20 Gezeitensturm minus eins

Als der Flugwagen schlingernd vom Boden abhob und dann quälend langsam darum kämpfte, an Höhe zu gewinnen, fühlte Darya Lang sich völlig nutzlos. Sie war überschüssige Fracht, ein nutzloses zusätzliches Gewicht, das weder dem Piloten noch dem Navigator vorne in der ersten Sitzreihe des Flugwagens helfen konnte. Sie war unfähig, etwas Sinnvolles zu tun, sie war unfähig, sich zu entspannen, und so schaute sie sich die anderen Passagiere erneut an.

Das war also die Gruppe, die entweder zusammen überleben oder zusammen den Tod finden würde — und das schon bald, bevor diese rotierende Hantel aus Erdstoß und Opal eine weitere Umdrehung abgeschlossen hätte.

Darya betrachtete ihre Schicksalsgenossen, während der Flugwagen dröhnend weiterflog. Sie machten einen deprimierten und einen deprimierenden Eindruck. Die Lage, in der sie sich befanden, schien die Zeit zurückgedreht zu haben, und nun sah Lang sie so, wie sie selbst vor Jahren gewirkt haben musste: bevor Erdstoß in ihr Leben getreten war.

Elena und Geni Carmel, die Wange an Wange dort saßen, waren kleine Mädchen, die sich verlaufen hatten. Unfähig, auf eigene Faust den Weg zu finden, der aus dem Wald herausführte, warteten sie darauf, gerettet zu werden; oder, was sehr viel wahrscheinlicher war, sie warteten auf das Monster, das sie jetzt bald holen käme. Vor ihnen war Hans Rebka konzentriert über die Instrumente gebeugt, ein kleiner, besorgter Junge, der ein Spiel spielen wollte, für das er noch zu klein war. Daneben saß Max Perry, versunken, verloren, in einem alten, traurigen Traum, den er mit niemand anderem teilen wollte.

Nur Julius Graves, der zu Perrys Rechten saß, passte nicht zu diesem Schema der zurückgedrehten Uhr. Wann immer das Ratsmitglied sich zum Heck des Flugwagens umdrehte, sah Darya, dass sein Gesicht niemals jung gewesen war. Tausende von Jahren des Elends standen in die Falten und in die ungleichmäßige Haut seines Gesichts geschrieben; die ganze Geschichte der Menschheit, düster, zornig und verzweifelt.

Verwirrt und bestürzt starrte sie ihn an. Das war nicht das legendäre Ratsmitglied der Allianz. Wo war die Freundlichkeit, der Optimismus, die sprühende, manische Energiegeladenheit?

Sie kannte die Antwort auf diese Frage: erstickt, ausgelöscht, einfach vor Erschöpfung.

Zum ersten Mal begriff Darya, wie sehr sich Ermüdung auf Entscheidungen auswirken konnte, die die gesamte Menschheit betrafen. Sie hatte bemerkt, wie nach und nach ihr eigenes Interesse daran, das Rätsel um Erdstoß und die Baumeister zu lösen, nachgelassen hatte, und sie hatte das der Tatsache zugeschrieben, dass sie sich auf das nackte Überleben hatte konzentrieren müssen. Doch jetzt schob sie die Schuld auf die enervierenden Gifte ›Erschöpfung‹ und ›Anspannung‹.

Der gleiche Energieverlust machte ihnen allen zu schaffen. Zu einem Zeitpunkt, da rasches Denken und zügiges Handeln den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen konnte, waren sie alle geistig und körperlich völlig ausgebrannt. Jeder Einzelne von ihnen — und sie selbst war gewiss keine Ausnahme — sah aus wie ein Zombie. Einige Sekunden lang mochten sie zu ihrer alten Form, ihrer Geistesgegenwart und Konzentration zurückkehren können, so wie es ihr im Augenblick des Starts ergangen war; doch sobald die Panik abgeebbt war, versanken sie alle wieder in Lethargie. Die Gesichter, die sie vor sich sah, waren, selbst wenn man den ganzen weißen Staub abgewaschen hätte, bleich und ausgezehrt.

