, dass er am Sternenseiten-Raumhafen gelandet war, doch er hatte sich für seinen Besuch einen Zeitpunkt ausgewählt, der eindeutig ungünstig war. Atvar H’sial und sie hatten, was es an Vorbereitungen zu diskutieren gab, inzwischen besprochen und wollten gerade zur Umsetzung schreiten: Wer sollte was tun und warum und wann?

»Das heißt, jeder bleibt vage«, fuhr Graves fort, »abgesehen von den Leuten, deren Handeln den Rat überhaupt erst erforderlich machen.«

Wieder verriet Daryas Gesichtsausdruck sie, da war sie sich ganz sicher. Was sie zusammen mit der Cecropianerin unternehmen wollte, sollte den Rat nicht das Geringste angehen; es gab überhaupt nichts Unethisches daran, für ein wissenschaftlich sinnvolles Ziel den Mühlen der Bürokratie ein wenig auszuweichen, selbst wenn dieses Ziel niemandem auf Opal so ganz erläutert worden war. Was also machten Ratsmitglieder sonst noch?

Doch Graves starrte sie aus seinen wild-verrückten, trübblauen Augen an, und sie war sich sicher, dass er in ihren Augen Schuldbewusstsein las.

Wenn nicht, dann konnte er dieses Schuldbewusstsein gewiss an Atvar H’sial Gestik ablesen! Die Fühler standen empor wie große Bürsten, und selbst J’merlia plapperte fast, so sehr mühte er sich, die Worte herauszubringen.

»Später, geschätzter Allianzrat! Wir werden mit Freuden später mit Ihnen zusammentreffen. Aber im Augenblick haben wir eine andere, dringliche Verabredung.« Atvar H’sial ging tatsächlich so weit, mit einer ihrer gegliederten klauenartigen Greifwerkzeugen Darya Langs Hand zu ergreifen. Als die Cecropianerin sie dann in Richtung Tür zog — ins Freie, dabei goss es doch in Strömen! —, bemerkte Darya zum ersten Mal, dass die Unterseite dieser Klaue mit schwarzen Haaren bewachsen war, mit winzigen Häkchen.

Darya hätte nicht loslassen können, selbst wenn sie beabsichtigt hätte, ihrer Verbündeten vor Julius Graves eine Szene zu machen.

Das war ein weiteres rudimentäres Überbleibsel eines entfernt verwandten Vorfahren Atvar H’sials, für den es vermutlich wichtig gewesen war, sich an Bäumen und Felsen festhalten zu können.

Na ja, keiner von uns ist geradewegs dem Bewusstsein der Götter entsprungen, oder?, dachte sie. Wir alle besitzen noch jetzt unsinnige Überbleibsel unserer Evolution! Unwillkürlich blickte Darya auf ihre Fingernägel hinab. Sie waren völlig verdreckt. Es sah ganz so aus, als würde sie sich bereits jetzt an die widerwärtigen Gepflogenheiten, die auf Opal und Erdstoß herrschten, anpassen.

»Wohin jetzt?« Sie flüsterte nur. Julius Graves würde über ein phänomenales Gehör verfügen müssen, um über den prasselnden Regen hinweg noch etwas von dem verstehen zu können, was sie sagte; doch sie war sich sicher, dass er ihnen hinterherblickte. Zweifellos fragte er sich, wohin sie gehen würden und warum, wenn das Wetter doch so unangenehm war. Aber Darya fühlte sich deutlich besser, jetzt wo er nicht mehr unmittelbar neben ihr stand.

»Wir werden gleich darüber sprechen.« J’merlia, die sämtliche Pheromone, die Atvar H’sial in ihrer Nervosität verströmte, unmittelbar auffing, hüpfte auf dem durchweichten Vorfeld des Raumhafens auf und ab, als sei der Boden glühend heiß. Die Stimme des Lo’tfianers zitterte, so drängend sprach er. »In den Wagen, Darya Lang! In den Wagen!«

Und tatsächlich streckten beide die Arme nach ihr aus, um sie hineinzuheben!

