10 Gezeitensturm minus achtzehn

»Herein!«, rief Darya Lang automatisch, als sie hörte, wie zaghaft an ihre Zimmertür geklopft wurde. Dann schwang die Tür auch schon auf.

»Herein!«, wiederholte sie noch, bevor sie erkannte, dass ihr Besucher bereits hereingekommen war, zumindest teilweise. Keinen halben Meter über dem Boden spähte ein runder, schwarzer Schädel mit zahlreichen, ringförmig angelegten, hellen Augen durch den Spalt der halb geöffneten Tür.

»Sie versteht Sie nicht, kein Wort!«, meinte nun eine raue Stimme. »Die kennt in der Menschensprache nur ein paar Befehle. Rein da!«

Stirnrunzelnd trat ein untersetzter, dunkelhäutiger Mann mit großen Schritten durch die Tür und schob dabei ein kleinwüchsiges fremdartiges Lebewesen vor sich her. An dem starren Halfter um den untersetzten Brustkorb des Hymenopters war eine schwarze Leine befestigt, die der Mann in der Hand hielt.

»Ich bin Louis Nenda. Das hier …«, ein kurzes Zucken an der Leine, »… ist Kallik. Gehört mir.«

»Hallo. Ich bin Darya Lang.«

»Ich weiß. Wir müssen miteinander reden.«

Der war bisher der schlimmste. Angesichts der Manieren, die im Phemus-Kreis an den Tag gelegt wurden, verlor Darya langsam die Geduld. Aber schlechte Manieren schienen ansteckend zu sein. »Vielleicht fühlen Sie ja den Drang zu reden. Ich jedenfalls nicht. Also warum gehen Sie nicht gleich wieder?«

Unerwarteterweise grinste er. »Warten Sie erst einmal ah! Wo können wir reden?«

»Gleich hier. Aber ich weiß immer noch nicht, warum wir das tun sollten!«

Er schüttelte den Kopf und deutete mit dem Daumen ruckartig auf J’merlia. Der Lo’tfianer hatte sich weit genug erholt, dass er aus dem Stützkorsett hatte befreit werden können, doch er zog es immer noch vor, sich an einem Ort aufzuhalten, an dem er sich für die Schlafperiode befestigen konnte. »Was ist mit der Stabheuschrecke da?«

»Das ist in Ordnung so.« Darya beugte sich vor und warf einen Blick auf die Okularmembran. »Er ruht sich nur aus. Er wird keine Schwierigkeiten machen.«

»Ist mir egal, was er tut. Was ich zu sagen habe, kann ich nicht vor diesem Käfer da sagen.«

»Dann will ich es, glaube ich, gar nicht hören. J’merlia ist kein ›Käfer‹. Er ist ein Lo’tfianer, und er ist genauso vernunftbegabt wie Sie.«

»Das ist nicht sonderlich beeindruckend.« Wieder grinste Nenda. »Manche sagen, ich sei mindestens so bescheuert wie ein Varnianer. Also los, suchen wir uns einen Platz zum Reden.«

»Können Sie mir einen einzigen guten Grund nennen, warum ich mit Ihnen würde reden wollen?«

»Klar. Ich kann Ihnen sogar 1.237 gute Gründe nennen.«

Darya starrte ihn an. »Geht es hier um die Artefakte der Baumeister? Es sind doch bisher erst 1.236 entdeckt worden.«

»Ich habe von Gründen gesprochen. Und ich wette, wir können uns beide einen sehr guten Grund ausdenken, miteinander zu reden, bei dem es nicht um ein Artefakt geht.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.« Doch Darya spürte schon, wie ihr Gesicht sie zu verraten drohte — wie immer.

»Kallik, sitz!« Dann ließ Louis Nenda seinen Worten noch einen Reihe Pfeif- und Grunzlaute folgen. Anschließend wandte er sich wieder Darya zu. »Sprechen Sie zufällig ein bisschen Hymenoptisch? Nein? Hab ich mir schon gedacht. Ich hab ihr gesagt, sie soll nach da drüben gehen und den Käfer im Auge behalten. Kommen Sie mit raus! Sie wird zu uns kommen, wenn der Käfer aufwacht und Sie brauchen sollte.«

Er löste die Leine von Kalliks Halfter, ging zur Tür und verließ dann das Gebäude, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzuschauen, ob Darya ihm folgte oder nicht.

