23

Rebka erwachte wie ein unruhiges Tier, zuckte hoch, sofort hellwach, nachdem er tief und fest geschlafen hatte. In diesem ersten Augenblick bestand seine gesamte Gefühlswelt aus nichts als nackter Panik.

Er hatte den verhängnisvollen Fehler gemacht, sich eine kurze Unkonzentriertheit zu erlauben. Wer flog jetzt das Schiff?

Der Einzige, der von seinen Fähigkeiten halbwegs dazu in der Lage gewesen wäre, war Max Perry, und der war zu schwer verletzt, um die Steuerung zu übernehmen. Sie hätten geradewegs in Opal hineinkrachen, wieder zur Oberfläche von Erdstoß zurückfallen oder für alle Zeiten im Tiefenraum verloren gehen können!

Dann jedoch, noch bevor er die Augen geöffnet hatte, war er sich sicher, dass alles in Ordnung sein musste.

Niemand flog das Schiff. Das war auch nicht notwendig. Er befand sich nicht an Bord der Sommer-Traumschiff — das war gar nicht möglich. Denn er befand sich nicht im freien Fall. Und die Kräfte, die sich auf ihn auswirkten, waren nicht die wilden, turbulenten Kräfte, wie er sie vom Eintritt in eine Atmosphäre her kannte. Stattdessen spürte er einen stetigen Zug nach ›unten‹, diese Beschleunigung von nur dem Bruchteil eines G, die ihm verriet, dass er sich in einer Kapsel entlang ›Nabelschnur‹ bewegte.

Er öffnete die Augen und erinnerte sich an die letzten Stunden ihres Fluges. In Schlangenlinien hatten sie auf ›Mittelstation‹ zugehalten, betrunkene Seefahrer, die erbärmlichste Ansammlung von Menschen und Nichtmenschen, die das Dobelle-System jemals erlebt hatte. Er erinnerte sich daran, wie er sich die Lippen und die Fingerspitzen zerbissen hatte, bis das Blut daraus hervorgequollen war, wie er darum gekämpft hatte, bloß nicht einzuschlafen, wie er darum gekämpft hatte, die Augen offen zu halten. Er war Perrys halb unverständlichen Navigationsanweisungen gefolgt, so gut er nur konnte, während sie fünf Stunden lang immer und immer wieder Wendemanöver um ›Nabelschnur‹ herum gefahren waren. Mit Hilfe der winzigen Regulierungsdüsen für die Fluglage — das Einzige, was an Bord der Traumschiff noch Energie hatte — war es Rebka schließlich gelungen, sie mit letzter Kraft im größten Hangar der Station andocken zu lassen.

Er erinnerte sich an den Anflug — eine Schande für jeden Piloten. Es hatte fünfmal so lang gedauert, wie es eigentlich hätte dauern dürfen. Und als die letzte Andockmeldung an Bord eingegangen war, hatte Rebka sich im Pilotensitz zurückgelehnt und die Augen geschlossen — um sich einen Moment auszuruhen.

Und dann?

Dann hörten seine Erinnerungen einfach auf. Er blickte sich um.

Er musste eingeschlafen sein, gleich nachdem er die Meldung erhalten hatte. Irgendjemand hatte ihn in die ›Mittelstation‹ getragen und ihn dann zur Betriebsebene einer ›Nabelschnur‹-Kapsel gebracht. Dort hatte man ihm ein Medi-Korsett angelegt und ihn dann dort gelassen.

Er war nicht allein. Max Perry, die Unterarme mit schützendem gelbem Gel eingeschmiert und eingegipst, trieb an einer leichten Verankerung nur wenige Meter neben ihm. Er war bewusstlos. Darya Lang schwebte hinter ihm, ihr langes, braunes Haar war so zurückgebunden worden, dass es ihr nicht ins Gesicht hing. Unterhalb des Knies hatte man ihre Kleidung entfernt, Plasto-Fleisch bedeckte ihren verbrannten Fuß und ihren Knöchel. Sie atmete nur flach. Im Abstand von wenigen Sekunden murmelte sie irgendetwas vor sich hin, als würde sie jeden Augenblick aufwachen. Ihr Gesicht, so entspannt und frei von jedem Gedanken, glich dem einer Zwölfjährigen. Neben Darya schwebte Geni Carmel. So wie sie aussah, stand auch sie unter Medikamenteneinfluss, auch wenn bei ihr keine Verletzungen erkennbar waren.

Rebka warf einen Blick auf seine Armbanduhr: Der Gezeitensturm hatte vor dreiundzwanzig Stunden stattgefunden. Das ganze Feuerwerk im System von Erdstoß und Opal musste längst der Vergangenheit angehören. Und siebzehn Stunden von diesen dreiundzwanzig waren völlig an ihm vorbeigegangen.

Er rieb sich die Augen und stellte fest, dass sein Gesicht nicht mehr von Asche und Schmutz bedeckt war. Irgendjemand hatte ihn nicht nur in die Kapsel getragen, sondern ihn auch gewaschen und seine Kleidung gewechselt, bevor er hatte schlafen dürfen. Wer hatte das getan? Und wer hatte Perry und Lang die erforderliche medizinische Versorgung angedeihen lassen?

Damit kam er wieder zu seiner ersten Frage zurück: Wenn die vier alle bewusstlos waren, wer kümmerte sich dann ums Geschäft?

Rebka hatte Schwierigkeiten, mit den Beinen auf den Boden zu kommen, und musste dann feststellen, dass er das Korsett, das ihn festhielt, nicht lösen konnte. Selbst nach siebzehn Stunden der Ruhe war er immer noch müde genug, dass seine Finger sich nur langsam, schwerfällig und ungeschickt bewegten. Darya Lang sah vielleicht aus wie ein Teenager, er selbst aber fühlte sich eher wie ein arg mitgenommener Greis.

Endlich hatte Rebka sich befreit und war nun in der Lage, die behelfsmäßige Krankenstation zu verlassen. Kurz zog er in Erwägung, Perry und Lang zu wecken — Darya murmelte immer noch vor sich hin, als protestiere sie gegen irgendetwas —, doch dann entschied er sich dagegen. Es war davon auszugehen, dass man die beiden unter Anästhetika gesetzt hatte, bevor man ihre Wunden behandelt und das synthetische Fleisch aufgebracht hatte.

Langsam stieg Rebka die Treppenstufen hinauf, die zur Steuerungs- und Beobachtungskabine führten. Durch das transparente Dach der oberen Kabine war auf halber Distanz ›Mittelstation‹ zu erkennen. Hoch darüber, und dadurch wurde bestätigt, dass die Kapsel zu Opal herabsank, konnte Rebka in der Ferne Erdstoß erkennen, von dunklen Wolken überzogen und düster.

Die Wände der Beobachtungskabine, zehn Meter hoch, waren mit Display-Einheiten getäfelt. Graves, der an einer Steuerkonsole saß, flankiert von J’merlia und Kallik, betrachtete in nachdenklichem Schweigen sein Display. Die Reihe der Displays, auf die ständig neue Bilder übertragen wurden, verrieten, dass Graves sich die Oberfläche eines Planeten anschaute — doch es war Opal, nicht Erdstoß.

Eine Zeit lang schaute Rebka schweigend zu, ehe er die anderen auf seine Anwesenheit aufmerksam machte. Sie alle hatten sich in der letzten Zeit so sehr auf Erdstoß konzentriert, dass es ihnen leicht gefallen war zu vergessen, dass auch Opal den stärksten Gezeitensturm in der Geschichte der Menschheit durchgemacht hatte. Radaraufnahmen aus der Luft und aus dem Orbit, die sämtliche Wolkenschichten hatten durchdringen können, zeigten breite Streifen nackten Meeresbodens, freigelegt in Jahrtausendfluten. Auf dem schlammigen Meeresgrund waren immer wieder gewaltige grüne Hügel zu erkennen: tote Gießer, groß wie ganze Berge, waren gestrandet und unter ihrem eigenen Gewicht zusammengebrochen.

Andere Videoaufnahmen zeigte, wie die Schlingen von Opal sich auflösten, als gegenläufige Wellenfronten, meilenhoch, angetrieben von den Gezeitenkräften, an der Meeresoberfläche zerrten und sie in alle Richtungen verdrehten.

