14 Gezeitensturm minus neun

Die Waffen-Sensoren hatten das Fahrzeug bereits seit geraumer Zeit nicht aus den Augen gelassen. Als es dann in Sichtweite kam, stellte Louis Nenda das verborgene Waffenarsenal seines Schiffes auf ›Volle Alarmbereitschaft‹.

Der Flugwagen, der sich ihm immer weiter näherte, bremste jetzt ab, als sei er sich der zerstörerischen Kraft bewusst, die nur wenige Kilometer vor ihm lauerte. Er schwenkte zur Seite, dann ging er in einen fast senkrechten Landeanflug über und setzte in deutlicher Entfernung zum Schiff auf einem Schieferriff auf.

Nenda hielt die Waffen weiterhin einsatzbereit und schaute zu, als die Luke des Wagens sich öffnete.

»Na, wer wird das wohl sein?«, fragte er leise im Patois der Gemeinschaft, mehr zu sich selbst, als an Kallik gerichtet. »Faites votre jeux, meine Damen und Herren! Ihren Einsatz, bitte, und nennen wir sie ruhig mal Besucher!«

Zwei vertraute Gestalten traten auf das hitzedampfende, mit Felsbrocken übersäte Riff hinaus. Beide trugen Atemmasken, doch man konnte sie leicht erkennen. Louis Nenda stieß ein zufriedenes Grunzen aus und versetzte sämtliche Waffensysteme in den Standby-Betrieb.

»Prima machen sie das. Mach die Luke auf, Kallik! Wir sollten uns heute mal von unserer gastfreundlichen Seite zeigen.«

Mit gleichmäßigen Schritten näherten sich Atvar H’sial und J’merlia, suchten sich konzentriert einen Weg zwischen den rundlichen, blaugrauen Felsbrocken hindurch und über eine ganze Geröllhalde aus losem Gestein hinweg. Louis Nenda hatte sich seinen Landeplatz sehr überlegt ausgewählt, er hatte auf der am stabilsten wirkenden und anscheinend dauerhaftesten Oberfläche aufgesetzt, die er hatte finden können; dennoch wurde auch hier Staub umhergewirbelt, und es gab Anzeichen von Bewegungen des Erdreichs, gerade auch in letzter Zeit. Ein tiefer, gezackter Riss reichte vom Riff, auf dem der Flugwagen gerade gelandet war, etwa die Hälfte der Strecke zu dem anderen Schiff hinüber. Atvar H’sial folgte diesem Riss, spähte gelegentlich über den Rand hinweg, sog prüfend die aufsteigende Luft in die Nüstern und versuchte offensichtlich herauszufinden, wie tief dieser Riss wohl sein mochte. Der schmale Graben bot ihr die einzige Möglichkeit zur Flucht, sollte diese notwendig werden. In dieser Region von Erdstoß gab es keinerlei Lebensformen, und im Umkreis von zehn Kilometern auch nichts, was man als Deckung hätte nutzen können. Und die Waffensysteme des Schiffes, allesamt in der Kuppel untergebracht, in dreißig Metern Höhe, konnten dreihundertsechzig Grad abdecken.

Atvar H’sial betrat die untere Luke, senkte den Kopf — nicht etwa in einer Geste des Respekts Louis Nenda gegenüber, sondern einfach, weil sie sich durch eine Öffnung zwängen musste, die für jemanden gedacht war, der nur halb so groß war wie sie. Im Inneren setzte sie die Atemmaske ab. J’merlia folgte ihr, er stieß ein sonderbares Pfeifen aus, um Kallik zu begrüßen, dann huschte er davon und kauerte sich wie üblich vor seiner Meisterin auf den Boden.