Darya wusste nur zu genau, wie die anderen sich fühlten. Ihre eigenen Emotionen lagen wie auf Eis. Sie konnte kein Entsetzen mehr empfinden, keine Liebe, keinen Zorn. Das war die schlimmste aller Entwicklungen, diese neuartige Gleichgültigkeit dem Leben oder Sterben gegenüber. Es war ihr fast egal, was nun als Nächstes geschehen würde. Im Verlauf der letzten Tage hatte Erdstoß sie nicht mit all seiner Urgewalt zu Boden geschleudert; doch der Planet hatte sie ausgelaugt, ihr jegliche menschlichen Leidenschaften geraubt.

Selbst die beiden Nichtmenschen hatten ihren sonst üblichen Schwung verloren. Kallik hatte einen kleinen Computer hervorgeholt und war jetzt ganz in ihre eigenen Berechnungen versunken. Ohne Atvar H’sial wirkte J’merlia völlig verloren und verwirrt. Ständig wandte er den Kopf um, als suche er seine verlorene Meisterin, und rieb sich immer und immer wieder mit den Hand-Klauen über den hart gepanzerten Leib.

Perry, Graves und Rebka hatten sich gemeinsam in die vorderste Reihe gequetscht — gedacht war die Sitzreihe nur für zwei Personen. Die Zwillinge und J’merlia saßen hinter ihnen, wahrscheinlich bequemer als jeder andere an Bord, während Darya Lang und Kallik sich in die freie Fläche hinter den Sitzreihen gezwängt hatten, die eigentlich nur für Gepäckstücke gedacht war. Für das Hymenopter-Weibchen war es auch geräumig genug, nur hatte Kallik die Angewohnheit, sich reflexartig wie ein nasser Hund zu schütteln, um sich restlichen Staub aus dem kurzen schwarzen Fell zu entfernen. Sie brachte Darya ständig zum Niesen. Außerdem musste die bisher eigentlich Komfort gewöhnte Bewohnerin von Wachposten-Tor die ganze Zeit über den Kopf nach vorn geneigt halten, um nicht gegen das gerundete Dach des Flugwagens zu stoßen.

Das Schlimmsten von allem war, dass diejenigen, die weiter hinten saßen, im Frontfenster nur einen winzigen Ausschnitt des Himmels erkennen konnten. Jegliche Informationen darüber, wie sie vorankamen oder ob es irgendwelche Probleme gab, erhielten sie nur durch die Warnungen und die Kommentare derer, die weiter vorne saßen.

Und manchmal kamen die Warnungen auch zu spät.

»’tschuldigung!«, rief Perry, zwei Sekunden, nachdem der Wagen von einem gewaltigen Windstoß umhergewirbelt, zur Seite geneigt und fünfzig Meter weit in die Tiefe gerissen worden war. »Der war ganz übel!«

Darya Lang rieb sich den Hinterkopf und gab Perry recht. Sie war gegen die Hartplastikdecke des Frachtraums gekracht. Sie würde eine mächtige Beule bekommen — vorausgesetzt, sie lebte überhaupt lange genug.

Darya beugte sich vor und stützte den Kopf auf die Arme. Trotz des Lärms, der Gefahr, der Unsicherheit und der Übelkeit erregenden Unvorhersagbarkeit ihrer Bewegungsrichtung begannen ihre Gedanken ziellos umherzuwandern. Ihr bisheriges Leben als Archäo-Wissenschaftlerin auf Wachposten-Tor erschien ihr auf einmal wie ein Leben im Elfenbeinturm. Wie oft hatte sie, während sie den Lang-Katalog zusammengestellt hat, in aller Ruhe ganze Expeditionen abgeschrieben: ›Keine Überlebenden‹. Das war eine hübsche, saubere Formulierung, die keinerlei Erklärung erforderte, keinerlei Mitdenken. Das, was dabei eindeutig fehlte, das war die Tragik, die mit diesem Ereignis zusammenhing, und die unendliche, subjektiv empfundene Zeit, die es gedauert haben mochte, bis der Tod dann endlich gekommen war. Diese Formulierung ›Keine Überlebenden‹ ließ vermuten, dass der Tod schnell, sauber gekommen war, dass eine Gruppe so schnell und so gleichmütig ausgelöscht worden war wie eine Kerzenflamme. Es war sehr viel wahrscheinlicher, dass sich Dinge abgespielt hatten, wie Darya sie jetzt selbst erlebte: ein langsames Erlöschen jeglicher Hoffnung, während die Gruppe jede nur erdenkliche Chance zu ergreifen versuchte und bei jedem Versuch bemerken musste, dass nichts half.