Sie stieß die Klauen von sich. »Wollen Sie denn unbedingt, dass Graves auf die Idee kommt, hier gehe etwas Illegales vor?«, zischte sie Atvar H’sial an. »Beruhigen Sie sich!«

Ihre Reaktion gab ihr sogar das Gefühl einer gewissen Überlegenheit. Die Cecropianer standen in dem Ruf, klar und rational denkende Wesen zu sein. Viele — einschließlich der Cecropianer selbst — behaupteten, ihre intellektuelle Leistungsfähigkeit sei der der Menschen in jeder Hinsicht überlegen. Und hier war jetzt Atvar H’sial und zitterte vor Aufregung, als habe sie vor, ein gewaltiges Verbrechen zu begehen.

Die beiden Nichtmenschen drängten sich hinter ihr in den Wagen und stießen sie so weiter hinein.

»Sie verstehen nicht, Darya Lang.« Während Atvar H’sial die Luke schloss, drängte J’merlia sie weiter zum Pilotensessel. »Dies ist Ihr erstes Zusammentreffen mit einem Ratsmitglied einer der größeren Claden. Denen kann man nicht trauen. Allgemein heißt es, sie befassten sich ausschließlich mit Fragen der Ethik, aber das tun sie nicht! Sie kennen keine Scham! Sie halten es für ihr Recht, sich in alles einzumischen, wie wenig es sie auch angehen mag. Wir konnten in Anwesenheit dieses Julius Graves keinerlei Gespräche führen! Er hätte sicherlich etwas gemerkt und herausgefunden, was wir planen, sich dann eingemischt und alles ruiniert. Wir müssen fort von ihm. Schnell!«

Noch während J’merlia sprach, bedeutete Atvar H’sial Darya mit hektischen Bewegungen, endlich abzuheben — genau in die Sturmwolken hinein, die sich bedrohlich über der Hälfte des Himmels aufgetürmt hatten. Darya deutete schon auf diese Himmelserscheinung, als sie nur Bruchteile eines Augenblicks später begriff, dass das Echolot der Cecropianerin auf diese Entfernung nichts würde ›sehen‹ können. Selbst mit diesem unglaublich feinen Gehör musste Atvar H’sials Welt aus einer Schallkugel von gewiss nicht mehr als einhundert Metern im Durchmesser bestehen.

»Da vorne wütet der Sturm besonders heftig — da drüben, Richtung Osten.«

»Dann fliegen Sie nach Westen!«, wies J’merlia sie an. »Oder nach Norden oder nach Süden. Aber fliegen Sie!« Der Lo’tfianer kauerte sich auf den Boden des Flugwagens, während Atvar H’sial den Schädel gegen das Seitenfenster gelehnt hatte und nun mit blinden Augen ins Leere starrte.

In einer scharfen Kehrtwende ließ Darya den Wagen steil aufsteigen, sie floh in Richtung der helleren Wolken zu ihrer Linken. Wenn sie es schaffen sollte, über die Wolke zu kommen, dann konnte der Wagen mehrere Stunden gefahrlos weiterfliegen.

Aber wie viele? Darya hatte kein sonderliches Interesse, das herauszufinden. Wahrscheinlich wäre es besser, den Wagen weiter aufsteigen zu lassen, sich einen ruhigeren Ort zu suchen, wo sie dann in Ufernähe einer Schlinge würden landen können.