Was wusste er wohl? Was konnte er wissen? Die Logik sagte Darya: ›Nicht das Geringste‹. Dennoch stellte sie fast widerwillig fest, dass sie ihm auf die durchweichte Oberfläche der Schlinge hinaus folgte.

Die Wetterzentrale von Sternenseite hatte für den nächsten Tag einen weiteren heftigen Sturm angekündigt; im Augenblick jedoch hatte sich der Wind beruhigt, nur gelegentlich fegten vereinzelte, feuchtwarme Böen über die Schlinge. Gemeinsam standen Mandel und Amarant am Himmel, undeutliche helle Flecken hinter der Wolkendecke. Amarant schien zusehends heller zu werden. Die Grünpflanzen der Schlinge schimmerten bereits in einem leichten Kupferton, und auch die Farbe des Himmels im Osten erinnerte ein wenig an Rost. Mit selbstbewussten Schritten trat Louis Nenda ins Unterholz — der macht sich keine Sorgen über Riesenschildkröten, dachte Darya. Doch jetzt sollten die sowieso schon alle draußen auf dem Ozean sein, in Sicherheit, dort wo sie den Gezeitensturm würden abwarten können.

»Das ist weit genug draußen!«, rief sie ihm hinterher. »Jetzt sagen Sie mir, was Sie eigentlich wollen!«

Er drehte sich um und kam wieder zurück, auf sie zu. »Stimmt, das ist weit genug. Ich will bloß keine weiteren Zuhörer haben, das ist alles. Und ich nehme an, Ihnen geht es genauso.«

»Mir ist es egal. Ich habe nichts zu verbergen.«

»Ach ja?« Er lächelte zu ihr hinauf, schließlich war er einen halben Kopf kleiner als sie. »Komisch, ich war bisher der festen Überzeugung, die Lage sehe anders aus. Sie sind doch Darya Lang, die Expertin der Vierten Allianz für die Technologie und die Geschichte der Baumeister?«

»Ich bin keine Expertin, aber ich interessiere mich sehr für die Baumeister. Das ist ja nun wirklich kein Geheimnis.«

»Das stimmt. Und Sie sind berühmt genug, als dass die Baumeister-Fachleute aus der Zardalu-Gemeinschaft alles über Ihre Arbeit und den Lang-Katalog wissen. Sie werden doch ständig zu Konferenzen und Symposien eingeladen, oder nicht? Aber Sie haben noch nie eine solche Reise angetreten, das sagen alle, nicht seit einem Dutzend Jahren. Jeder, der Darya Lang unbedingt treffen will, muss sich auf den Weg nach Wachposten-Tor machen. Nur dass Sie seit ein paar Monaten dort nicht mehr zu erreichen sind. Plötzlich machen Sie sich auf und gehen auf Reisen. In das Dobelle-System.«

»Ich möchte ›Nabelschnur‹ einer genaueren Untersuchung unterziehen.«

»Klar. Nur dass laut dem Lang-Katalog UKA279 …«

»UKA269«, korrigierte Darya ihn unwillkürlich.

»’tschuldigung, UKA269! Egal, da heißt es — macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie zitiere? — ›Nabelschnur‹ sei ›eines der einfachsten und das am leichtesten zu verstehende sämtlicher bekannten Artefakte der Baumeister, und ist daher für die meisten ernstlich an der Technologie der Baumeister interessierten Wissenschaftler nur von nachgeordnetem Interesse‹. Erinnern Sie sich, das geschrieben zu haben?«

»Natürlich erinnere ich mich daran! Na und? Ich handle ganz frei, nur in meinem eigenen Auftrag; ich kann es mir doch anders überlegen. Und ich kann gehen, wohin ich will.«

»Das können Sie. Nur haben Ihre Chefs auf Miranda einen gewaltigen Fehler gemacht. Die hätten den Leuten, die nach Ihnen gefragt haben, sagen sollen, Sie seien auf dem Weg zu ›Tantalus‹, ›Kokon‹, ›Leuchter‹ oder zu einem der anderen wirklich großen Baumeister-Attraktionen! Oder vielleicht hätten sie einfach sagen sollen, Sie würden Urlaub machen.«

»Und was haben sie nun gesagt?« Sie hätte nicht nachfragen sollen, aber sie musste es einfach wissen. Was hatten diese Trottel von der Regierung ihr jetzt wieder eingebrockt?