Die emotionslose Stimme eines Kommentators meldete die Verluste: Die Hälfte der Bevölkerung des Planeten war umgekommen, die meisten hatten den Tod in den letzten vierundzwanzig Stunden gefunden; ein Fünftel der Bevölkerung galt noch als vermisst. Doch noch bevor die abschließenden Berichte überhaupt fertig gestellt waren, hatte man bereits mit dem Wiederaufbau begonnen. Jeder Mensch, der sich auf Opal befand, ging nach einem stufenweise fortschreitenden Arbeitsplan vor.

Die Übertragungen zeigten Rebka, dass die Menschen von Opal alle Hände voll zu tun hatten. Wenn seine Gruppe zur Landung ansetzte, konnten sie wohl nicht damit rechnen, dass man ihnen zu Hilfe käme.

Rebka ließ sich ein Stück weit nach vorne treiben und tippte Graves sanft auf die Schulter. Der Allianzrat zuckte zusammen, wirbelte in seinem Stuhl herum und grinste ihn an.

»Aha! Aus den Traumlanden zurückgekehrt! Wie Sie sehen, Captain …« Mit einer ausladenden Handbewegung deutete er aufwärts, dann zu den zahlreichen Bildschirmen. »Unsere Entscheidung, den Gezeitensturm auf Erdstoß mitzuerleben und nicht auf Opal hat sich als weitaus klüger denn gedacht herausgestellt.«

»Wären wir während des Gezeitensturms auf der Oberfläche gewesen, Allianzrat, wären wir jetzt Asche. Wir hatten Glück!«

»Sogar mehr Glück, als Sie vielleicht denken. Und das schon lange vor dem eigentlichen Gezeitensturm.« Graves deutete auf Kallik, die mit einem Vorderbein mehrere Displays gleichzeitig bediente und mit einem anderer Zahlen in einen Taschencomputer eingab. »Laut unserer Hymenopter-Freundin hier hat es Opal schlimmer erwischt als Erdstoß. In jeder freien Minute, seit wir die Oberfläche von Erdstoß hinter uns gelassen haben, hat Kallik Energiebilanz-Berechnungen durchgeführt. Sie stimmt mit Commander Perry überein — die Oberfläche hätte während der Großen Konjunktion deutlich aktiver sein müssen, als das der Fall war. Die ganze Zeit über, während wir uns dort aufgehalten haben, wurde nicht die gesamte Energie freigesetzt. Stattdessen war dort irgendein gerichteter Energiespeicherungs- und Freisetzungsmechanismus für die Gezeitenkräfte am Werk. Ohne den hätten Menschen auf dem Planeten schon lange, bevor wir diesen verlassen hatten, nicht mehr überleben können. Aber mit der Hilfe dieses Mechanismus wurde ein Großteil der Energie für irgendeinen anderen Zweck genutzt.«

»Allianzrat, Erdstoß war auch so schon schlimm genug. Elena Carmel ist tot. Atvar H’sial und Louis Nenda vielleicht auch.«

»Sind sie tatsächlich.«

»Freut mich zu hören. Ich weiß nicht, ob Sie das eigentlich mitbekommen haben: Aber die beiden waren während des Gezeitensturms im Orbit und haben versucht, uns vom Himmel zu putzen. Sie haben nur bekommen, was sie verdient haben. Aber warum sind Sie, Allianzrat, sich so sicher, dass die beiden tot sind?«

»Darya Lang hat gesehen, wie Nendas Schiff in Richtung Gargantua gezogen wurde, und das mit einer Beschleunigung, die kein Mensch und kein Cecropianer hätte überleben können. Die müssen dabei völlig zerquetscht worden sein.«

»Nendas Schiff verfügte über einen ausgewachsenen Interstellarantrieb. Kein lokales Energiefeld hätte ein solches Schiff festhalten können!«

»Wenn Sie diesen Punkt diskutieren möchten, Captain, dann bitte mit Dana Lang! Sie hat beobachtet, was passiert ist; für mich gilt das nicht.«

»Sie schläft.«

»Immer noch? Sie ist ohnmächtig geworden, als J’merlia angefangen hatte, sich wieder um ihren Fuß zu kümmern, aber ich bin doch überrascht, dass sie noch nicht wieder aufgewacht ist.« Verärgert drehte Graves sich um. »Was denn? Was willst du denn von mir?«

Zögerlich hatte J’merlia an seinem Ärmel gezupft, während Kallik neben ihm aufgeregt auf und ab sprang und hohe Pfeiflaute ausstieß.

»Bei allem Respekt, Allianzrat Graves.« J’merlia bewegte sich ein wenig zur Seite und kniete vor ihm nieder. »Aber Kallik und ich vermochten nicht zu überhören, was Sie gerade zu Captain Rebka sagten — dass Meister Nenda und Atvar H’sial von Erdstoß entkommen sind, dann aber nach Gargantua geschleudert und durch die Beschleunigungskräfte getötet wurden.«

»In Richtung Gargantua, mein lo’tfianischer Freund. Vielleicht nicht nach Gargantua selbst. Was das angeht, war Professorin Lang äußerst nachdrücklich.«

»Mit der Bitte um Verzeihung, ich hätte sagen sollen in Richtung Gargantua. Verehrter Allianzrat, wäre es möglich, dass Kallik und meine bescheidene Wenigkeit selbst sich einige Minuten vom Dienst befreiten?«

»Ach, nun geht schon! Und nicht so kriecherisch! Ihr wisst doch, wie sehr ich das verabscheue!« Mit einer Handbewegung entließ Graves die beiden. Während die beiden Nichtmenschen zur unteren Kabine der Kapsel gingen, wandte Graves sich wieder Rebka zu.

»Also, Captain, falls Sie nicht gerade wieder zusammenbrechen und in Tiefschlaf fallen wollen, schlage ich vor, dass wir ebenfalls nach unten gehen und nach Commander Perry und Professorin Lang schauen. Wir haben reichlich Zeit. ›Nabelschnur‹ wird uns den Zugang zu Opal erst in einigen Stunden ermöglichen. Und unsere offiziellen Aufgaben im Dobelle-System sind jetzt erledigt.«

»Ihre vielleicht. Für meine gilt das nicht.«

»Das wird sie aber sein, Captain, schon sehr bald.« Der grinsende Totenschädel war so aufreizend beiläufig und selbstsicher wie immer.

»Sie wissen doch nicht einmal, wie mein Auftrag hier in diesem System eigentlich lautet!«

»Oh, das weiß ich sehr wohl! Sie wurden hierher geschickt, um herauszufinden, was mit Commander Perry los ist. Sie sollten nachforschen, was ihn dazu gebracht hat, einen Posten ohne jede Aufstiegschance im Dobelle-System zu behalten — und ihn dann davon kurieren.«

Rebka sank in einen Sessel vor dem Steuerpult. »Wie zum Teufel haben Sie das herausgefunden?« Seine Stimme verriet mehr Verwirrung als Verärgerung.

»Mit Hilfe der offensichtlichsten aller Quellen — Commander Perry. Er hat seine eigenen Freunde und seine eigenen Informationsquellen zu Hause im Hauptquartier des Phemus-Kreises. Er hat herausgefunden, warum Sie hierher geschickt worden sind.«

»Dann sollte er auch wissen, dass ich niemals herausgefunden habe, was ich hätte herausfinden sollen. Ich habe Ihnen ja gesagt, meine Aufgabe hier ist noch nicht erledigt.«

»Das ist nicht wahr. Ihre offizielle Aufgabe ist so gut wie vorbei, und schon bald wird sich auch alles andere erledigt haben. Wissen Sie, Captain, ich weiß, was vor sieben Jahren mit Max Perry geschehen ist. Ich habe es vermutet, als wir Erdstoß noch nicht einmal erreicht hatten, und ich habe mir die Bestätigung geholt, als ich den Commander unter Einfluss von Sedativa befragt habe. Dazu brauchte ich nur die richtigen Fragen zu stellen. Und ich weiß auch, was jetzt zu tun ist. Vertrauen Sie mir, und hören Sie zu!«

Julius Graves beugte seinen langen Oberkörper über einen Monitor, zog eine Daten-Einheit, so groß wie ein Zuckerwürfel, aus der Tasche und schob diese in die Maschine. »Das ist selbstverständlich eine reine Audioaufnahme. Aber Sie werden die Stimme wiedererkennen, auch wenn sie deutlich jünger klingt. Ich habe seine Erinnerungen sieben Jahre in die Vergangenheit geschickt. Ich werde Ihnen nur einen Ausschnitt vorspielen. Es ist niemandem damit gedient, privates Leid zu einem öffentlichen Ereignis zu machen.«

Amy benahm sich immer noch albern und ausgelassen, trotz der Hitze. Sie hat gelacht, während sie vor mir davonlief, zurück zum Wagen, mit dem wir zu ›Nabelschnur‹ zurückkehren wollten. Er war nur ein paar Hundert Meter weit entfernt, aber ich wurde langsam müde.