Die Cecropianerin richtete sich ein wenig auf und trat näher an Nenda heran. »Sie entschieden sich dafür, Ihre Waffen nicht gegen uns einzusetzen«, übersetzte J’merlia. »Eine weise Entscheidung.«

»Aus Ihrem Blickwinkel? Klar, da bin ich mir ganz sicher! Aber was soll das Gerede über Waffen?« In Nendas Stimme schwang unverhohlener Spott mit. »Sie werden hier keinerlei Waffen finden.«

»Sie mögen Recht haben«, erwiderte Atvar H’sial mit J’merlias Hilfe. »Wenn man diese Waffen während der Inspektion auf Opal nicht gefunden hat, ist es durchaus wahrscheinlich, dass auch wir sie nicht fänden, suchten wir nach ihnen.« Atvar H’sial drehte ihren breiten, weißen Kopf in Richtung Decke. »Aber wenn Sie mir gestatteten, eine halbe Stunde das obere Deck Ihres Schiffes zu untersuchen …«

»Ach, das dann doch eher nicht!« Louis Nenda grinste. »War ja vielleicht ein netter Spaß, aber eine halbe Stunde mit irgendwelchen noch so netten Spielchen zu verschwenden können wir uns doch gar nicht leisten! Nicht jetzt, wo der Gezeitensturm uns so eng im Nacken sitzt. Wie wär’s, wenn wir uns mal ’ne Zeit lang nicht gegenseitig das Leben schwer machen? Ich werd nicht fragen, welche Werkzeuge und Waffen Sie bei sich haben, und Sie hören auf, sich Gedanken darüber zu machen, was sich an Bord dieses Schiffes befindet. Wir haben doch wirklich Wichtigeres zu besprechen!«

»Ah. Sie schlagen eine Waffenstillstand vor.« Die Worte wurden von J’merlia ausgesprochen, doch dabei reckte Atvar H’sial ein Vorderbein vor. »Einverstanden. Aber womit fangen wir an? Wie wollen wir über eine Zusammenarbeit sprechen, ohne zu viel von unserem eigenen Wissen dem anderen gegenüber preiszugeben?«

»Wir könnten damit anfangen, dass wir die beiden …«, Nenda deutete auf J’merlia und Kallik, »…hinausschicken.«

Atvar H’sial schwenkte ihre gelben Trompetenhörner herum und begutachtete zunächst den Hymenopter, dann den Lo’tfianer, der unter ihrem Panzer kauerte.

»Ist das denn für die beiden ungefährlich?«, übersetzte J’merlia.

»Wohl kaum.« Nenda hob die buschigen Augenbrauen. »Na, hören Sie mal, was haben Sie denn erwartet? Karneval auf Primavera? Im Augenblick gibt’s nirgends auf ganz Erdstoß ’nen Ort, an dem man sich gefahrlos aufhalten kann, und das wissen Sie auch ganz genau! Ist Ihr Käfer vielleicht besonders licht- und hitzeempfindlich? Ich will ihn ja schließlich nicht rösten!«

»Nicht sonderlich empfindlich«, übersetzte J’merlia, ohne jegliches Zeichen von Emotionen. »Mit Wasser kann J’merlia Hitze und schlechte Luft über einen langen Zeitraum ertragen, auch ohne Atemfilter. Aber die Kommunikation zwischen Ihnen und mir …«

»Vertrauen Sie mir!« Nenda deutete auf J’merlia und wies dann mit dem Daumen ruckartig auf die Luke. »Raus! Ihr beide!« Dann wechselte er in die Sprache der Gemeinschaft. »Kallik, nimm reichlich Wasser für J’merlia mit! Wir werden euch sagen, wann ihr wieder reinkommen könnt.«

Er wartete, bis die beiden Nichtmenschen aus dem Schiff gestiegen waren und die Luke sich wieder ganz geschlossen hatte, dann machte er ein paar Schritte und setzte sich in den Schatten von Atvar H’sials Panzer. Er atmete tief durch und öffnete sein Hemd, legte die Brust frei; sie war vollständig mit einem Netz grauer, leberfleckenartiger Knötchen und tiefen, punktförmigen Narben überzogen. Er schloss die Augen und wartete.