»Sie haben gar nix gesagt. Überhaupt nix. Die haben einfach geschwiegen und jedem, der nach Ihnen gefragt hat, nur gesagt, er solle sie nicht weiter belästigen und dass Sie ja in ein paar Monaten zurück seien. So etwas sagt man nicht, wenn man nicht will, dass die Leute anfangen herumzuschnüffeln.«

»Aber Sie haben mich ohne Schwierigkeiten gefunden.« Darya war sehr erleichtert. Er war wirklich eine Plage, aber wenigstens wusste er nicht das Geringste, und es war nicht ihre Schuld, dass er jetzt hier war.

»Klar doch. Wir haben Sie gefunden. Das war ja auch nicht schwer, nachdem wir erst einmal angefangen haben zu suchen: Zu jedem Bose-Transit gibt es Transfer-Informationen.«

»Also sind Sie mir hierher gefolgt. Und was wollen Sie jetzt von mir?«

»Habe ich gesagt, wir seien Ihnen gefolgt, Frau Professor?« Bei ihm klang ihr Titel wie eine Beleidigung. »Das sind wir nicht. Wissen Sie, wir waren bereits auf dem Weg hierher. Aber als wir dann erfuhren, dass Sie ebenfalls hier gereist seien, da wusste ich: Wir müssen einander unbedingt treffen. Kommen Sie, Schätzchen!«

Louis Nenda griff nach Daryas Arm und führte sie durch das dichte Unterholz. Sie kamen zu einem verschlungenen Wulst aus Ranken und waagerecht wachsenden, holzartigen Stämmen, die sich so aufwölbten, dass sie eine lang gestreckte, unregelmäßig geformte Sitzbank ergaben. Ein leichter Druck von seiner Hand, und sie sank wie gewünscht auf diese natürliche Bank nieder. Ihre Knie zitterten.

»Wir mussten einander unbedingt treffen«, wiederholte er. »Und Sie wissen auch warum, nicht wahr? Sie tun so, als wüssten Sie das nicht, Darya Lang, aber Sie wissen es verdammt genau!« Er setzte sich neben sie und tätschelte ihr vertraulich das Knie. »Kommen Sie, jetzt ist Beichtstunde! Sie und ich, wir haben einander viel zu erzählen, Schätzchen! Richtig persönliche Dinge. Soll ich vielleicht anfangen?«


Wenn die Ergebnisse mir doch so offensichtlich erscheinen, warum haben dann andere nicht die gleichen Schlüsse gezogen?

Darya erinnerte sich daran, genau das gedacht zu haben, lange bevor sie sich auf den Weg in das Dobelle-System gemacht hatte. Und endlich konnte sie diese Frage beantworten. Andere hatten die gleichen Schlüsse gezogen. Das Geheimnisvolle war nur, dass jemand, der so einfach gestrickt, so direkt und so in jeder Hinsicht unintellektuell war wie Louis Nenda, das fertiggebracht hatte.

Er hatte nicht lange um den heißen Brei herumgeredet.

»Artefakte der Baumeister, über den ganzer Spiralarm verteilt. Manche auf Ihrem Territorium, drüben bei der Allianz, manche bei der Cecropia-Föderation, manche da, wo ich herkomme, in Zardalu-Land. Jou, und eines auch hier: ›Nabelschnur‹.

Ihr Lang-Katalog listet jedes Einzelne auf. Und Sie nutzen die universellen Ephemeriden, um zu zeigen, wann immer sich bei irgendeinem der Artefakte eine wie auch immer geartete Veränderung ergeben hat. Im äußeren Erscheinungsbild, in der Größe, der Funktion, wo auch immer.«

»Soweit jedenfalls wie ich dazu in der Lage bin, ja.« Darya gab hier nichts zu, was nicht auch aus ihrem Katalog herauszulesen gewesen wäre. »Zu manchen Zeiten wurden nicht genügend signifikante Daten aufgenommen. Ich bin mir sicher, dass es auch Ereignisse gegeben hat, die völlig übersehen wurden. Und ich vermute, dass auch Veränderungen verzeichnet wurden, die gar keine waren.«

»Aber Sie haben durchschnittlich siebenunddreißig Veränderungen pro Artefakt ermittelt, im Rahmen eines Beobachtungszeitraums von dreitausend Jahren — neuntausend für Artefakte, die sich auf cecropianischem Territorium befinden, weil die länger als jeder andere diese Artefakte bereits beobachten. Und keine Korrelationen der individuellen Zeitpunkte.«

»Das ist richtig.« Darya gefiel die Art und Weise nicht, in der er sie angrinste. Sie nickte und wandte den Blick ab.