»He, mach mal langsam! Ich muss schließlich die ganze Ausrüstung tragen!«

Sie wirbelte herum und neckte mich. »Ach, komm schon, Max! Du musst endlich mal lernen, auch ein bisschen Spaß zu haben! Du brauchst doch das ganze Zeug gar nicht. Lass es einfach hier merkt doch wirklich keiner, wenn das weg ist!«

Sie brachte mich zum Lächeln, trotz des immer lauter werdenden Tosens um uns herum und trotz des Schweißes, der mir am ganzen Körper herunterlief. Auf Erdstoß war es wirklich heiß.

»Das kann ich nicht machen, Amy — das ist öffentliches Eigentum! Das muss ich alles nachweisen! Warte auf mich!«

Aber sie hat nur gelacht. Und ist einfach weitergetänzelt — auf diese seltsam flirrende Oberfläche, diesen zerbrechlichen, schimmernden Boden, wie es ihn nur während des Gezeitensturms gibt …

… bevor ich sie erreichen konnte, war sie fort. Einfach so, im Bruchteil einer Sekunde. Einfach von Erdstoß verschluckt. Alles, was mir blieb, was ich mit mir nehmen konnte, war der Schmerz …

»Die Aufnahme ist noch länger, aber der Rest führt nicht weiter.« Graves hielt die Aufzeichnung an. »Nichts, was Sie sich nicht selbst denken könnten, und ein paar Dinge, die Sie nicht hören sollten. Amy hat in geschmolzener Lava den Tod gefunden, nicht in siedendem Schlamm. Max Perry hat, als er mit uns in der Pentacline-Senke unterwegs war, wie damals dieses Flirren überhitzter Luft gesehen, — aber erst zu spät reagiert, um Elena Carmel noch retten zu können.«

Hans Rebka zuckte mit den Schultern. »Selbst wenn Sie jetzt wissen, was Max Perry dazu gebracht hat, sich so in sich selbst zurückzuziehen, bleibt mir immer noch der schwierigste Teil meiner Aufgabe. Ich soll ihn schließlich wieder zu sich bringen, kurieren, Sie erinnern sich, und wie ich das anstellen soll, weiß ich wirklich nicht!«

Rebka war sich ganz sicher, dass dieses Gefühl eigenen Scheiterns und der Unfähigkeit vorbeiginge, nicht mehr war als eine Nebenwirkung, die Erschöpfung nach Tagen pausenloser Anspannung nach sich zog. Doch das machte dieses Gefühl keinen Deut leichter zu ertragen.

Er starrte zu einem der Displays an der Wand hinüber, auf dem eine Schlinge zu erkennen war, die kopfüber auf dem Wasser trieb, völlig zerschmettert von der Wucht des aufgewühlten Ozeans. Er konnte nichts anderes sehen als schwarzen, glitschigen Schlamm, aus dem völlig ungeordnet verschlungene Wurzelstücke emporragten. Er fragte sich, ob irgendjemand überlebt hatte, als diese Schlinge gekentert war.

»Wie?«, fuhr er dann fort. »Wie soll ich jemanden aus einer Depression herausholen, die seit sieben Jahren andauert? Von so etwas habe ich keine Ahnung.«

»Natürlich nicht. Das ist mein Fachgebiet, nicht das Ihre.« Abrupt drehte Graves sich um und ging auf die Treppe zu. »Kommen Sie!«, forderte er Rebka über die Schulter hinweg auf. »Es wird Zeit nachzuschauen, was unter Deck passiert. Ich denke, diese verflixten Nichtmenschen planen eine Meuterei, aber das werden wir vorerst ignorieren. Im Augenblick müssen wir mit Max Perry reden.«

Drehte Graves gerade wieder durch? Rebka seufzte. Ach, waren das noch Zeiten, als er durch die Wolkendecke von Erdstoß gebrochen war und sich gefragt hatte, ob sie noch eine weitere Turbulenz überleben würden! Dichtauf folgte er dem anderen Mann, die Treppe hinunter zur zweiten Ebene der Kapsel.

J’merlia und Kallik waren nirgends zu sehen.

»Ich hab’s Ihnen ja gesagt«, erklärte Graves. »Die sind im Frachtraum. Die beiden führen irgendetwas im Schilde, das ist so klar wie die nächste Steuererhöhung. Helfen Sie mir mal!«

Mit der Hilfe des jetzt völlig verwirrten Rebka trug der Allianzrat zunächst Max Perry, dann auch Geni Carmel auf die obere Ebene der Kapsel. Darya Lang, die immer noch vor sich hin murmelte, kurz vor dem Erwachen, ließ er in ihrem Medi-Korsett.

Graves setzte Max Perry und Geni Carmel in zwei Stühle, die im rechten Winkel zueinander standen, und befestigte die Korsetts daran.

»Machen Sie die mal extra fest!«, wies er Rebka an. »Passen Sie auf, dass Sie nicht gegen Perrys Wunden kommen — aber bitte denken Sie daran: Ich möchte nicht, dass sich einer von denen losreißen kann! Ich bin gleich wieder da!«

Noch einmal lief Graves zur unteren Ebene hinab. Als er wieder zurückkam, hielt er zwei Sprühkanülen in der rechten Hand.

»Darya Lang wacht gerade auf«, berichtete er, »aber lassen Sie uns erst das hier erledigen! Das dauert nicht lange.« Mit der einen Kanüle gab er Perry eine Injektion in die Schulter, Geni Carmel erhielt mit der anderen die ihre. »Jetzt können wir anfangen.« Er begann laut zu zählen.

Das Aufputschmittel, das er Max Perry verabreicht hatte, hatte die maximale Dosis. Bevor Graves bis zehn gezählt hatte, seufzte Perry, rollte den Kopf von der einen Seite zur anderen und öffnete langsam die Augen. Mit einem dumpfen, desinteressierten Blick betrachtete er die Kabine der Kapsel, bis sein Blick auf die immer noch bewusstlose Geni Carmel fiel. Dann stöhnte er und schloss die Augen wieder.

»Sie sind wach«, merkte Graves tadelnd an. »Also schlafen Sie mir jetzt nicht wieder ein! Ich habe ein Problem, und ich brauche Ihre Hilfe.«

Perry schüttelte den Kopf, seine Augen hielt er geschlossen.

»In ein paar Stunden werden wir wieder auf Opal sein«, fuhr Graves fort. »Und das Leben wird langsam wieder zur Normalität zurückkehren. Aber ich habe die Verantwortung für die Rehabilitation von Geni Carmel. Es wird natürlich Anhörungen auf Shasta und auf Miranda geben, aber das darf sich in keiner Weise negativ auf die Rehabilitation auswirken. Die muss jetzt sofort beginnen. Und der Tod von Elena macht das ganze Programm sehr schwierig. Ich habe das Gefühl, dass es katastrophal wäre, Geni nach Shasta zurückkehren zu lassen, mit all ihren Erinnerungen an ihre Zwillingsschwester, wenn sie sich da bereits schon auf dem Wege der Besserung befindet. Andererseits muss ich wegen der Anhörungen, bei denen es um den Vorwurf des Völkermords geht, unbedingt zurück nach Shasta und dann nach Miranda.«

Er hielt inne. Perry hatte die Augen immer noch nicht geöffnet.

Graves beugte sich näher zu ihm hinüber und senkte die Stimme. »Damit bleiben für mich zwei Fragen: Wo soll die Rehabilitation von Geni Carmel beginnen? Und wer soll den Rehab-Prozess überwachen, wenn ich das nicht übernehmen kann?