»Haben Sie Geduld!« Allmählich wurde der Pheromon-Code freigesetzt. »Das ist nicht einfach … und in letzter Zeit … hatte ich wenig Gelegenheit zum Üben.«

»Ah.« Mit ihrem blinden Kopf nickte Atvar H’sial und richtete ihre Rezeptoren dann auf die Brust des Menschen aus. »Eine Zardalu-Erweiterung, nehme ich an? Ich habe davon gehört, Derartiges aber noch nie gesehen. Darf ich fragen, welchen physischen Preis Sie dafür gezahlt haben?«

»Den üblichen.« Auf Louis Nendas Gesicht zeichnete sich eine gewisse, raue Verzückung ab. »Schmerzen — der Festpreis für jede einzelne Zardalu-Erweiterung. Das ist in Ordnung — damit kann ich umgehen. Ich werde weiterhin wie ein Mensch sprechen, wenn Ihnen das nichts ausmacht. Das erleichtert es mir, meine Gedanken zu ordnen.«

»Aber dafür besteht keinerlei Notwendigkeit!« Neben der eigentlichen Wortbedeutung fingen nun Louis Nendas Pheromon-Rezeptoren Atvar H’sials Geringschätzung und verächtliche Belustigung auf. »J’merlia ist mir gegenüber völlig loyal, und ich nehme an, dass es bei Kallik Ihnen gegenüber genauso ist. Beide würden lieber sterben, als irgendetwas über das Gespräch zwischen uns verraten.«

»Das ganz, gewiss.« Louis Nenda lachte leise. »Dafür hätte ich dann auch schon gesorgt. Aber ich weiß nicht, wie klug J’merlia ist. Dinge können immer auch rein zufällig in Erfahrung gebracht werden, vor allem wenn die Fragen geschickt gestellt werden. Eine Möglichkeit, das zu verhindern, heißt zu verhindern, dass sie überhaupt zuhören.« Aus dem leisen Lachen wurde ein eher unzufriedenes Schnauben. »Also gut, kommen wir zum Geschäft und bringen das hier so schnell wie möglich zu Ende! Das ist wirklich anstrengend für mich.«

»Wir benötigen ein Protokoll für den Informationsaustausch.«

»Ich weiß. Mein Vorschlag lautet wie folgt: Ich mache eine Aussage. Sie können diese bestätigen, ihr Widersprechen oder eine eigenständige Aussage treffen, aber niemand ist hier verpflichtet, Fragen des anderen zu beantworten. Ich meine das folgendermaßen: Tatsache ist, dass Sie keinerlei Interesse an Lebensformen unter extremem Umweltstress auf Erdstoß haben. Das ist Humbug. Sie sind hierher gekommen, weil Sie eine Expertin auf dem Gebiet der Baumeister sind.«

»Ihnen gegenüber werde ich das nicht leugnen.« Atvar H’sial richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Die rot-weiße Halskrause wurde breiter. »Ich bin mehr als nur ›eine Expertin‹. Auf dem Fachgebiet der Baumeister bin ich die Expertin der Cecropia-Föderation!« Die Pheromone verrieten einen Stolz, den Worte niemals hätten übermitteln können. »Ich war die Erste, die das Geheimnis von ›Tantalus‹ ergründet hat; die Erste — und Einzige —, die jemals einen ›Leuchter‹-Transit überlebt hat. Ich habe die Bedeutung des Gezeitensturms schon begriffen, bevor Darya Lang töricht genug war, ihre Befunde zu veröffentlichen. Ich …«

»Schon gut. Sie haben richtig was drauf, schon kapiert!« Langsam beruhigte sich Nendas Atmung wieder. »Jetzt kommen Sie schon mit dem rüber, was ich wirklich wissen muss, sonst sind wir immer noch hier, wenn der Gezeitensturm loslegt, und werden alle geröstet!«