Daryas Mut sank immer weiter. Der Tod kam nur selten schnell, sauber und schmerzlos, es sei denn, er käme zugleich auch überraschend. Meistens war er langsam, unerträglich schmerzhaft und entwürdigend.

Eine ruhige Stimme riss sie aus ihrer erschöpften Verzweiflung.

»Achtung dahinten!« Hans Rebka klang alles andere als besiegt und dem Untergang geweiht. »Wir sind zu tief, und wir sind zu langsam. Wenn wir so weitermachen, haben wir bald weder Energie noch Zeit. Wir müssen also über diese Wolkendecke kommen. Das heißt: nochmal festhalten! Jetzt kommen ein paar harte Minuten!«

Woran denn festhalten? Doch Rebkas Worte und sein ungebrochen forscher Tonfall verrieten Darya, dass noch nicht alle aufgegeben hatten.

Sie schämte sich vor sich selbst und versuchte sich noch tiefer in das Gepäckabteil zu zwängen, als der Wagen sich rüttelnd und schüttelnd seinen Weg durch die unruhige Unterseite der Wolkendecke zu bahnen suchte. Das von Strukturen durchzogene Leuchten, das durch die Frontscheibe fiel, wurde durch eintöniges, schlammiges Licht ersetzt. Sofort setzten noch heftigere Turbulenzen ein, sie peitschten den Wagen von allen Richtungen gleichzeitig, und schleuderten das überladene Fahrzeug mühelos und sorglos durch den Himmel, als wäre es aus Papier. Was auch immer Perry und Rebka an den Instrumenten versuchten, der Wagen war einfach zu schwer, als dass er sich noch gut hätte manövrieren lassen.

Darya versuchte, die nächste Bewegung, die der Wagen machen würde, abzuschätzen, und scheiterte kläglich. Sie wusste nicht, ob ihr Gefährt noch steigen, ob es gerade in den Sinkflug ging oder ob es gleich abstürzen würde. Von allen Seiten schienen Zubehörteile der Decke auf sie einzuprasseln oder einzuschlagen. Gerade, als sie sich sicher war, der nächste Treffer werde sie gewiss bewusstlos schlagen, erfassten vier mehrgliedrige Arme sie um die Taille. Sie streckte die Arme aus, spürte einen weichen, gedrungenen Leib und klammerte sich verzweifelt daran fest, während der Wagen hin und her geschleudert wurde, und wie von Krämpfen geschüttelt durch die Wolken raste.

Kallik schob sie vorwärts, drängte sie gegen die Wandung. Darya vergrub ihr Gesicht in dem samtweichen Fell, stemmte die Beine nach rechts und erwiderte den Druck. Gegeneinander und gegen die Wandung des Fliegers gestützt, fanden Kallik und sie gemeinsam eine neue, stabilere Position. Darya klammerte sich noch enger an den Hymenopter und fragte sich, ob dieser unruhige Flug wohl jemals ein Ende finden würde.

»Wir sind fast da. Schützt eure Augen!« Rebkas Stimme erklang über das Intercom der Kabine, nur einen kurzen Augenblick, bevor die ruckartigen Sturzflüge und das plötzliche Wiederhochziehen, das einem den Magen umdrehen konnte, endeten. Als der Flug sich wieder beruhigt hatte, durchflutete gleißendes Licht die Kabine; das diffuse, rotbraune Glimmen war verschwunden.

Darya hörte gluckernde Schnaublaute zu ihrer Rechten. J’merlia wand sich in seinem Sitz so, dass er in das Heck des Wagens blicken konnte.

»Kallik bittet ergebenst um Verzeihung«, sagte er, »für das, was sie getan hat. Sie versichert Ihnen, dass sie unter normalen Umständen niemals wagen würde, den Leib einer überlegenen Person zu berühren. Und sie fragt sich, ob Sie sie wohl jetzt freundlicherweise loslassen würden.«

Darya bemerkte, dass sie sich immer noch an dem weichen, schwarzen Fell festklammerte und den Hymenopter mit ihrer Umarmung zu erdrücken drohte. Sofort ließ sie los, es war ihr sehr peinlich. Das Hymenopter-Weibchen war viel zu taktvoll, Daryas Verhalten zu kommentieren; doch da war eindeutig blanke Panik in Kalliks Blick.