Und da brauche ich Ihre Hilfe, Commander. Ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass Genis Rehab-Programm auf Opal beginnen sollte. Und ich schlage vor, dass Sie während dieser Zeit die Vormundschaft für sie übernehmen.«

Endlich war Graves zu Perry vorgedrungen. In dem Korsett, das ihn immens einschnürte, richtete er sich ruckartig auf. Seine blutunterlaufenen Augen weiteten sich. »Wovon zum Teufel reden Sie da eigentlich?«

»Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt.« Graves lächelte. »Aber ich sage es gerne noch einmal. Sie werden für Genis Wohlergehen verantwortlich sein, solange sie sich auf Opal aufhält.«

»Das können Sie nicht tun!«

»Ich fürchte, Sie täuschen sich! Fragen Sie Captain Rebka, wenn Sie mir nicht glauben. In derartigen Angelegenheiten besitzt ein Mitglied des Rates die volle Autorität, ein Rehabilitationsverfahren umgehend einzuleiten. Und jeder kann verpflichtet werden, eine solche Aufgabe zu übernehmen. Sie eingeschlossen.«

Perry schaute zu Rebka hinüber, dann richtete er den Blick wieder auf Graves. »Ich bin nicht bereit, diese Aufgabe zu übernehmen. Ich habe selbst zu tun — und das ist ein Fulltime-Job. Und sie braucht einen Spezialisten. Ich habe keine Ahnung, wie man diese Art Problem überhaupt angehen soll.«

»Das können Sie gewiss lernen.« Graves nickte in Richtung des anderen Stuhls, in dem Geni jetzt langsam zu sich kam; ihre Dosis war deutlich schwächer gewesen. »Sie beginnt jetzt zuzuhören. Als Erstes können Sie ihr von Opal erzählen. Denken Sie daran, Commander, sie war noch nie dort. Es wird eine Zeit lang ihr Zuhause werden, und Sie wissen darüber mehr als jeder andere.«

»Jetzt warten Sie aber mal!« In dem Korsett bäumte Perry sich auf und rief Graves hinterher, der Rebka bereits aus der Kabine lotste. »Wir sind ja völlig hilflos, so angebunden! Sie können uns doch nicht einfach hierlassen! Schauen Sie sie doch an!«

Geni Carmel machte keine Anstalten, sich aus ihrem Korsett befreien zu wollen, doch Tränen rollten ihr über die blassen Wangen, und sie starrte entsetzt oder fasziniert Perrys verstümmelte Hände und die verbrannten Unterarme an.

»Es tut mir leid«, erwiderte Graves über die Schulter hinweg, während Rebka und er schon die Treppe zur unteren Ebene der Kapsel hinabstiegen, »wir reden später weiter darüber, aber jetzt habe ich dafür keine Zeit. Captain Rebka und ich haben etwas sehr Dringendes auf dem unteren Deck zu erledigen. Wir kommen wieder.«

Rebka wartete, bis sie außer Hörweite waren, dann wandte er sich wieder an Graves. »Meinen Sie das eigentlich wirklich ernst?«

»Todernst.«

»Das wird nicht funktionieren! Geni Carmel ist doch fast noch ein Kind! Jetzt, wo Elena tot ist, wird sie nicht einmal weiterleben wollen. Sie wissen doch selbst, wie nah die beiden einander gestanden haben, so nah, dass sie lieber gestorben wären, als voneinander getrennt zu werden. Und Perry ist doch selbst ein hoffnungsloser Fall — der ist doch gar nicht in der Lage, sich um sie zu kümmern!«

Am Fuße der Treppe blieb Julius Graves stehen. Er drehte sich zu Hans Rebka um, und zum ersten Mal schnitt er weder Grimassen, noch grinste er. »Captain, wenn ich jemanden brauche, der in der Lage ist, ein überladenes Schiff fast ohne jede Energie wie die Sommer-Traumschiff von einem Planeten wegzubringen, von einem Planeten, der einem gerade unter den Füßen auseinanderbricht, und es dabei noch ins All schaffen muss, dann werde ich mich sofort wieder vertrauensvoll an Sie wenden! Sie machen Ihre Arbeit großartig — Ihre eigentliche Arbeit. Können Sie mir nicht den Gefallen tun und es für möglich halten, dass für mich und meine Aufgabe das Gleiche gelten könnte? Ist es denn nicht vorstellbar, dass ich meine Aufgabe gut werde erfüllen können?«

»Aber das ist doch nicht Ihre Aufgabe!«

»Was nur beweist, Captain, wie wenig Sie über die Pflichten eines Allianzrates wissen. Glauben Sie mir, das, was ich hier tue, wird funktionieren. Oder wären Sie bereit, eine Wette zu halten? Ich behaupte, dass Max Perry und Geni Carmel eine größere Chance haben, einander zu heilen, als Sie oder ich oder irgendjemand anderes hat, auch nur einem von beiden zu helfen! Wie Sie schon richtig sagten, ist Geni noch fast ein Kind — aber Perry ist ein Mann, der verzweifelt versucht zu helfen. Sieben Jahre lang hat er Buße getan, weil er es Amy gestattet hatte, ihn während des Gezeitensturms nach Erdstoß zu begleiten. Ist Ihnen denn nicht klar, dass die Tatsache, dass er sich derart die Arme verbrannt hat, seinem seelischen Gleichgewicht zuträglich sein wird? Jetzt hat er eine Gelegenheit, völlige Absolution zu erhalten. Und Ihre Aufgabe auf Opal, bester Captain, ist damit beendet. Sie könnten heute aufbrechen: Perry wird es gut gehen.« Graves schnippte mit den Fingern und streckte Rebka die Hand entgegen. »Möchten Sie darauf wetten? Sagen Sie nur, um wie viel!«

Rebka blieb eine Antwort erspart, als hinter ihnen eine zornige Stimme ertönte.

»Ich weiß ja nicht, wem ich das hier zu verdanken habe, und ich werde auch nicht fragen! Aber verdammt noch mal, holt mich hier endlich raus! Ich habe zu arbeiten!«

Es war Darya Lang, völlig bei Bewusstsein; sie mühte sich nach Kräften, sich aus ihrem Korsett zu befreien. Sie klang nicht einmal mehr ansatzweise wie die scheue Theoretikerin, die vor einigen Tagen auf Opal eingetroffen war; doch es mangelte ihr immer noch an praktischen Fähigkeiten. In ihren Bemühungen, sich zu befreien, hatte sie es geschafft, sämtliche ihrer Halterungen zu verdrehen, sodass sie jetzt kopfüber hing und kaum noch die Arme bewegen konnte.

»Sie gehört ganz Ihnen, Captain«, meinte Graves daraufhin, für Rebka recht unerwarteterweise. »Ich gehe jetzt J’merlia und Kallik suchen.« Er kletterte durch die Luke an der Seite der Kammer und verschwand aus Rebkas Blickfeld.

Rebka ging zu Lang hinüber und besah sich nachdenklich den Schaden, den die Wissenschaftlerin angerichtet hatte. Er verstand immer weniger, was hier eigentlich vor sich ging. Nachdem sie nun von Erdstoß entkommen waren, hätten sich abgesehen von ihm alle entspannen können; stattdessen schienen sie alle schon wieder neue Pläne zu verfolgen. Darya Lang klang gehetzt und wütend.

Er streckte die Hand aus, zog vorsichtig an einer Befestigung des Korsetts, dann fester an einer anderen. Das Ergebnis war durchaus erfreulich. Die Befestigungen lösten sich, was dafür sorgte, dass Darya Lang langsam auf das Deck schwebte. Er half ihr auf und erhielt zur Belohnung — ebenso überraschend — ein peinlich berührtes Lächeln.