»Also gut. Sie sind hier, weil Sie wissen wollen, was während des Gezeitensturms geschieht. Aber ich behaupte, dass diese Idee nicht von Ihnen selbst stammt. Sie kennen sich zu wenig in der Geschichte oder mit den Naturwissenschaft aus. Irgendjemand anderes hat die Ideen von Darya Lang übernommen und Ihnen gesagt, wie wichtig dieser Ort und dieser Zeitpunkt sind. Es wäre von Interesse zu erfahren, wer diese Person ist.«

»Also, das hört sich für mich ganz wie ’ne Frage an, auch wenn sie nicht als solche gestellt wurde. Aber ich erzähl’s Ihnen trotzdem.« Ruckartig deutete Nenda mit dem Daumen auf die Luke des Schiffes. »Kallik.«

»Ihr Hymenopter? Ein Sklave!« Atvar H’sial war mehr als nur überrascht. Sie war empört. »Es ist nicht angemessen für eine Sklaven-Spezies, derart hochgeistige Arbeit zu verrichten.«

»Ach, Blödsinn!« Nenda grinste. »Die hat doch Köpfchen — soll sie das doch zu meinem Vorteil benutzen! Außerdem macht es sie glücklich, in ihrer Freizeit zu lesen und Berechnungen anzustellen. Sie hat die Arbeiten dieser Lang gelesen, und dann hat sie alles allein ausgerechnet. Sie ist zu dem Schluss gekommen, dass genau das hier der richtige Ort und die richtige Zeit seien. Dann war sie auf einmal ganz aufgeregt und wollte unbedingt davon erzählen. Und ich habe gesagt: nichts da! Wir werden niemandem davon erzählen — und wir werden persönlich nach Erdstoß reisen! Und da sind wir nun. Aber ich möchte gerne mit Ihnen ein paar Erfahrungen austauschen, und zwar über etwas spezifischere Dinge. Reden wir doch mal darüber, was hier während des Gezeitensturms nun eigentlich passieren wird!«

»Das klingt nun wieder für mich wie eine Frage. Ich ziehe es vor, darauf nicht zu antworten.«

»Dann werde ich stattdessen eine Aussage treffen. Ich erzähle Ihnen jetzt, was Kallik ausgehend von ihren eigenen Studien dazu meint, und Sie können das dann gerne kommentieren, wenn Sie möchten. Sie sagt, dass die Baumeister zurückkehren werden — hierher, und zwar während des Gezeitensturms. Das Geheimnis ihrer Technologie und der Grund für ihr Verschwinden wird all denen enthüllt werden, die sich dann auf Erdstoß aufhalten. Wie gefällt Ihnen das?«

»Auch das ist eine Frage, keine Aussage, aber ich werde darauf antworten. Kalliks These ist durchaus plausibel. Aber nichts davon darf man als gesichert ansehen. Es gibt keinerlei klaren Hinweis auf eine Rückkehr der Baumeister.«

»Dann wird man das wohl einfach hinnehmen müssen. Und was Kallik nicht gesagt hat — aber das denke ich, und es würde mich nicht überraschen, wenn Sie mir da weit voraus wären! —, ist, dass jeder, der über den Schlüssel zur Baumeister-Technologie verfügt, verdammt viel Macht in diesem Spiralarm erlangen dürfte.«

»Dem stimme ich zu. Der Zugang zur Baumeister-Technologie wird der Lohn für alle Mühen sein.«

»Für manche vielleicht. Aber das ist immer noch nicht der einzige Grund dafür, dass Sie hier sind.« Nenda kam noch näher und erdreistete sich sogar, mit dem Zeigefinger gegen Atvar H’sials schimmernden Brustpanzer zu tippen. »Tatsache ist: Sie sind auch so ein Baumeister-Fanatiker genauso wie Lang und Kallik. Ihr alle glaubt, ihr werdet die Baumeister wirklich kennenlernen — und das in siebzig Stunden. Wissen Sie, wie Kallik diesen Gezeitensturm nennt? Die Epiphanie — das Erscheinen der Götter!«