»Sag Kallik, es war gut, dass sie mich festgehalten hat. Das, was sie getan hat, hat sehr geholfen, und eine Entschuldigung ist nicht erforderlich.« Und wenn ich eine überlegene Person bin, fügte sie in Gedanken hinzu, dann möchte ich gar nicht wissen, wie sich eine unterlegene Person fühlt.

Ob nun peinlich berührt oder nicht, Darya begann sich ein wenig besser zu fühlen. Der Flug war jetzt deutlich gleichmäßiger, während das Heulen der vorbeistreifenden Luft vermuten ließ, dass sie sich jetzt auch sehr viel schneller bewegten. Selbst Daryas Schmerzen und ihre Müdigkeit hatten ein wenig nachgelassen.

»Wir haben unsere Fluggeschwindigkeit nahezu verdoppelt, und hier oben sollte es jetzt eine ruhige Fahrt sein.« So wie Rebkas Stimme über das Intercom klang, schien Daryas Stimmungsumschwung durchaus berechtigt zu sein.

»Aber es war ziemlich hart, durch diese Wolkendecke zu kommen«, fuhr er dann fort. »Und Commander Perry hat unseren Energieverbrauch neu berechnet. Angesichts der Strecke, die wir noch zurücklegen müssen, steht es jetzt auf Messers Schneide. Wir müssen Energie sparen. Ich muss ein wenig abbremsen und die Klimaanlage deaktivieren. Dadurch wird es hier vorne ziemlich unangenehm werden. Machen Sie sich bereit, Ihre Sessel herumzudrehen, und sorgen Sie dafür, dass Sie genug trinken!«

Darya Lang war gar nicht auf die Idee gekommen, die Tatsache, dass sie nur einen sehr begrenzten Ausschnitt des Himmels sehen konnte, könne für sie in irgendeiner Weise von Vorteil sein. Doch als die Innentemperatur des Wagens zu steigen begann, war sie sehr froh darüber, im abgeschirmten Heck des Wagens zu sitzen. Die Leute, die vor ihr saßen, hatten mit der gleichen stickigen Luft zu kämpfen, waren dabei aber auch noch dem direkten, unerträglich heißen Sonnenlicht ausgesetzt.

Was die, die vorne saßen, tatsächlich zu durchleiden hatten, begriff sie erst, als es Zeit wurde, ›die Reise nach Jerusalem‹ zu spielen und wechselseitig alle Plätze im beengten Fahrgastraum zu besetzen. Allein schon der Platzwechsel war eine Aufgabe, die eigentlich nur Schlangenmenschen hätten bewältigen können. Als es schließlich gelungen war, hatte Darya einen der vorderen Sitze ergattert, gleich neben dem Fenster. Zum eisten Mal seit dem Start konnte sie mehr sehen als nur einen winzigen Ausschnitt dessen, was rings um den Wagen geschah.

Sie flogen jetzt ein wenig oberhalb der Wolkendecke jagten über vereinzelte Wolkenkämme hinweg, die das Licht einfingen und brachen. Auf diese Weise entstand der Eindruck, sie segelten über die hohen Wellen einer goldenen und karmesinroten See. Mandel und Amarant lagen beide fast schnurgerade voraus, sie brannten auf den Wagen herab, mit einer Urgewalt, die Darya auf den durch die Wolken geschützten Oberflächen von Opal und Erdstoß noch nie erlebt hatte. Die beiden Sterne waren jetzt zu riesenhaften, gleißenden Kugeln angewachsen, die vor einem fast schwarzen Himmel standen. Selbst mit der maximalen Photoabschirmung des Wagens waren die roten und gelben Lichtspeere, die diese stellaren Partner von sich schleuderten, zu grell, als das man sie hätte direkt anblicken können.

In Strömen lief Darya der Schweiß über das Gesicht und durchfeuchtete ihre gesamte Kleidung. Sie konnte zusehen, wie Mandel und Amarant ihre Positionen am Himmel veränderten. Alles ging hier schneller und schneller. Darya spürte regelrecht das gehetzte Tempo, mit dem sich die Ereignisse überschlugen, als die Zwillingssonnen und das Dobelle-System dem Punkt ihrer größten Annäherung aneinander entgegeneilten.

Und die Insassen des Flugwagens waren nicht die einzigen Teilnehmer an diesem Spiel.