»Und warum habe ich das nicht hingekriegt?« Vorsichtig setzte sie ihren verletzten Fuß auf das Deck, zuckte mit den Achseln und trat fester auf. »Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass wir gerade ›Nabelschnur‹ erreicht hatten und Graves und Kallik mich mit dem MediKit versorgt haben. Wie lange habe ich geschlafen — und wann erreichen wir Opal?«

»Ich weiß nicht, wie lange Sie geschlafen haben, aber der Gezeitensturm war vor dreiundzwanzig Stunden.« Rebka warf einen Blick auf seine Uhr. »Na ja, fast vierundzwanzig. Und in ein paar Stunden sollten wir auf Opal aufsetzen. Falls wir dort werden aufsetzen können. Die hat es da richtig übel erwischt. Aber wir haben keine Eile. Wir haben reichlich Essen und Wasser an Bord. In der Kapsel können wir wochenlang überleben — wir können sogar wieder an ›Nabelschnur‹ hinauf zur ›Mittelstation‹, wenn das notwendig sein sollte, und dort so lange bleiben wie nötig — auch unbegrenzt.«

»Auf gar keinen Fall!« Darya schüttelte den Kopf. »Ich kann es mir nicht leisten, lange zu warten. Ich bin erst ein paar Minuten wieder bei Bewusstsein, aber die habe ich samt und sonders damit verbracht, den Kerl zu verwünschen, der mich so mit Schmerzmitteln vollgepumpt hat. Wir müssen auf die Oberfläche von Opal, und Sie müssen mir ein Schiff besorgen!«

»Um nach Hause zu fahren? Warum die Eile? Weiß irgendjemand auf Wachposten-Tor, wann Sie wieder zurückkommen?«

»Niemand.« Sie ergriff Hans Rebkas Arm, stützte sich auf ihn, während sie gemeinsam zu der kleinen Kombüse der Kapsel hinübergingen. Dort setzte sich Darya, langsam und bedächtig, und schüttete sich dann in aller Ruhe ein heißes Getränk ein. Schließlich drehte sie sich zu ihm um. »Aber Sie haben das falsch verstanden, Hans. Ich möchte nicht nach Wachposten-Tor zurück. Ich möchte nach Gargantua. Und da werde ich Hilfe brauchen.«

»Ich hoffe, Sie erwarten nicht, die von mir zu bekommen.« Rebka wandte den Blick ab, spürte nur allzu deutlich ihre Finger an seinem Bizeps. »Hören Sie, ich weiß, dass Nendas Schiff nach Gargantua gezogen wurde und die beiden den Tod gefunden haben. Aber Sie wollen doch nicht auch umkommen! Gargantua ist ein Gasriese, eine gefrorene Welt — da können wir nicht überleben; und Cecropianer auch nicht.«

»Ich habe nicht gesagt, das Schiff und diese Sphäre seien geradewegs nach Gargantua gelangt. Das glaube ich auch nicht. Ich glaube, dass der Ort, den ich aufsuchen muss, auf einem der Monde von Gargantua liegt. Aber das werde ich erst wissen, wenn ich dort ankomme.«

»Dort ankommen und dann was? Ein paar Leichen einsammeln? Wen interessiert denn, was mit den Leichen von denen passiert? Atvar H’sial hat Sie ausgesetzt, damit Sie auf Erdstoß sterben, Darya, und zusammen mit Nenda hat die Cecropianerin J’merlia und Kallik im Stich gelassen. Selbst wenn Atvar H’sial und Nenda jetzt noch am Leben sein sollten — und Sie sagen, dass sei nicht der Fall —, verdienen die beiden Ihre Hilfe nicht.«

»Da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Und das ist auch nicht der Grund, warum ich den beiden folgen will.« Darya reichte Rebka eine Tasse. »Beruhigen Sie sich, Hans! Trinken Sie das hier, und dann hören Sie mir eine Minute zu! Ich weiß, dass die Leute aus dem Phemus-Kreis glauben, alle aus der Allianz seien Elfenbeinturmbewohner und absolut unfähig; genauso wie wir denken, ihr wärt alle primitive Barbaren, die sich nicht einmal die Mühe machen, sich gelegentlich zu waschen …«

»Holla!«

»Aber Sie und ich, wir beide haben nun doch schon eine gewisse Zeit miteinander verbracht — genug Zeit, um zu wissen, dass diese Vorstellungen totaler Unsinn sind. Sie werden doch zugeben, dass ich zumindest eine akzeptable Beobachterin bin. Ich erfinde nichts. Also lassen Sie mich Ihnen erzählen, was ich gesehen habe, von mir unkommentiert. Jeder andere hier könnte den springenden Punkt übersehen; Ihnen aber traue ich zu, die richtigen Schlüsse aus meinen Beobachtungen zu ziehen.

Aber denken Sie daran: erst zuhören, dann nachdenken, dann reagieren, und nicht anders herum!« Sie rutschte noch etwas näher an Rebka heran, setzte sich so, dass ihm gar nichts anderes mehr übrig blieb, als ihr zuzuhören.

»Als wir die Wolkendecke von Erdstoß durchstießen, waren Sie zu beschäftigt damit, das Schiff zu steuern, als dass Sie irgendetwas anderes hätten tun können, und alle anderen, die sich in der hinteren Sektion des Schiffes aufgehalten haben, waren von Mandel und Amarant geblendet. Also hat niemand das gesehen, was ich gesehen habe: Erdstoß hat sich geöffnet, bis tief in seinen Kern. Und zwei Objekte sind aus dem Planeteninneren hervorgekommen. Eines davon ist davongeflogen, aus der galaktischen Ebene hinaus. Dieses Objekt habe ich in weniger als einer Sekunde aus den Augen verloren. Das andere haben Sie auch gesehen. Das hielt auf Gargantua zu, und Louis Nendas Schiff wurde von diesem Objekt mitgerissen. Eine wichtige Beobachtung, aber etwas anderes ist noch wichtiger! Jeder hat gesagt, dass Erdstoß viel zu ruhig gewesen sei dafür, dass der Gezeitensturm so unmittelbar bevorstand. Klar, ich weiß, dass wir alle das Gefühl hatten, der Planet sei schon wild genug, als wir da unten waren. Aber das war er nicht. Max Perry hat es immer und immer wieder gesagt: Wo ist all die Energie geblieben?

Na ja, darauf wissen wir jetzt eine Antwort. Die Energie wurde transformiert und gespeichert, damit, als der richtige Zeitpunkt gekommen ist, Erdstoß bis in seinen Kern hat aufbrechen und diese beiden Objekte freisetzen können — Raumschiffe, oder was auch immer diese Objekte tatsächlich gewesen sind.

Ich habe zugeschaut, wie das passiert ist, und ich habe den ersten Funken einer Antwort auf eine Frage, die mich seit Monaten beschäftigt hat, schon lange, bevor ich von Wachposten-Tor aufgebrochen bin:

Warum das Dobelle-System?

Warum gerade so ein unbedeutender Ort — ich meine, für ein so bedeutsames Ereignis?

Die Idee, das Dobelle-System aufzusuchen, kam mir, als ich die Konvergenzen von Zeit und Ort sämtlicher Einflüsse berechnet habe, die von allen Artefakten ausgegangen sind. Es gab eine einzige Antwort: Erdstoß während des Gezeitensturms. Aber als ich das den Baumeister-Fachleuten der Allianz vorgetragen habe, haben die mich ausgelacht. Schauen Sie mal, Darya, meinten sie, wir sind ja bereit zu akzeptieren, dass es ein Artefakt im Dobelle-System gibt — ›Nabelschnur‹. Aber das ist doch nur ein wenig bedeutsamer Vertreter der Baumeister-Technologie. Das ist etwas, das wir verstehen können, etwas, das weder besonders geheimnisvoll ist noch besonders groß oder besonders komplex. Es ist doch völlig unsinnig, dass der Fokus der Baumeister-Aktivitäten gerade ein derartig zweitklassiges Konstrukt sein soll, in einem derart wertlosen und unbedeutenden Abschnitt der Galaxis — es tut mir leid, Hans, ich zitiere hier nur, und so denken die Leute der Allianz nun einmal über die Welten des Phemus-Kreises.«

Rebka zuckte mit den Schultern. »Sie müssen sich nicht entschuldigen«, erwiderte er barsch. »So denken viele von uns über die Welten des Kreises, und wir leben hier. Sie sollten mal ein Wochenende auf Teufel verbringen — wenn Sie das ertragen können.«

»Also weiter: Alles, was die über den Phemus-Kreis und ›Nabelschnur‹ vorzubringen wussten, konnte meine Analyse der statistischen Daten nicht entkräften. Diese so genannten Experten haben es sogar selbst wiederholt und bestätigt, dass alles auf Dobelle hinweise und auf Erdstoß während des Gezeitensturms. Sie mussten mir zustimmen. Das Problem war, dass ich gezwungen war, auch denen zuzustimmen: Dobelle als ein Ort, an dem etwas wirklich Bedeutsames geschehen sollte … das ergab wirklich keinen Sinn! Ich meine, ich habe schließlich den Eintrag über ›Nabelschnur‹ im Katalog verfasst — ›eines der einfachsten und das am leichtesten zu verstehende sämtlicher bekannten Artefakte der Baumeister‹! Die haben einfach nur wie die Papageien meine eigenen Worte wiederholt.