Zwei Stunden später musste sie diesen Plan aufgeben. Die Luftverwirbelungen schienen sich ewig hinzuziehen, und der Sturm wollte offensichtlich nicht im Mindesten nachlassen. Darya war bis zum Ufer der Schlinge geflogen und dann in weiten Kreisen immer weiter auf den Ozean hinaus, suchte eine andere Landemöglichkeit, fand jedoch keine. Was noch schlimmer war: die dichten, schwarzen Gewitterwolken schienen ihnen zu folgen. Eine massive graue Wand erstreckte sich über drei Viertel des Horizonts. Der Wetterfunk des Wagens meldete einen Sturm der ›Kategorie Fünf‹, machte sich aber nicht die Mühe, das genauer zu erläutern. Mandel war untergegangen, und nun flogen sie nur im zornigen Schein von Amarant dahin.

Darya wandte sich Atvar H’sial zu. »Wir können nicht ewig hier oben bleiben, und ich möchte nichts bis auf die letzte Minute aufschieben. Ich werde uns jetzt noch höher bringen, genau über den Sturm. Auf der Höhe werden wir dann bleiben und wieder in Richtung Raumhafen zurückfliegen. Der beste Landeplatz ist der, von dem wir aufgebrochen sind.«

Atvar H’sial nickte selbstgefällig, als J’merlia ihr die Nachricht übermittelt hatte. Der Sturm machte der Cecropianerin keine Angst — vielleicht weil sie die schwarzen Wolken nicht sehen konnte, die über den Himmel rasten und verrieten, wie heftig dieser Sturm in Wirklichkeit war. Sorgen machte sich die Cecropianerin nur wegen Julius Graves.

Während sie weiterflogen, unterbreitete Atvar H’sial Dana über J’merlia ihren gesamten Plan. Bald würde man ihnen die offizielle Antwort auf ihre Besuchsanträge mitteilen — sobald Captain Rebka zurückgekehrt war. Wenn man ihnen die Zustimmung, Erdstoß aufzusuchen, verweigerte, dann sollten sie umgehend zur Erdstoßseite von Opal aufbrechen, in einem Luftwagen, dessen Miete bereits bezahlt war. Dieser stand schon für sie bereit, auf einem kleinen Rollfeld auf einer anderen Schlinge, nicht allzu weit vom Raumhafen von Sternenseite entfernt. Um ihn zu erreichen, mussten sie nur vor Ort einen Flugwagen mieten, und zwar einen, dessen Reichweite so eingeschränkt war, dass Rebka und Perry nicht im Traum auf das Reiseziel winden kommen können, das sie ansteuerten.

Mit J’merlias Hilfe, der stets die Übersetzung übernahm, konnte Atvar H’sial ohne Schwierigkeiten all diese Vorbereitungen treffen. Was sie allerdings nicht konnte, die eine Aufgabe, für die eben Darya Lang absolut unerlässlich sein würde, das war das Abrufen einer Kapsel an ›Nabelschnur‹.

Atvar H’sial zählte ihre Gründe auf, während Darya nur mit einem Ohr zuhörte, weil sie immer weiter gegen den Sturm ankämpfen musste. Kein Cecropianer hatte Opal jemals zuvor aufgesucht. Wenn nun also einer auf der Erdstoßseite auftauchte und dann auch noch versuchte, eine Kapsel von ›Nabelschnur‹ zu betreten, dann würde das sofort dazu führen, dass Fragen gestellt würden. Die Genehmigung würde ihnen nicht erteilt werden, solange sie nicht die entsprechenden Passierscheine würden vorlegen können, und das führte sie dann unweigerlich zu Rebka und Perry zurück.

»Aber Sie«, erläuterte J’merlia soeben, »würden sofort vorgelassen werden. Wir haben entsprechende Papiere für Sie bereits vorbereitet.« Die gefältelte Oberfläche von Atvar H’sials Saugrüssel zog sich ein wenig zusammen. Sie beugte sich über Darya hinweg, die Vorderbeine so aneinander gelegt, als sei sie in ein andächtiges Gebet versunken. »Sie sind ein Mensch … und Sie sind weiblich.«

Als ob das helfen würde! Darya seufzte. Eine vollständige Interspezies-Kommunikation schien wirklich unmöglich zu sein. Sie hatte es Atvar H’sial bereits dreimal erklärt, doch diese Cecropianerin schien einfach nicht akzeptieren zu wollen, dass bei den Menschen die Weibchen nicht das unangefochten herrschende Geschlecht waren.