Mit muskulösen Fingern drückte Nenda ihr Knie. Seine Hand war groß und auffallend behaart. »Komme ich dem entscheidenden Punkt schon unangenehm nahe? Sei nicht traurig, Süße! Warte ab — wir sind gleich ganz da! Die Zeitpunkte der jeweiligen Ereignisse ließen sich nicht korrelieren, was? Aber in einem Ihrer Artikel haben Sie ganz beiläufig eine Arbeitshypothese formuliert. Erinnern Sie sich?«

Wie lange konnte sie ihn noch hinhalten? Leider waren die Instruktionen, die ihr Legatin Pereira gegeben hatte, sehr eindeutig gewesen: Sie sollte niemandem, der nicht zur Allianz gehörte, von ihren Befunden berichten — selbst dann nicht, wenn diese andere Person die Ergebnisse bereits zu kennen schien.

Sie schob seine Hand von ihrem Knie. »Ich habe im Laufe meiner Arbeit eine ganze Reihe von Arbeitshypothesen ganz beiläufig formuliert.«

»Das habe ich auch schon gehört. Und ich habe auch gehört, Sie würden Dinge niemals vergessen. Aber ich werde mir erlauben, Ihrem Gedächtnis trotzdem auf die Sprünge zu helfen. In besagter Arbeitshypothese stellen Sie fest, die Chance, mögliche Temporal-Korrelationen der Veränderungen individueller Artefakte herauszufinden, bestehe nicht darin, die universelle Zeitschiene galaktischer Ereignisse zu betrachten. Man müsse sich die Auswirkungen einer Veränderung als Welle vorstellen, die sich radialsymmetrisch um ihrem Ursprungsort ausbreite wie ein Radio-Signal etwa, und dieses Phänomen bewege sich mit Lichtgeschwindigkeit. Also sei dann zehn Jahre, nachdem irgendetwas bei einem beliebigen Artefakt passiert sei, die Information darüber überall auf der Oberfläche einer Sphäre mit einem Radius von zehn Lichtjahren verfügbar, und im Zentrum dieser Sphäre liege das entsprechende Artefakt. Erinnern Sie sich nun, dies geschrieben zu haben?«

Darya zuckte mit den Schultern.

»Und zwei beliebige Sphären würden sich immer weiter ausdehnen, bis sie aufeinander stießen«, fuhr Louis Nenda fort. »Zuerst berührten sie einander nur an einem einzigen Punkt, dann, wenn sie immer größer würden, überschnitten sie sich in einem Kreis, der größer und größer und immer größer werde. Aber mit drei Sphären werde es dann schwieriger, behaupteten Sie. Vier oder mehr Sphären hätten selten auch nur einen einzigen Punkt gemein. Und wenn man nun 1236 Artefakte betrachtet, mit durchschnittlich siebenunddreißig Veränderungen bei jedem einzelnen, dann haben wir es mit fast fünfzigtausend Sphären zu tun — jede einzelne Sphäre breitet sich mit Lichtgeschwindigkeit aus und hat ein Artefakt zum Zentrum. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass 1.236 dieser Sphären, eine von jedem einzelnen Artefakt der Baumeister, alle am gleichen Punkt zusammentreffen? Die Wahrscheinlichkeit sollte wohl verschwindend gering sein, zu klein, um sie überhaupt zu berechnen. Aber wenn sie doch aufeinander träfen, wann würde das wohl geschehen?