Entsprechend verblüfft war ich, als ich dann hier ankam. Ich war immer noch verblüfft, als Sie uns da durch die Wolkendecke gebracht haben, damit wir es doch noch schaffen konnten, mehr oder weniger heil von Erdstoß wegzukommen. Ich konnte einfach keinen Sinn darin entdecken, dass ausgerechnet das Dobelle-System der Konvergenzpunkt sein sollte.

Aber dann sah ich diesen pulsierenden Lichtstrahl, der von Gargantua kam, und konnte beobachten, wie Erdstoß sich vor meine Augen immer weiter geöffnete. Und kurz bevor ich bewusstlos geworden bin, habe ich begriffen, dass wir alle etwas völlig Offensichtliches übersehen haben.

In allen Quellen über die Struktur dieses Systems wird das Gleiche gesagt: Das Dobelle-System sei ›eines der Naturwunder des örtlichen Spiralarms.‹ Ist es nicht wunderbar, so heißt es in den Büchern, wie das Wechselspiel der Gravitationsfelder von Amarant, Mandel und Gargantua Dobelle in einen derart perfekt ausbalancierten Orbit bringt — einen Orbit, der so beschaffen ist, dass alle 350.000 Jahre alle Mitspieler sich ganz exakt zum Gezeitensturm und der Großen Konjunktion in einer Linie bewegen? Ist das nicht atemberaubend?

Nun, richtig, es ist atemberaubend — wenn man das so glaubt. Aber man kann das Ganze auch anders sehen. Im Dobelle-System befindet sich nicht nur ein Artefakt — ›Nabelschnur‹ eben. Das ganze Dobelle-System ist ein Artefakt! Das ganze System!« Wieder packte sie Rebkas Arm, ganz in ihrer eigenen Vorstellung gefangen. »Dobelles kompletter Orbit, dessen Geometrie, wurde von den Baumeistern geschaffen, genauso angelegt, dass alle 350.000 Jahre Mandel, Amarant und Gargantua Erdstoß so nahe kommen, dass eine besondere Art der Interaktion stattfinden kann. Irgendetwas im Inneren von Erdstoß fängt die Energie dieser Gezeitenkräfte auf und nutzt sie.

Bevor ich nach Erdstoß gekommen bin, habe ich gedacht, die Baumeister selbst könnten vielleicht hier sein — vielleicht sogar bei gerade diesem Gezeitensturm. Aber das war falsch. Die Große Konjunktion fungiert als Auslöser für die Freisetzung dieser Sphären — dieser Schiffe oder was auch immer diese Objekte nun sind —, nur so können diese das Dobelle-System verlassen. Ich weiß nicht, wohin die erste der beiden Sphären verschwunden ist — es sah so aus, als hätte sie die Galaxis verlassen. Aber wir haben genügend Informationen, um die andere zu verfolgen, die, die nach Gargantua geflogen ist. Und wenn wir mehr über die Baumeister erfahren wollen, dann müssen wir genau dorthin!

Und das bald! Bevor das, was in der Nähe von Gargantua nun passieren wird, und ich habe keinen blassen Schimmer, was das sein könnte, vorbei ist, und wir noch einmal 350.000 Jahre warten müssen, um eine zweite Chance zu bekommen.«

Hans Rebka, der nun endlich auch einmal die Chance hatte, zu Wort zu kommen, nutzte diese, um eine Frage zu stellen. »Wollen Sie damit sagen, dass bei jeder Großen Konjunktion Erdstoß derart aufbricht und etwas herauskommt?«

»Ganz gewiss sogar. Das ist der Sinn der Großen Konjunktion — sie liefert den zeitabhängigen Auslöser und die Gezeitenkräfte, die erforderlich sind, um Erdstoß zu öffnen. Wenn sich Erdstoß also geöffnet hat …«

Aber nun war es an Rebka, etwas zu erklären. »Darya, ich bin kein Theoretiker. Aber Sie täuschen sich! Die Beweise kann Ihnen Max Perry liefern, also reden Sie mit ihm!«

»Er hat nicht beobachtet, was passiert ist, als wir Erdstoß verlassen haben!«

»Ich auch nicht. Max und ich hatten wirklich andere Dinge im Kopf. Aber als ich auf Opal angekommen bin, habe ich mich sofort nach der Geschichte des Dubletts erkundigt. Opals Geschichte ist nur schwer bestimmbar, weil es dort keine permanente Landoberfläche gibt. Aber Perry hat mir eine Analyse der Fossilienfunde auf Erdstoß gezeigt. Die wurden in den ersten Jahren der Kolonisierung des Dobelle-Systems ausgiebig untersucht, weil man wissen wollte, ob die Oberfläche von Erdstoß stabil genug sei, um dort auch während des Gezeitensturms leben zu können.

Das ist sie nicht, für Menschen zumindest — das haben wir ja nun auch selbst noch einmal deutlich gezeigt bekommen. Aber es gibt einheimische Lebensformen auf Erdstoß schon seit mehreren hundert Millionen Jahren, schon lange, bevor der Planet seinen derzeitigen Orbit erreicht hat. Und jede Öffnung des tiefen Innersten des Planeten — wie die, die Sie miterlebt haben — hätte sich zweifelsohne als Anomalie bei den Fossilfunden erkennen lassen müssen.«

Er streckte die Hand nach der Steuerung der Displays aus und stellte das Gerät dann so ein, dass es ein Abbild des Raumes oberhalb der Kapsel zeigte. Mandel und Amarant waren zu sehen, sie standen immer noch riesenhaft am Himmel, doch sie waren schon nicht mehr ganz so hell. Zu wissen, dass ihre Helligkeit jetzt ein Jahr lang stetig abnehmen würde, hatte etwas sehr Tröstliches. Da das Sternenpaar jetzt nicht mehr ganz so hell war, wirkte Gargantua, der weiter rechts zu sehen war, deutlich heller am Himmel. Doch der riesige Planet hatte sein eigenes Periastron ebenfalls überschritten, und die orangebraune Scheibe wurde bereits kleiner. Jetzt ging kein gleißend heller Lichtstrahl mehr von Gargantua aus, und auch nicht von einem seiner Satelliten. Erdstoß hing über der Kapsel, seine Oberfläche war dunkel und friedlich.

»Sehen Sie, Darya, es gibt keinerlei Hinweise in sämtlichen Fossilfunden, die auf eine Tiefenstörung von Erdstoß wie der, die Sie beobachtet haben, schließen ließen! Nicht vor drei Jahren, nicht vor dreihundert, und nicht vor dreihundertfünfzigtausend. Das Tiefeninnere von Erdstoß ist nie zu Tage getreten, soweit man die Geschichte der Planetenoberfläche zurückverfolgen kann. Und das sind mindestens fünf Millionen Jahre.«

Er hatte erwartet, Darya werde von seinen Anmerkungen niedergeschlagen sein. Doch das Gegenteil war der Fall. »Dann war diese Große Konjunktion also etwas Besonderes! Das macht es um so wichtiger herauszufinden, warum das passiert ist, wovon wir hier reden. Hans, ich will Ihnen gerne sagen, was das für mich für Folgen hat. Sie können morgen Ihre Arbeit im Phemus-Kreis wieder aufnehmen. Aber ich kann nicht nach Wachposten-Tor zurück. Noch nicht. Ich muss weitermachen und mir Gargantua ansehen. Ich habe nicht mein ganzes Leben damit verbracht, die Baumeister zu studieren, bin so weit gekommen, nur um aufzuhören, sobald ich endlich eine heiße Spur habe! Vielleicht sind die Baumeister nicht dort draußen, in der Nähe von Gargantua …«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das nicht sind. Man hätte sie doch gefunden, als das Mandel-System zum ersten Mal erkundet wurde.«

»Aber irgendetwas ist dort draußen! Diese Sphäre, die Nendas Schiff mitgerissen hat, hat doch nicht einfach nur Erdstoß verlassen! Die ist gezielt an einen bestimmten Ort geflogen! Ich werde selbst ein Schiff finden und so schnell wie möglich zu diesem Ort müssen. Sonst verliere ich diese Spur vielleicht ganz aus den Augen!«

Sie umklammerte immer noch seinen Arm, jetzt fest genug, dass es zu schmerzen begann.