Darya machte sich daran, den Flugwagen weiter an Höhe gewinnen zu lassen. Dieser Sturm hatte es echt in sich! Sie mussten über diese Gewitterwolken aufsteigen und zusehen, sie weit genug hinter sich zu lassen, bevor sie den Sinkflug würden einleiten können, und trotz der Stabilität und der Leistungsfähigkeit ihres Flugwagens war sie doch nicht gerade von der Aufgabe begeistert, die vor ihr lag.

»Und wir kennen die richtigen Steuersequenzen, um an ›Nabelschnur‹ aufzusteigen«, fuhr J’merlia fort. »Sobald Sie, Darya Lang, uns erst die Möglichkeit eröffnet haben, unbemerkt die Kapsel zu besteigen, wird uns nichts mehr davon abhalten, die Oberfläche von Erdstoß zu erreichen!«

Diese Worte waren eigentlich dazu gedacht, Darya zu ermutigen und ihr sämtliche Sorgen zu nehmen. Erstaunlicherweise hatten sie genau den gegenteiligen Effekt. Darya begann, ein wenig genauer darüber nachzudenken. Diese Cecropianerin war nach ihr auf Opal eingetroffen — und dennoch hatte sie bereits diese gefälschten Papiere vorbereitet? Und sie kannte die Steuersequenzen von ›Nabelschnur‹ — woher hatte sie die?

»Sag Atvar H’sial, dass ich über das alles erst nachdenken muss, bevor ich eine endgültige Entscheidung treffen kann.«

Nachdenken und deutlich mehr auf eigene Faust herausfinden, bevor ich mich auf irgendeine gemeinsame Fahrt mit Atvar H’sial nach Erdstoß mache! Dieser Nichtmensch schien über das Dobelle-System fast alles zu wissen.

Außer vielleicht, wie gefährlich die Stürme auf Opal sein konnten.

Sie befanden sich jetzt im Sinkflug, und die Turbulenzen waren zutiefst erschreckend. Darya hörte und spürte, wie die gewaltigen Winde den Wagen packten. Sie betete, dass die automatischen Stabilisatoren und das Annäherungssystem besser fliegen konnten als sie selbst. Sie war ja schließlich keine Superpilotin!

Atvar H’sial und J’merlia schien die Brisanz der Lage nicht aus der Ruhe zu bringen. Vielleicht hatten ja Lebewesen, die von flugfähigen Vorfahren abstammten, wie entfernt auch immer, im Allgemeinen eine tatsächlich andere Einstellung zu Flugreisen.

Aber Darya selbst würde sich sicherlich nie so richtig an diese Art der Fortbewegung gewöhnen können. Jetzt hatten sie die Wolkendecke durchstoßen und rasten geradewegs in ein Unwetter hinab, einen Wolkenbruch, der heftiger war als alles, was Darya jemals auf Wachposten-Tor erlebt hatte. Bei einer Sicht von weniger als einhundert Metern und keinerlei Landmarken, an denen sie sich hätte orientieren können, musste sie sich ganz auf die Funkfeuer des automatisierten Landesystems von Sternenseite verlassen.

Wenn das in einem derartigen Regenguss überhaupt funktionierte.

Durch das Frontfenster konnte man nicht das Geringste erkennen, außer Unmengen vom Wind gepeitschten Regens. Sie befanden sich schon lange im Sinkflug — zu lange! Hinter ihren Instrumenten atmete Darya tief durch und riss sich zusammen, dann schaute sie sich ihre Instrumente ganz genau an. Höhe: dreihundert Meter. Schrägentfernung zum Funkfeuer: zwei Kilometer. Sie mussten wenige Sekunden vor der Landung stehen. Aber wo war das Rollfeld?