Das klingt nach einer Frage, die man unmöglich beantworten kann, nicht wahr? Aber es ist gar nicht so schwer, ein entsprechendes Programm zu schreiben und nach Kreuzungspunkten und Schnittmengen zu suchen. Und wissen Sie, welche Antwort einem dieses Programm ausspuckt, Professorin Lang?«

»Woher sollte ich das wissen?« Es war zu spät, aber sie versuchte immer noch, das Unausweichliche herauszuzögern.

»Sie wissen es, weil Sie hier sind. Verdammt noch mal, hören wir doch auf, uns hier gegenseitig etwas vorzumachen! Wollen Sie wirklich, dass ich es Ihnen auch noch buchstabiere?«

Wieder lag seine Hand auf ihrem Knie, doch es war sein Tonfall, der sie schließlich wütend genug machte, um sich endlich zu wehren.

»Sie brauchen mir gar nichts zu buchstabieren, Sie … Sie widerlicher geiler Zwerg, Sie! Und Sie mögen dieser Idee nachgegangen sein, aber das ist auch alles, was Sie getan haben — Sie sind ihr nachgegangen! Das war meine Idee! Und nehmen Sie endlich Ihre Dreckspfoten von meinem Knie!«

Er grinste triumphierend. »Ich habe doch nie bestritten, dass das Ihre Idee gewesen ist. Und wenn Sie keinen Wert darauf legen, freundschaftlich miteinander umzugehen, dann werde ich Sie zu nichts drängen. Tatsache ist: Die Sphären überschneiden sich, alle — im Rahmen so aussagekräftiger Daten, wie die Datensätze das nur gestatten, nicht wahr? Ein Ort, ein Zeitpunkt, und wir beide wissen genau, wo: die Oberfläche von Erdstoß während des Gezeitensturms! Deswegen sind Sie hier, und deswegen bin ich hier und Atvar H’sial — praktisch Kreti und Pleti!«

Er stand auf. »Und jetzt sagen die Provinzdeppen hier, wir dürften dort nicht hin! Keiner von uns!«

»Was?!« Darya riss es förmlich von ihrem Sitz.

»Hat Ihnen das noch niemand gesagt? Perry, dieser alte Sturkopf, ist vor einer Stunde zu mir gekommen und hat es mir unter die Nase gerieben: kein Erdstoß für Sie, kein Erdstoß für mich, kein Erdstoß für die Käfer! Wir sind eintausend Lichtjahre weit gereist, nur um jetzt hier auf unseren Hintern herumzusitzen und die ganze Show zu verpassen.«

Er befestigte die schwarze Leine von Kalliks Geschirr an einem dicken Bambusstamm. »Die sagen, da läuft nichts. Dann sage ich: Die können mich mal! Verstehen Sie jetzt, warum wir etwas unternehmen müssen, Darya Lang? Wir müssen unser Fachwissen zusammentun — es sei denn, Sie möchten gerne hier auf Ihrem Hintern herumsitzen und sich von irgendwelchen Würstchen Befehle erteilen lassen.«

Mathematik ist universell. Doch neben der Mathematik existiert kaum etwas, was diesem Anspruch gerecht wird.

Darya kam zu diesem Schluss, nachdem sie eine weitere halbe Stunde mit Louis Nenda gesprochen hatte. Ein schrecklicher Mann, jemand, dem sie am liebsten völlig aus dem Weg ginge. Doch als sie dann ihre Statistik-Analysen verglichen hatten — halb widerwillig, äußerst vorsichtig, beide stets darauf bedacht, nur ja nicht mehr zu erzählen, als sie vom jeweils anderen erfuhren —, kamen sie zu geradezu unheimlichen Übereinstimmungen. In gewisser Weise war das unvermeidbar. Wenn man als Berechnungsgrundlage die gleichen Ereignisse nahm und ebenso den gleichen Datensatz, was die Position der einzelnen Artefakte betraf, dann gab es nur einen einzigen Ort und einen einzigen Zeitpunkt im ganzen Universum, der zu allen vorgegebenen Daten passte. Und die winzige Abweichung bei den berechneten Zeit- und Ortskoordinaten ergab sich durch alternative Kriterien, die bei der Minimierung der Restwerte dieser Kurvenanpassung angelegt worden waren, oder durch unterschiedlichen Fehlergrenzen bei der Konvergenz der nicht linearen Berechnungen.