Mit zusammengekniffenen Augen schaute Darya zur Seite. Dort war Gargantua, ein blasses Abbild von Mandel und seinem Zwergsternbegleiter. Doch auch das würde sich bald ändern. Schon bald würde Gargantua das größte Objekt am Himmel von Erdstoß sein, würde näher kommen als irgendetwas sonst in diesem System und mit seinen alles zerstörenden Gezeitenkräften auch Mandel und Amarant Konkurrenz machen.

Darya blickte in Richtung des Planeten selbst in die Tiefe hinab und fragte sich, was wohl unter dieser wallenden Wolkendecke geschah. Schon bald würden sie diese Decke durchstoßen müssen; doch vielleicht war die Oberfläche, die darunter verborgen war, schon längst zu sehr geborsten, als dass man dort noch hätte landen können. Oder vielleicht war das Schiff, das sie suchten, bereits verschwunden, verschluckt von einer gewaltigen Erdspalte, die sich gerade erst aufgetan hatte.

Darya wandte den Blick vom Fenster ab und schloss die schmerzenden Augen. Das grelle Gleißen dort draußen war einfach zu viel. Sie konnte die Hitze und die alles verbrennende Strahlung keine Sekunde länger aushalten.

Bloß hatte sie gar keine andere Wahl.

Sie blickte nach links. Dort saß Kallik, dicht an den Boden gekauert. Vor ihr, im Sitz des Piloten, hielt Max Perry sich ein kleines Quadrat aus halb durchsichtigem Plastik vor die Augen, um sein Gesicht wenigstens etwas vor dieser Lichtflut zu schützen.

»Wie lange noch?« Die Frage war nur noch ein mattes Krächzen.

Darya erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder. Sie wusste auch nicht genau, was zu erfahren sie mit ihrer Frage eigentlich beabsichtigt hatte. Meinte sie: Wie lange dauert es noch, bis sie alle wieder die Plätze tauschen konnten? Oder bis sie ihr Ziel erreicht haben würden? Oder bis sie alle tot waren?

Es war egal. Perry antwortete ihr nicht. Er reichte ihr lediglich eine Flasche mit lauwarmem Wasser. Sie nahm einen kleinen Schluck, gerade genug, um den Mund umzuspülen, dann half sie Kallik dabei, es ihr gleichzutun. Und dann gab es nichts mehr zu tun, außer dort zu sitzen und zu schwitzen und das Lebendigsein zu ertragen, bis endlich als willkommene Abwechselung ein neuerlicher Wechsel der Sitzplätze anstand.

Darya verlor jegliches Zeitgefühl. Sie wusste gerade noch, dass sie mindestens dreimal in dem Folterstuhl in der vorderen Reihe gesessen hatte. Es fühlte sich an, als wären sie schon seit Wochen an Bord des Flugwagens, als Julius Graves sie schließlich schüttelte und sie warnte: »Machen Sie sich auf ein paar Turbulenzen gefasst! Wir gehen jetzt durch die Wolkendecke!«

»Sind wir da?«, flüsterte sie. »Dann nichts wie runter!«

Sie konnte es kaum noch erwarten. Was auch immer als Nächstes geschehen mochte, sie würde auf jeden Fall dieser Brandfolter der zwei Sonnen entkommen. Den Rest ihres Lebens würde sie davon Albträume haben.

»Nein. Noch nicht da.« Graves klang genauso, wie sie sich fühlte. Er tupfte sich den Schweiß von seinem kahlen Schädel. »Uns geht die Energie aus.«

Das weckte wirklich ihre Aufmerksamkeit. »Wo sind wir denn?«

Doch er hatte sich bereits abgewandt. Es war Elena Carmel, in ihrem Sitz hinter ihr, die sich nun vorbeugte und ihr die Antwort gab. »Wenn die Instrumente richtig sind, dann sind wir sehr nah dran. Fast bei unserem Schiff.«

»Wie nah?«

»Zehn Kilometer. Vielleicht sogar noch weniger. Sie sagen, das hängt alles davon ab, wie viel Energie noch übrig ist, um in den Luftkissen-Modus zu gehen.«

Darya schwieg. Zehn Kilometer, fünf Kilometer, was machte das schon für einen Unterschied? Sie konnte keinen einzigen Kilometer mehr gehen, selbst wenn ihr Leben davon abhinge.

Doch dann erwachte tief in ihr überraschenderweise eine Stimme und sagte: Vielleicht nur, wenn dein Leben davon abhängt! Wenn die junge, völlig verängstige Elena Carmel noch irgendwoher Kraftreserven nehmen kann, warum dann nicht auch du?