Darya blickte von den Instrumenten auf und sah einige Sekunden lang die Landeleuchten. Da waren sie, genau vor ihr. Sie drosselte den Schub, ließ den Wagen einfach geradewegs auf die leuchtende Linie zutreiben. Kurz setzten die Räder des Fahrwerks auf. Dann erfasste ein heranrollender Seitenwind den Wagen, riss ihn in die Höhe und drehte ihn dann zur Seite.

Zeitlupe. Von diesem Augenblick an bewegte sich alles in Zeitlupe.

Der Wagen begann zu fallen. Darya beobachtete, wie eine der Tragflächen über den regennassen Boden scharrte …

… beobachtete, wie die Tragfläche eine tiefe Furche hinterließ, sich dann verbog und einknickte …

… hörte das Krachen, als die Tragfläche barst …

… spürte, wie der Flugwagen ansetzte, sich zu überschlagen …

… und wusste, ohne jeden Zweifel, dass der bessere Teil der Landung vorbei war.


Nicht einen Augenblick lang verlor Darya das Bewusstsein. Sie war davon so überzeugt, dass nach kurzer Zeit ihr Verstand ihr eine Erklärung dessen zu liefern im Stande war, was hier genau passierte: Immer, wenn sie die Augen schloss, und sei es nur zum Blinzeln, dann veränderte irgendjemand die gesamte Szenerie.

Zuerst die Schmerzen und die würdelose Art, wie man sie über nassen, unebenen Boden schleifte. Hier gab es keine Szenerie, denn ihre Augen funktionierten einfach nicht.

(Blinzeln)

Sie lag auf dem Rücken, während irgendjemand sich über sie beugte und ihre Stirn abtupfte. »Kinn, Mund, Nase«, sagte eine Stimme. »Augen.« Und furchtbare Schmerzen.

»Getriebeöl, würde ich sagen.« Mit ihr sprach diese Stimme nicht. Sie gehörte einem Mann. »Ist in Ordnung, das ist nicht toxisch. Kommen Sie mit den anderen zurecht?«

»Jou«, erwiderte eine andere Stimme, ebenfalls ein Mann. »Aber der Große hat einen Riss im Panzer. Da kommt irgendein klebriges Zeugs raus, und wir können das nicht nähen. Was soll ich machen?«

»Vielleicht zukleben?« Ein dunkler Schatten bewegte sich von ihr fort. Kalte Regentropfen spritzten in ihre brennenden Augen.

(Blinzeln)

Grüne Wände, beigefarbene Decke und das Zischen und Surren von Pumpen. Ein computergesteuerter Tropf speiste irgendetwas in ihren linken Arm ein, der auf einer Metallschiene über ihrem Körper schwebte. Alles fühlte sich warm und kuschelig und einfach wunderbar an.

Neomorph, sagte eine distanzierte Stimme in ihrem Bewusstsein. Wird vom Computer verabreicht, wann immer die Telemetriedaten ihm sagen, dass du das brauchst. Leistungsstark. Macht sehr schnell abhängig. Auf Wachposten-Tor verboten. Nur unter kontrollierten Bedingungen und in Kombination mit Epinephrin-Hemmern gestattet.

Blödsinn, sagte der ganze Rest ihres Körpers. Fühlt sich prima an. Die aus dem Phemus-Kreis, die wissen wirklich, was man mit Drogen alles anstellen kann! Hoch sollen sie leben, dreimal hoch!

(Blinzeln)

»Fühlen Sie sich besser?«

Eine blöde Frage! Sie fühlte sich überhaupt nicht gut. Ihre Augen taten weh, ihre Ohren taten weh, ihre Zähne taten weh, ihre Zehen taten weh. In ihrem Schädel brummte es wie verrückt, und immer wieder spürte sie stechende Schmerzen, die in der Nähe ihres linken Ohres anfingen und sich dann bis in ihre Fingerspitzen zogen. Aber sie kannte diese Stimme.