»Ich möchte es lieber das ›Erwachen‹ nennen. Akzeptieren Sie denn, dass ein Ereignis immenser Tragweite bevorsteht?«

»Verdammt, ich weiß es doch nicht! Was meinen Sie mit ›immenser Tragweite‹? Ich bin mir verdammt sicher, dass hier keine Götter auftauchen werden. Das Ganze ist doch nur wilde Spekulation und hat verdammt wenig Aussicht auf Erfolg, aber der Gewinn, der uns hier lacht, macht jedes Risiko wett. Und so liebe ich das Spiel. Denn ich bin ein Spieler, und am liebsten setze ich bei äußerst hohen Quoten.«

»Sie täuschen sich. Das ist nicht nur wilde Spekulation. Es wird passieren!«

Das Atvar H’sial wirklich von dem überzeugt war, was sie sagte, verriet die Zusammensetzung der Pheromone, die sie verströmte. Nenda wusste, dass ihm die äußersten Feinheiten dieser Form der Kommunikation entgingen. Er fragte sich, ob die Cecropianer es vielleicht schon so weit gebracht haben könnte, mit ihren chemischen Botenstoffen auch zu lügen.

»Es gibt bereits jetzt Anzeichen dafür«, fuhr Atvar H’sial fort. »Im ganzen Spiralarm tut sich etwas in den Artefakten. Und was sich da tut, weist alles hierher.«

»He, mich brauchen Sie nicht zu überzeugen! Ich bin achthundert Lichtjahre weit gefahren, nur um diesen Dreckhaufen hier aufzusuchen — und Ihre Artefakte interessieren mich nicht einen feuchten Kehricht! Die können Sie meinetwegen geschenkt haben — Sie sind ja genau so schlimm wie Kallik! Mir persönlich reichen da schon ein paar neue Informationen über die Technologie der Baumeister. Aber ich habe noch eine Frage: Warum sind Sie hierher gekommen, warum wollten Sie mit mir sprechen, selbst auf die Gefahr hin, dass ich Sie vielleicht einfach zu Klump schieße? Auf jeden Fall nicht bloß, um mit mir und Kallik ein paar Erfahrungen auszutauschen, soviel ist schon mal klar!«

»Ah. Das ist wahr. Ich bin hierher gekommen, weil Sie mich brauchen. Und weil ich Sie brauche.« Atvar H’sial deutete auf die Luke und auf die kahle Steinwüste, die Erdstoß ihnen hier zeigte. »Wenn Sie und ich die Einzigen auf dieser Welt wären, dann wären wir auch die Einzigen, die vom Wissen um neue Baumeister-Technologie würden profitieren können. Vielleicht würden wir uns später darum streiten, wer diese neue Macht, die uns die Baumeister verliehen haben dürften, würde nutzen dürfen, aber einen derartigen Wettstreit wäre ich zu akzeptieren bereit.«

»Mhmm, das war dann Ihr Bier! Aber ich verstehe immer noch nicht, warum Sie zu mir gekommen sind.«

»Weil wir heute nicht die Einzigen auf Erdstoß sind. Es sind noch andere hier, die dieses neue Wissen zum Wohle der Wissenschaft sofort allen zur Verfügung stellen würden. Nun sind Sie, Louis Nenda, kein Wissenschaftler, sondern Abenteurer. Sie sind hier, um selbst reich zu werden.«

»Ganz genau. Und das Gleiche gilt auch für Sie.«

»Vielleicht.« In Atvar H’sials Antwort schwang Belustigung mit; langsam begann Louis Nenda zu begreifen, wie man das zu interpretieren hatte. »Aber wir beide wollen nicht, dass die Macht der Baumeister unter weiteren aufgeteilt wird. Rebka, Graves und Perry befinden sich auf Erdstoß. Sie sind unmittelbar nach uns über ›Nabelschnur‹ angekommen. Sie werden das neue Wissen nicht für sich behalten wollen. Dagegen werden wir etwas unternehmen müssen, aber wir haben keine Möglichkeit herauszufinden, wo sie sich gerade aufhalten.«

»Ich war eigentlich der Ansicht, dass die Ihnen folgen. Was ist mit Darya Lang? Sie ist doch zusammen mit Ihnen angekommen.«

»Kein Problem. Man hat sich ihrer … bereits angenommen.«

Die Pheromone übermittelten kalte Gewissheit. Lange herrschte Schweigen.