»Darya, Sie können nicht einfach so nach Gargantua! Nicht allein, denn dann überleben Sie diesen kleinen Ausflug mit Sicherheit nicht! Der äußere Bereich des Mandel-Systems ist kalt und unwirtlich. An dem Ort zu überleben ist nicht leicht, nicht einmal für erfahrene Raumerkunder.

Und jetzt Sie — von einer netten, zivilisierten Welt wie Wachposten-Tor …«

Hans Rebka hielt inne. Immerhin hatte sie ihn, den erfahrenen Raumerkunder, mit einer versteckten Falle ausgeschaltet, bewusstlos war er gewesen! Dann hatte sie ihn zu ihrer Höhle hinter dem Wasserfall gezerrt, ihn bemuttert und umsorgt, wie das zuvor noch niemand für ihn getan hatte. Und jetzt hatte sie ihm schon wieder eine Falle gestellt. Er musste vorsichtig sein und aufpassen, keinerlei Verpflichtungen einzugehen.

»Ich weiß nicht, wie ich ein Schiff finden soll«, sagte er. »Darum kann ich die Leute von Opal nicht bitten — nach diesem Gezeitensturm haben die wirklich keinerlei Ressourcen, die sie entbehren könnten. Aber ich werde mich umschauen und sehen, was ich tun kann.«

Jetzt endlich ließ Darya Lang seinen Arm los, aber nur, um etwas anderes zu tun. Ihre Umarmung wurde durch ein Hüsteln aus Richtung der Treppe unterbrochen. Julius Graves hatte die Kammer wieder betreten. Dicht hinter ihm standen J’merlia und Kallik.

Mit einer Handbewegung bedeutete Graves J’merlia voranzugehen. »Mach schon! Nun sag es ihnen selbst — das ist deine Rede!« Er wandte sich Hans Rebka zu. »Ich habe Ihnen ja gesagt, die würden irgendetwas im Schilde führen. Und ich habe denen gesagt, dass eine derartige Entscheidung mir nicht zusteht, aber ich habe dazu eine Meinung.«

J’merlia zögerte, bis Kallik ihn mit einem ihrer stacheligen Ellenbogen einen heftigen Stoß versetzte, gefolgt von einem Zischen, dass klang wie »Sch-sch-sch-prich!«

»Das werde ich auch tun. Verehrter Captain …« J’merlia wollte gerade schon vor Rebka katzbuckeln, wie er es gewohnt war, doch ein warnendes Grollen von Graves hielt ihn davon ab. »Geschätzte Menschen, Kallik und ich stehen vor einem ernsten Problem. Wir bitten um Ihre Hilfe, auch wenn wir uns vollends der Tatsache bewusst sind, dass wir nichts getan haben, womit wir diese Hilfe verdienten. Wir bäten jedoch nicht um Hilfe, wenn wir eine Möglichkeit sähen, unsere Aufgabe ohne diese Hilfe zu erfüllen. Wir waren bereits eine Last für Sie. Allein durch unser unkluges Handeln auf dem Planeten Erdstoß gefährdeten wir das Leben aller und …«

Diesmal kam nicht nur ein Grollen von Graves, sondern er versetzte dem Lo’tfianer auch noch einen Stoß. »Jetzt mach schon weiter!«

»Sehr wohl, hochverehrter Allianzrat!« J’merlia zuckte mit den Schultern in einer fast menschlichen Geste der Entschuldigung. »Worum es geht, verehrter Captain, ist, dass Kallik und meine Wenigkeit glaubten, dass, als wir Erdstoß verließen, Louis Nenda und Atvar H’sial gewiss den Tod gefunden hätten oder sie den Entschluss fassten — wie es ihr gutes Recht ist —, unsere Dienste nicht mehr in Anspruch zu nehmen. Beide Möglichkeiten waren für uns zutiefst verstörend, doch wir sahen keine andere Möglichkeit, als sie zu akzeptieren. Wir wären dann gezwungen gewesen, zu unseren Heimatwelten zurückzukehren und uns neue Meister zu suchen, denen wir hätten dienen können. Allerdings erfuhren wir vor einigen Minuten, dass Meister Nenda und Meisterin Atvar H’sial von der Oberfläche von Erdstoß entkommen konnten.«

»Das stimmt wohl.« Rebka blickte Darya an. »Aber Professorin Lang hat mitangesehen, was geschehen ist, und Nenda und Atvar H’sial sind tot.«

»Ich weiß, dass Sie das glauben. Aber Kallik wies darauf hin, dass dies nicht notwendigerweise der Fall ist. Sie merkte an, dass, falls das Schiff gravitational in seinem Flug beschleunigt wurde, sich auf die Lebewesen an Bord keinerlei Kräfte ausgewirkt hätten — es wäre ebenso, als blieben sie die ganze Zeit über im freien Fall. Dann wären sie lebendig in Richtung Gargantua geschleudert worden, wenn auch gegen ihren Willen, und dürften nun dringend Hilfe brauchen. Falls dies der Fall sein sollte, obliegt es eindeutig Kallik und meiner Wenigkeit, ihnen zu folgen. Sie sind unsere Eigentümer. Zumindest können wir nicht das Mandel-System verlassen, solange wir nicht darüber in Kenntnis gesetzt wurden, ob die Meister unsere Dienste nicht in Anspruch nehmen wollen oder können. Daher bitten wir Sie, unter Berücksichtigung all dieser Fakten und nach reiflicher Überlegung der Möglichkeit, nun … uff!«

J’merlia hatte einen weiteren Stoß von Kallik erhalten, und die gelbe Spitze des Hymenopter-Stachels trat hervor und berührte leicht eines von J’merlias Hinterbeinen. Er zuckte zusammen und hüpfte einen Schritt vorwärts.

»Wusstest du, J’merlia«, sagte Julius Graves beiläufig, »dass Professorin Lang eine Zeit lang der Ansicht war, du seist nicht in der Lage, eigenständig zu sprechen? Jetzt bedauert sie wahrscheinlich, sich getäuscht zu haben.«

»Ich bedaure, Allianzrat. Ich bin es gewohnt, Gedanken zu übersetzen, nicht sie eigenständig zu entwickeln. Aber um alles zusammenzufassen: Kallik und ich bitten darum, ein Raumschiff ausleihen zu dürfen; und wir bitten darum, uns zu gestatten, Meister Nenda und Meisterin Atvar H’sial nach Gargantua zu folgen, oder wohin auch immer ihre Spur führen mag.«

»Die Antwort lautet nein«, antwortete Rebka sofort. »Definitiv nein. Ich weise dieses Gesuch zurück. Opal ist derzeit zu sehr damit beschäftigt, sich von diesem Gezeitensturm zu erholen, um jetzt Zeit damit zu verschwenden, nach verschollenen Raumschiffen zu suchen.«

Kallik gluckste und piepste drängend.

»Aber das wird nicht erforderlich sein«, erwiderte J’merlia. »Wie Kallik richtig bemerkt, ist es nicht erforderlich, dass wir nach Opal reisen. Ein Raumschiff steht zur Verfügung — die Sommer-Traumschiff. Es befindet sich auf Mittel-Station, und es wird ein leichtes sein, dorthin zurückzukehren und das Schiff vollständig aufzuladen. An Bord der Station werden wir auch ausreichende Vorräte vorfinden, und Kallik und ich sind davon überzeugt, dieses Schiff steuern zu können.«

»Mit einem zusätzlichen Passagier an Bord«, mischte Darya Lang sich ein. »Ich komme auch mit.«

Rebka warf ihr einen finsteren Blick zu. »Sie sind verletzt. Sie sind gesundheitlich nicht in der Verfassung, diese Reise anzutreten!«

»Mir geht es gut genug. Ich werde mich auf dem Weg nach Gargantua weiter erholen. Wollen Sie mir erzählen, ein verbrannter Fuß würde Sie davon abhalten, Ihre Aufgabe zu erfüllen, wenn Sie an meiner Stelle wären?«

»Aber die Sommer-Traumschiff ist nicht Eigentum des Dobelle-Systems.« Hans Rebka vermied es, ihre Frage zu beantworten, und versuchte es jetzt auf andere Art und Weise. »Es liegt nicht in meiner Autorität oder der von Max Perry, euch die Nutzung dieses Schiffes zu gestatten.«

»Da geben wir Ihnen durchaus recht.« Höflich nickte J’merlia. »Diese Erlaubnis müsste zweifelsohne von Geni Carmel kommen, die schließlich die rechtmäßige Eigentümerin ist.«

»Und wieso glaubt ihr, sie würde euch das erlauben?«

Julius Graves hüstelte leise. »Na ja, um ehrlich zu sein, Captain Rebka, habe ich mit der armen Geni darüber bereits gesprochen. Sie sagt, sie will nie wieder irgendetwas von diesem Schiff hören oder es gar sehen. Es steht Ihnen, Captain, zur Verfügung, so lange Sie es zu nutzen wünschen.«

Rebka starrte den anderen Mann an. Wieso gingen alle davon aus, dass er würde mitkommen wollen?