Darya öffnete die Augen. Wie von Zauberhand war ein Mann an ihrem Bett erschienen.

»Ich kenne Sie.« Sie seufzte. »Aber ich weiß noch nicht einmal, wie Sie mit Vornamen heißen. Sie armer Kerl! Sie haben bestimmt gar keinen Vornamen, was?«

»Doch, hab ich. Hans.«

»Captain Hans Rebka. Dann ist ja alles in Ordnung, Sie haben ja doch einen Vornamen! Sie sehen eigentlich ganz gut aus, Sie müssten nur ein bisschen häufiger lächeln. Aber Sie sind doch eigentlich auf Erdstoß!«

»Wir sind schon wieder zurück.«

»Ich will auch nach Erdstoß!«

Diese blöde Droge, dachte sie dann. Das lag an dieser Droge, anders konnte das gar nicht sein, und jetzt wusste sie auch, warum sie auf Wachposten-Tor verboten war. Sie musste unbedingt die Klappe halten, bevor sie noch irgendetwas sagte, was ihr so richtig Ärger einbrachte.

»Kann ich da auch hin, lieber Hans? Ich muss nämlich da hin, weißt du? Also: Lässt du mich nach Erdstoß reisen? Wie wär’s, Hans Rebka?«

Sie blinzelte, bevor er ihr antworten konnte. Er war verschwunden.

Als sie dann die Augen wieder öffnete, war im Raum eine deutliche Veränderung vorgenommen worden. Zu ihrer Rechten war ein Geflecht aus schwarzen Metallröhren errichtet worden, das an eine Art würfelförmiges Baugerüst erinnerte. In dessen Mitte hing ein Haltegeschirr, das mit stabilen Tauen an den Ecken befestigt war. In diesem Geschirr — der an eine Tonpfeife erinnernder Torso, dicht von weißen Binden umwickelt, der Kopf hing schlaff herab, die dünnen Gliedmaßen zu beiden Seiten vertikal ausgestreckt — hing J’merlia.

Die verdrehte Haltung des umwickelten Leibes ließ an die unerträglichen Schmerzen kurz vor dem letzten krampfartigen Atemzug eines Sterbenden denken. Sofort blickte Darya sich nach Atvar H’sial um. Die Cecropianerin war nirgends zu sehen. War es möglich, dass die Symbiose der beiden so ausgeprägt war, dass der Lo’tfianer ohne die andere gar nicht würde überleben können? War er gestorben, als die beiden getrennt wurden?

»J’merlia?«

Ohne lange darüber nachzudenken, hatte sie ihn schon angesprochen. Da J’merlias Worte nichts anderes gewesen waren als die Übersetzung der Pheromone von Atvar H’sial, war es doch wirklich dämlich, irgendeine Art unabhängiger Reaktion zu erwarten.

Ein zitronenfarbenes Auge wurde in ihre Richtung geschwenkt. Also war ihm zumindest bewusst, dass sie hier war.

»Kannst du mich hören, J’merlia? Du siehst aus, als hättest du furchtbare Schmerzen. Ich weiß nicht, warum du in diesem entsetzlichen Haltegeschirr hängst. Wenn du mich verstehen kannst und Hilfe brauchst, dann sag es mir!«

Es folgte langes Schweigen. Hoffnungslos, dachte Darya.