Bevor sie das noch mit sich selbst ausdiskutieren konnte, brach der Flugwagen auch schon durch die Wolkendecke. Und innerhalb von Sekunden war kein Raum mehr, um sich den Luxus einer innerlich geführten Debatte zu leisten.

Hans Rebka dachte, er würde den allerletzten Rest an Energie, den der Flugwagen noch hatte, irgendwann später noch benötigen, und war nicht mehr bereit, auch nur das geringste bisschen Energie darauf zu verschwenden, den weiteren Flug in irgendeiner Weise zu dämpfen. Bei seinem rasend schnellen Sinkflug wurde der Wagen umhergeschleudert wie ein schwimmender Korken auf hoher See — bei Sturm. Doch es dauerte nicht lange. Nach weniger als einer Minute durchstießen sie die Wolkendecke.

Alle reckte die Hälse und blickten nach vorne. Was auch immer sie dort unten vorfinden würden, erneut aufsteigen konnten sie nicht mehr.

War das Raumschiff noch da? Gab es darum herum noch eine massive Oberfläche, auf der sie würden landen können? Oder waren sie den sengenden Strahlen von Mandel und Amarant entkommen, nur um nun in der geschmolzenen Lava von Erdstoß zu enden?

Darya starrte geradeaus, unfähig all diese Fragen zu beantworten. Dichter Rauch bedeckte den Boden vor ihnen. Sie sollten sich jetzt eigentlich oberhalb der Abhänge der Pentacline-Senke befinden, doch es konnte genauso gut auch jeder beliebige andere Punkt auf diesem Planeten unter ihnen sein.

»Naja«, meinte Hans Rebka ruhig, als rede er mehr mit sich selbst, »das Gute ist, dass wir keine Entscheidung mehr treffen müssen. Schauen Sie sich die Energieanzeige an, Max! Die steht schon auf Rot. Wir gehen jetzt runter, ob uns das nun passt oder nicht.« Er hob die Stimme. »Atemmasken aufsetzen!«

Dann schwebten sie in blaugrauen Rauch hinein, der wild an ihrem Gefährt zerrte, angetrieben von einem Wind, der so stark war, dass Rebka sehr schnell noch etwas hinzufügte. »Wir haben eine negative Grundgeschwindigkeit.

Ich gehe runter, so schnell ich kann, damit wir nicht wieder bis zur ›Nabelschnur‹ zurückgeweht werden!«

»Wo ist das Schiff?« Das war Julius Graves, der hinter Darya in dem beengten Gepäckabteil kauerte.

»Zwei Kilometer vor uns. Wir können es nicht sehen, aber ich glaube, dass es noch da ist. Ich fange hier eine anomale Radarreflexion auf. Wir schaffen es nicht bis zu dem Felsplateau, auf dem das Schiff gestanden hat, also werden wir auf dem Hang zum Tal hin landen müssen. Machen Sie sich bereit! Höhe zwanzig Meter … fünfzehn … zehn. Bereit zur Landung!«

Plötzlich erstarb der böige Wind. Der Rauch rings um sie wurde sichtlich dünner. Auf der einen Seite des Wagens konnte Darya den Boden sehen. Er war kahl und reglos, doch wie der Atem eines Drachen stieg Dampf aus Dutzenden kleiner Risse in der Oberfläche des Planeten auf, die über den gesamten Hang, der zur Pentacline-Senke hin abfiel, verstreut waren. Die dichte Vegetation, die Darya in der Senke eigentlich erwartet hatte, war fort. Hier gab es nichts außer grauer Asche und vereinzelten, verdorrten baumstammartigen Stummeln.

»Eineinhalb Kilometer.« Rebkas Stimme klang sehr ruhig und dabei so, als käme sie aus weiter Ferne. »Fünf Meter auf dem Altimeter. Jetzt geht uns die Energie endgültig aus. Sieht so aus, als müssten wir einen kleinen Spaziergang machen. Drei Meter … zwo … eins. Komm schon, Süße! Zeig uns, was du draufhast!«

Bis zum Gezeitensturm waren es nur noch drei Stunden. Der Flugwagen setzte auf dem dampfenden Hang zur Pentacline-Senke auf, so sanft und lautlos wie eine landende Motte.

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