Darya und Louis Nenda hatten einen fast identischen Ansatz gewählt, und sie hatten auch ähnliche Fehlergrenzen und Konvergenzfaktoren verwendet. Daher stimmten beide Ergebnisse bis auf fünfzehn signifikante Stellen überein.

Nach weiteren fünfzehn Minuten kam Darya zu dem Schluss, dass wohl doch eher ihre eigenen Ergebnisse und die desjenigen übereinstimmten, der diese Berechnungen für Nenda durchgeführt hatte. Das konnte unmöglich dessen eigenes Werk sein. Er hatte über die Vorgehensweise bestenfalls rudimentäre Kenntnisse. Nenda mochte also derjenige sein, der das Sagen hatte, aber die eigentliche Analyse hatte jemand anderes durchgeführt.

»Also einigen wir uns auf den Zeitpunkt, und der liegt genau innerhalb des Gezeitensturms«, sagte er. Er zog schon wieder ein finsteres Gesicht. »Und wir wissen lediglich, dass es sich irgendwo auf Erdstoß befindet? Warum können Sie das nicht weiter einengen? Ich hatte gehofft, dass wir das bei einem Vergleich unserer Ergebnisse würden schaffen können!«

»Wollen Sie ein Wunder? Wir reden hier von Entfernungen in der Größenordnung von Tausenden von Lichtjahren, Billiarden von Kilometern und einer Zeitspanne, die Jahrtausende umfasst! Und wir haben eine Unsicherheit von weniger als zweihundert Kilometern, was den Ort betrifft, und weniger als dreißig Sekunden, was den Zeitpunkt angeht. Ich finde, das ist an sich schon verdammt gut! Um ehrlich zu sein, das ist schon ein Wunder!«

»Na ja, so etwas in der Richtung vielleicht.« Er schlug sich mit der Leine gegen das eigene Knie. »Und es liegt definitiv auf Erdstoß, nicht hier auf Opal. Ich schätze, das beantwortet zugleich dann auch eine andere meiner Fragen.«

»Was die Baumeister angeht?«

»Ach, pfeif auf die Baumeister! Was diese Käfer angeht! Warum die nach Erdstoß wollen!«

»Atvar H’sial sagt, sie wolle das Verhalten von Lebensformen unter extremem Umgebungsstress untersuchen.«

»Ja klar. ›Umgebungsstress‹, sicher doch!« Er machte sich auf den Rückweg zu der Gruppe von Gebäuden, die eng wie zusammengedrängt beieinander standen. »Wie sind Sie denn drauf? Meinen Sie etwa auch, bei Ihrer Schatzsuche finden Sie glatt die verlorene Bundeslade, oder was? Die ist hinter dem Gleichen her wie wir, klare Sache! Die jagt die Baumeister! Ist schließlich auch Expertin für die Baumeister!«

Louis Nenda war ein grober Klotz, besaß keinerlei Manieren und war unverschämt. Aber kaum hatte er in Worte gefasst, was auf der Hand lag, war auch Darya von der Richtigkeit seiner Einschätzung überzeugt: Atvar H’sial war mit zu gründlich durchdachten Alternativplänen in das Dobelle-System gekommen, als hätte sie bereits gewusst, dass sämtliche Anträge, die Oberfläche von Erdstoß aufzusuchen, abgelehnt werden würden.

»Was ist mit Julius Graves? Der auch?«

Doch Nenda schüttelte den Kopf. »Der alte Zausel? Nö. Der ist mir ’n Rätsel. Normalerweise hätt ich sofort gesagt: ›Na klar, der ist aus den gleichen Gründen hier wie wir‹. Aber der gehört zum Rat, und selbst wenn man die Hälfte von dem, was man so über die hört, von vorneherein abzieht — und so mache ich das —, dann hab ich bisher jedenfalls noch von keinem Ratsmitglied gehört, das gelogen hätte. Sie vielleicht?«

»Noch nie. Und er hat wohl auch nicht damit gerechnet, Erdstoß aufsuchen zu müssen, als er hierher gekommen ist, nur Opal. Er hat gedacht, die Zwillinge, hinter denen er her ist, seien hier.«

»Dann ist der vielleicht wirklich der, der er zu sein vorgibt. Auf jeden Fall brauchen wir uns seinetwegen keinen Kopf zu machen. Wenn der nach Erdstoß will, dann macht der das auch. Diese Provinzdeppen hier können den von nichts abhalten.« Sie hatten das Gebäude wieder erreicht, und kurz vor der Eingangstür blieb Nenda noch einmal stehen. »Also gut, wir hatten also unsere kleine Unterhaltung. Kommen wir jetzt zur besten Frage von allen: Was genau wird denn nun auf Erdstoß während des Gezeitensturms passieren?«

Darya starrte ihn an. Erwartete er wirklich, dass sie diese Frage beantwortete?