»Ich danke Ihnen für Ihre Besorgnis«, sagte eine trockene, sehr vertraute Stimme schließlich. »Aber ich habe keine Schmerzen. Dieses Haltegeschirr wurde auf meine explizite Bitte hin angefertigt, um mir die Heilung zu erleichtern. Sie waren nicht bei Bewusstsein, als das geschah.«

War das wirklich J’merlia, der da gerade sprach? Unwillkürlich blickte Darya sich im Raum um. »Bist du das, oder spricht da gerade Atvar H’sial? Wo ist Atvar H’sial? Lebt sie noch?«

»Sehr wohl. Doch ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ihre Verletzungen schlimmer als die Ihren sind. Bei ihr waren größere chirurgische Eingriffe an ihrem Exoskelett erforderlich. Sie hingegen haben lediglich einen gebrochenen Knochen und zahlreiche Prellungen. Sie werden in drei Dobelle-Tagen wieder ganz und uneingeschränkt mobil sein.«

»Was ist mir dir?«

»Ich bin nichts; meine Lage ist unbedeutend.«

J’merlias Zurückhaltung war akzeptabel gewesen, als Darya in ihm kaum mehr als das Wesen gesehen hatte, dass die Gedanken der Cecropianerin aussprach. Doch jetzt war er ein eigenständiges, vernunftbegabtes Lebewesen mit eigenen Gedanken und eigenen Gefühlen.

»Sag es mir, J’merlia! Ich möchte es wissen!«

»Ich habe zwei Glieder eines meiner Hinterbeine verloren — nicht weiter erwähnenswert, das wächst nach —, und unterhalb meines Pedicellus ist ein wenig Körperflüssigkeit ausgetreten. Zu vernachlässigen.«

Er hatte eigene Gefühle — und auch eigene Rechte?

»J’merlia …« Sie hielt inne. Ging das hier sie überhaupt etwas an? Ein Mitglied des Rates war hier, auf diesem Planeten. Tatsächlich war sogar der Versuch, vor diesem speziellen Allianzrat zu flüchten, der Hauptgrund für ihre Verletzungen. Wenn es irgendjemanden gab, der sich Gedanken um den Status der Lo’tfianer zu machen hatte, dann war das dieser Julius Graves, und nicht sie, Darya Lang!

»J’merlia.« Sie ertappte sich selbst dabei, einfach weiterzusprechen. Wie lange dauerte es wohl noch, bis sie diese Droge ganz aus ihrem Körper ausgeschieden hatte? »Wenn Atvar H’sial in der Nähe ist, dann sprichst du niemals deine eigenen Gedanken aus. Du sagst nie überhaupt irgendetwas!«

»Das ist wahr.«

»Warum nicht?«

»Ich habe nichts zu sagen. Und es wäre auch nicht angemessen. Schon bevor ich meine zweite Form erreicht hatte, war Atvar H’sial bereits als meine Meisterin ausgewählt worden. Wenn sie anwesend ist, ist meine einzige Aufgabe, ihre Gedanken an andere weiterzugeben. Ich habe keine anderen Gedanken.«

»Aber du verfügst über Intelligenz, du verfügst über eigenes Wissen. Das ist einfach falsch! Du solltest eigene Rechte haben …« Darya hielt inne. Der Lo’tfianer wand sich in seinem Haltegeschirr, sodass er dann beide Facettenaugen auf die Menschenfrau richten konnte.

Dann senkte er sichtlich den Kopf. »Professorin Darya Lang, wenn Sie gestatten? Sie und alle Menschen sind mir weit überlegen, mir und allen Lo’tfianern. Ich würde es niemals wagen, Ihnen zu widersprechen. Aber würden Sie mir erlauben, Ihnen unsere Geschichte und die der Cecropianer zu erzählen? Darf ich?«

Sie nickte. Das reichte anscheinend nicht aus, denn er wartete, bis sie schließlich sagte: »Also gut. Erzähl mir davon!«