»Die Antwort lautet immer noch nein, Allianzrat! Wir könnten zwar ein Schiff haben. Das macht aber auch keinen Unterschied.«

J’merlia senkte den Kopf und wurde noch unterwürfiger, während Kallik ein enttäuschtes Pfeifen ausstieß. Dann nickte Julius Graves und sagte leise: »Die Entscheidung liegt natürlich bei Ihnen, Captain. Aber wären Sie bereit, mir die Argumente zu erläutern, die Sie zu diesem Schluss kommen ließen?«

»Na klar doch. Lassen Sie mich mit einer Frage beginnen: Sie kennen Louis Nenda und Atvar H’sial — würden Sie nach Gargantua reisen, um nach ihren Leichen zu suchen?«

Rebka hatte sich die eigene Position sehr klar zurechtgelegt. Die Idee, Leute zu suchen, die versucht hatten, einen umzubringen, war selbstverständlich völlig abwegig — es sei denn, man hätte die Absicht, sie seinerseits ins Jenseits zu befördern.

»Ich? Nach Gargantua reisen?« Graves hob die Augenbrauen. »Ganz gewiss nicht! Erstens ist es unerlässlich, dass ich nach Miranda zurückkehre. Meine Aufgabe hier ist erfüllt. Außerdem halte ich Atvar H’sial und Louis Nenda für gefährliche Kriminelle. Wenn ich nach Gargantua reisen würde — und ich habe nicht die Absicht, das zu tun, da ich der Ansicht bin, dass die beiden tot sind —, dann nur, um sie festzunehmen.«

»Sehr gut. Genauso geht es mir auch. Also dann, Allianzrat«, Rebka deutete auf Kallik, »wissen Sie eigentlich, wie Louis Nenda dieses Hymenopter-Weibchen beherrscht hat? Ich werde es Ihnen verraten: Er hat eine Peitsche und eine Leine benutzt. Er hat gesagt, Kallik sei sein Haustier, aber niemand sollte ein Haustier in dieser Art und Weise behandeln. Sie ist kein niederes Lebewesen, wie Nenda meint, und sie ist kein Haustier. Er hat sie unterdrückt wie eine Sklavin und hielt sie auch für ebenso entbehrlich wie eine Sklavin. Er war durchaus bereit, sie auf Erdstoß zurückzulassen. Bevor Kallik nach Opal gekommen ist, verstand sie nur winzige Bruchstücke der Sprache der Menschen, das aber nur, weil er ihr jegliche Möglichkeit vorenthalten hat, sie zu erlernen. Und doch war es Kallik, die sämtliche Berechnungen angestellt hat, etwa die, dass sich während des Gezeitensturms etwas Einzigartiges ereignen würde. Das hat sie getan, verstehen Sie? Nicht Nenda. Sie ist um einiges intelligenter als er. Ist das nicht so?«

»Das ist sehr wohl so.« Julius Graves lächelte ein wenig. »Bitte fahren Sie fort!«

»Und J’merlia erging es nicht besser. Die Art und Weise, wie er behandelt wurde, als die beiden im Dobelle-System eingetroffen sind, war eine echte Schande. Sie sind der Ethik-Spezialist hier, und ich bin überrascht, dass Sie es nicht vor allen anderen bemerkt haben: Atvar H’sial hat J’merlia zu einem Nichts gemacht. Jetzt spricht er völlig frei …«

»So könnte man das ausdrücken.«

»Aber wenn die Cecropianerin in der Nähe war, dann hatte J’merlia Angst, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Er war völlig passiv. Er hat nichts anderes getan, als immer nur ihre Gedanken zu übersetzen. Er besitzt einen eigenen Verstand, aber man hat ihm niemals gestattet, ihn auch zu nutzen. Sagen Sie mir, Allianzrat, glauben Sie, dass Louis Nenda und Atvar H’sial irgendetwas getan haben, womit sie sich diese Treue verdient hätten?«

»Das haben sie nicht.«

»Und ist es nicht völlig falsch für vernunftbegabte, nein: vernünftige Wesen wie J’merlia und Kallik, in dieser Art und Weise behandelt zu werden, all ihr Handeln durch andere bestimmen zu lassen?«

»Es ist mehr als nur ›falsch‹, Captain, es ist nicht tolerabel. Und ich bin hoch erfreut zu bemerken, dass Sie und ich diesbezüglich die gleichen Ansichten haben.« Julius Graves wandte sich den beiden schweigend wartenden Nichtmenschen zu. »Captain Rebka ist bereit, eurem Wunsch nachzukommen. Ihr beide seid erwachsene, vernünftige Lebewesen, und der Captain sagt, dass es völlig falsch ist, dass ihr von anderen Lebewesen beherrscht werdet. Also können wir euch nicht vorschreiben, wie ihr zu handeln habt. Wenn ihr also den Wunsch habt, ein Schiff auszuleihen und nach Louis Nenda und Atvar H’sial zu suchen, dann ist das in jeder Hinsicht euer Recht.«

»Einen Augenblick mal!« Rebka sah Julius Graves breites Grinsen und hörte ein triumphierendes Pfeifen von Kallik. »Das habe ich überhaupt nicht gesagt!«

»Doch, das haben Sie, Hans.« Auch Darya Lang lachte jetzt. »Ich habe es genau gehört, und Allianzrat Graves ging es nicht anders. Er hat recht. Wenn es falsch war, dass Nenda und Atvar H’sial in dieser Weise mit Kallik und J’merlia umgegangen sind, dann ist es ebenso falsch, wenn wir das tun. Es wäre sogar noch schlimmer, weil wir es deutlich bewusster täten.«

Rebka blickte sich in der versammelten Runde um, von den trüben blauen Augen von Julius Graves, in denen immer noch der Wahnsinn lauerte, zu J’merlias und Kalliks unergründlichen Gesichtern und schließlich zu Darya Langs wissendem Lächeln.

Er hatte argumentiert, und er hatte verloren, auf ganzer Linie. Und erstaunlicherweise machte es ihm nicht das Geringste aus. In ihm kribbelte es schon wieder, es war diese Neugier, die er das letzte Mal verspürt hatte, als sie den Abstieg nach ›Paradox‹ planten. Gewiss würden sie auf Probleme stoßen, diese jedoch würden es erfordern, dass er handelte und nicht herumsäße, um sich Psycho-Spielchen auszudenken, wie sie Graves so selbstverständlich fand, weil diese ihm leicht fielen.

Und was mochte sie auf Gargantua wohl erwarten? Diese Frage blieb vorerst unbeantwortet. Atvar H’sial und Louis Nenda, lebendig oder tot? Die Baumeister persönlich? Oder Rätsel, die weit über Opal und Erdstoß hinausgingen?

Hans Rebka seufzte, als das Pfeifen vom Wiedereintritt in die Atmosphäre kündete, die an der glatten Außenhaut der Kapsel entlangstrich. Bis zur Landung waren es nur noch wenige Minuten. »Also gut, Allianzrat: Wir setzen Sie, Max und Geni auf Opal ab. Wir anderen steigen an ›Nabelschnur‹ wieder bis ›Mittelstation‹ hinauf und gehen dann an Bord der Traumschiff. Aber was da draußen auf Gargantua ist …«

»Das weiß niemand«, fiel ihm Darya ins Wort. »Kopf hoch, Hans! Das ist wie der Gezeitensturm und ein bisschen wie das Leben selbst. Wenn du gewusst hättest, was alles passieren würde, dann wäre das doch die ganze Reise nicht wert gewesen!«

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