»Das weiß ich nicht.«

»Kommen Sie, Sie versuchen mich doch nur wieder hinzuhalten! Sie müssen es doch wissen — sonst hätten Sie doch nicht diesen ganzen weiten Weg zurückgelegt!«

»Andersherum wird ein Schuh daraus! Wenn ich wüsste, was geschehen wird, oder wenn ich davon auch nur eine halbwegs plausible Vorstellung hätte, dann hätte ich Wachposten-Tor niemals verlassen! Mir gefällt es da nämlich. Aber Sie haben doch auch diesen ganzen weiten Weg zurückgelegt: Was glauben Sie denn, was passieren wird?«

Frustriert warf er ihr einen finsteren Blick zu. »Wer weiß das schon? He, Sie sind doch hier die Intelligenzbestie! Wenn Sie es schon nicht wissen, dann können Sie ja wohl davon ausgehen, dass ich es erst recht nicht weiß! Haben Sie wirklich nicht mal ’ne Vermutung, oder so?«

»Eigentlich nicht. Es wird etwas Bedeutsames sein, das glaube ich schon. Es wird auf Erdstoß geschehen. Und es wird uns mehr über die Baumeister verraten. Alles weitere kann ich nicht einmal erahnen.«

»Verdammt!« Mit der Leine peitschte er den feuchten Boden. Darya hatte das Gefühl, wenn Kallik jetzt hier gewesen wäre, dann hätte sie diesen Schlag abbekommen. »Und was jetzt, Frau Professor?«

Genau dieselbe Frage plagte auch Darya Lang. Nenda schien mit ihr zusammenarbeiten zu wollen, und ihr eigener Hunger auf neue Fakten und Theorien, die mit den Baumeistern zusammenhingen, hatte sie dazu gebracht, bis jetzt mitzuspielen. Doch er selbst schien nichts Neues zu wissen — oder zumindest nichts, was er preiszugeben bereit wäre. Und sie selbst hatte ja bereits Absprachen zu treffen begonnen, mit Atvar H’sial und J’merlia zusammenzuarbeiten. Mit diesen beiden und Louis Nenda gleichzeitig, das ginge nicht! Und auch wenn sie bisher Atvar H’sial nicht fest zugesagt hatte, durfte sie Louis Nenda gegenüber davon nichts erwähnen.

»Schlagen Sie eine Zusammenarbeit vor? Wenn das nämlich so ist, dann …«

Sie brauchte den Satz nicht zu beenden. Er hatte den Kopf zurückgeworfen und kreischte vor Lachen. »Lady, bitte, warum sollte ich denn so etwas tun? Sie haben mir doch gerade eben noch gesagt, dass Sie nicht das Geringste wissen!«

»Na ja, wir haben Informationen ausgetauscht.«

»Klar. Darin sind Sie gut, dafür sind Sie berühmt. Informationen und Theorien. Und wie gut sind Sie beim Lügen und Betrügen? Wie sind Sie, wenn es ans Handeln geht? Ich wette, nicht annähernd so gut! Aber genau das wird erforderlich sein, wenn Sie nach Erdstoß rüber wollen. Und nach allem, was ich bisher gehört habe, wird der Besuch auf Erdstoß nicht gerade ein lustiger Spaziergang. Ich werde da drüben alle Hände voll zu tun haben. Meinen Sie, ich hab da noch Lust, für Sie den Babysitter zu spielen, Schätzchen, und Ihnen zu sagen, wann Sie weglaufen sollen und wann in Deckung gehen? Nein danke, Herzchen! Die Reise müssen Sie sich schon selber organisieren!«

Bevor sie noch etwas erwidern konnte, ging er mit großen Schritten in das Gebäude und auf den Raum zu, von dem sie aufgebrochen waren. Kallik und J’merlia waren immer noch da; sie hatten sich auf den Boden gekauert, ihre zahlreichen Beine hatten sie miteinander verschränkt. Die ganze Zeit über tauschten sie sonderbare Pfeif- und Grunzlaute aus.