»Ich danke Ihnen. Ich werde mit unserer eigenen Geschichte beginnen, nicht weil wir wichtig wären, sondern nur, damit Sie die Möglichkeit des Vergleichs haben. Unsere Heimatwelt heißt Lo’tfi. Dort ist es kalt, und der Himmel ist klar. Wie Sie vielleicht aufgrund meines Äußeren bereits vermutet haben, vermögen wir ausgezeichnet zu sehen. Jede Nacht haben wir die Sterne gesehen. Tausende von Generationen lang haben wir diese Information lediglich dazu genutzt, in Erfahrung zu bringen, zu welcher Jahreszeit welche Nahrungsmittel zur Verfügung stehen würden. Das war alles. Wenn es wärmer oder kälter war als gewöhnlich, dann sind viele von uns verhungert. Wir konnten miteinander sprechen, aber wir waren doch kaum mehr als nur primitive Tiere, die nichts über die Zukunft und nur wenig über die Vergangenheit wussten. Wahrscheinlich wären wir immer so geblieben.

Und nun denken Sie bitte an Atvar H’sial und ihr Volk! Sie haben sich auf einer dunklen, stets wolkenbedeckten Welt entwickelt — und sie waren blind. Weil sie über Echoortung ›sehen‹, bedeutet ›sehen‹ für sie unweigerlich, dass es auch Atemluft oder eine andere Atmosphäre geben muss, die diesen Schall weiterträgt. Also konnten sie mit ihren Sinnen niemals etwas wahrnehmen, was sich außerhalb ihrer eigenen Atmosphäre befand. Sie haben die Existenz ihrer eigenen Sonne hergeleitet, weil sie deren schwache Strahlung als Wärmequelle wahrnahmen. Sie mussten eine Technologie entwickeln, die ihnen verriet, dass es so etwas wie Licht überhaupt gibt. Und dann mussten sie Instrumente entwickeln, die gegenüber dem Licht und anderer elektromagnetischer Strahlung gegenüber empfindlich waren, sodass sie diese Strahlung delektieren und messen konnten.

Und das war nur der Anfang. Mit diesen Instrumenten mussten sie dann zum Himmel aufblicken und die Existenz eines Universums ableiten, das sich jenseits ihrer Heimatweltjenseits ihrer Sonne, erstreckt. Und schließlich mussten sie die Wichtigkeit der Sterne erkennen, die Entfernungen messen und dann Schiffe bauen, um zu ihnen zu reisen und sie zu erkunden.

Das haben sie getan — das alles! —, während wir Lo’tfianer nur herumgesessen und geträumt haben. Wir sind die ältere Spezies, aber wenn die Cecropianer nicht unsere Welt entdeckt und uns ein Selbst-Bewusstsein nahe gebracht hätten, dann würden wir immer noch tatenlos dort herumsitzen, ganz so wie Tiere.

Im Vergleich zu den Cecropianern oder auch zu den Menschen sind Lo’tfianer gar nichts. Im Vergleich zu Atvar H’sial bin ich gar nichts. Wenn ihr Licht erstrahlt, dann sollte das meine nirgends zu sehen sein. Wenn sie spricht, so gereicht es mir zur Ehre, als das Instrument zu fungieren, dass ihre Gedanken zu Ihnen weiterträgt.

Hören Sie, Professorin Darya Lang? Es gereicht mir zur Ehre! Darya Lang?«

Sie hatte zugehört — sehr aufmerksam sogar. Doch jetzt setzten die Schmerzen wieder ein, und der computergesteuerte Tropf war nicht bereit, das tatenlos hinzunehmen. Vor wenigen Sekunden war die Pumpe wieder aktiviert worden.

Sie zwang sich, die Augen offen zu halten.

Ich bin gar nichts! Was für ein Minderwertigkeitskomplex — und darunter litt eine ganze Spezies! Aber es sollte den Lo’tfianern nicht gestattet sein, eine Sklaven-Spezies zu sein — auch wenn sie das selbst so wollten. Sobald sie, Darya, ihn erreichte, würde sie ihm davon berichten.

Ihm.

Wem?

Trübe, blaue Augen, in denen der Wahnsinn stand, aber sie konnte sich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Hatte sie Angst vor ihm? Aber gewiss nicht.

Sie würde sofort davon berichten, und zwar …

(Blinzeln).

Загрузка...