Grob packte Louis Nenda den Hymenopter an seinem Halfter, befestigte die schwarze Leine und zerrte dann daran. »Komm schon! Ich habe dir doch gesagt, es wird nicht gekämpft! Wir haben zu tun!« Dann wandte er sich wieder Darya zu. »Es war nett, Sie kennen zu lernen, Frau Professor! Sehen wir uns auf Erdstoß?«

»Ganz bestimmt, Louis Nenda.« Daryas Stimme bebte, so wütend war sie. »Darauf können Sie Gift nehmen!«

Er lachte spöttisch. »Fein. Ich hebe Ihnen da einen Drink auf. Wenn Perry recht hat, dann werden wir vielleicht beide einen brauchen.«

Hart riss er an der Leine und zerrte Kallik regelrecht aus dem Raum.

Darya, die innerlich immer noch kochte, ging zu J’merlia hinüber, der jetzt langsam wieder auf die Beine kam. »Wie geht es Atvar H’sial?«

»Viel besser. Noch ein Dobelle-Tag, dann wird sie ihre Arbeit wieder voll und ganz aufnehmen können.«

»Gut. Sag ihr, dass ich mich entschieden habe und bereit bin, vorbehaltlos mit ihr zu kooperieren. Ich werde alles wie besprochen tun. Ich bin bereit, nach Erdstoßseite und zu ›Nabelschnur‹ aufzubrechen, sobald sie wieder ganz genesen ist.«

»Ich werde es ihr sofort berichten. Das ist eine gute Nachricht.« J’merlia trat ein wenig näher an sie heran und betrachtete aufmerksam Daryas Gesicht. »Aber Sie hatten gerade ein unschönes Erlebnis, Darya Lang. Hat dieser Mann versucht, Sie zu verletzen?«

»Nein. Nicht körperlich.« Aber verletzt hat er mich dennoch. »Er hat mich wütend gemacht. Es tut mir leid, J’merlia. Er wollte unbedingt mit mir reden, also sind wir hinausgegangen. Ich dachte, du würdest schlafen. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, sein entsetzliches Haustier könnte dich bedrohen.«

J’merlia starrte sie an und schüttelte seinen schmalen Gottesanbeterinnen-Kopf — eine Geste, die er von den Menschen aufgeschnappt hatte. »Bedroht? Von ihr?« Er deutete auf die Tür. »Von dem Hymenopter-Weibchen?«

»Ja.«

»Sie hat mich nicht bedroht. Kallik und ich hatten gerade eine Protokonversation — die ersten Schritte, die Sprache des anderen zu erlernen.«

»Sprache?« Darya dachte an die Leine und das Halfter. »Willst du mir sagen, dass dieses Wesen Sprechen kann? Dass das nicht nur einfach irgendein Haustier ist?«

»Verehrte Professorin Lang, ganz gewiss kann Kallik sprechen! Sie hatte bisher keine Gelegenheit, mehr als nur die Sprache der Hymenoptera zu erlernen, weil sie bisher nur wenige andere kennen gelernt hat, und ihr Meister hat keinen Wert darauf gelegt, dass sie lernt. Aber sie befindet sich in einem beständigen Lernprozess. Wir haben mit weniger als fünfzig Worten angefangen, die wir beide kannten, und nun sind wir bei mehr als einhundert.« J’merlia bewegte sich auf die Tür zu, sein verletztes Bein zog er immer noch nach. »Bitte entschuldigen Sie mich, verehrte Professorin! Ich muss nun aufbrechen, um Atvar H’sial aufzusuchen. Es ist schade, dass Kallik diesen Ort hier verlassen wird. Aber vielleicht werden wir ja eine Gelegenheit finden, erneut miteinander zu sprechen und voneinander zu lernen, wenn sie und ihr Meister ankommen.«

»Ankommen? Wohin gehen sie denn?«

»Dorthin, wohin scheinbar alle gehen.« An der Türschwelle blieb J’merlia stehen. »Nach Erdstoß. Wohin auch sonst?«

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