»Na ja, also gut«, ergriff Louis Nenda schließlich wieder das Wort. Seine Stimme klang sehr sanft. »Sie sind wirklich ein eiskaltes Miststück, was?«

Der Saugrüssel der Cecropianerin zitterte. »Wir bemühen uns, stets zufrieden zu stellen.«

»Und Sie gehen ein Risiko damit ein, das vor mir zuzugeben.«

»Das denke ich nicht.« Einen Augenblick lang schwieg Atvar H’sial. »Es gibt kein Risiko. Nicht für jemanden, der die Dateien über Lascia Vier gelesen und sie immer noch im Gedächtnis hat. Darf ich mir erlauben, Ihrem eigenen Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge zu helfen? Eine medizinische Versorgungskapsel, auf dem Weg nach Lascia Vier, wurde geplündert. Sie hat den Planeten niemals erreicht, und ohne die Viral-Inhibitoren, die sich an Bord dieser Kapsel befanden, sind dreihunderttausend Menschen gestorben. Ein biotechnisch erweiterter Mensch, begleitet von einem Hymenopter-Sklaven, trug die Schuld an dieser Ungeheuerlichkeit. Der Hymenopter fand den Tod, doch der Mensch konnte entkommen und konnte seitdem nicht festgesetzt werden.«

Louis Nenda schwieg.

»Aber was nun die anderen Menschen betrifft«, fuhr Atvar H’sial fort. »Wir können sie nicht aufspüren. Vor allem Graves beunruhigt mich.«

»Der ist wahnsinnig.«

»Das ist wahr. Und er kann in mir und in Ihnen lesen wie in einem Buch — selbst ohne Erweiterungen versteht er genau, was ich denke. Er ist zu gefährlich. Ich möchte, dass er aus dem Weg geräumt wird. Ich möchte, dass alle drei aus dem Weg geräumt werden!«

»Verstanden. Aber ich kann die auf Erdstoß ebenso wenig finden wie Sie. Was also schlagen Sie vor?«

»Sie werden Erdstoß vor dem Gezeitensturm verlassen. Entkommen werden sie mit Hilfe von ›Nabelschnur‹. Das wäre auch meine Wahl gewesen, diesen Planeten wieder zu verlassen, bis ich Ihr Schiff habe eintreffen sehen und begriff, dass es auch auf Raumfahrt ausgelegt ist.«

»Bis zum Ende der Galaxis, wenn ich das möchte. Ich verstehe, dass das für Sie sehr nützlich sein könnte: Sie könnten Erdstoß verlassen, ohne das Risiko eingehen zu müssen, irgendwo auf Graves zu stoßen. Aber was haben Sie mir anzubieten? Ohne grob erscheinen zu wollen: Ich bin doch nicht Ihre gute Fee! Warum soll ausgerechnet ich Ihnen die Chance verschaffen, Erdstoß problemlos und wann’s Ihnen passt verlassen zu können? Ich hab mit Rallik abgemacht, wir würden uns genauestens auf der Oberfläche des Planeten umsehen, genau an der Stelle, die sie bezeichnet hat; aber wenn der Gezeitensturm-Zauber losgeht, werden wir uns das Schauspiel vom Orbit aus ansehen! Aber das gilt für mich und Kallik. Ich betreibe doch kein Taxiunternehmen! Also: Warum sollte ich Ihnen helfen?«

»Weil ich die Steuercodes von ›Nabelschnur‹ kenne. Sämtliche Steuercodes.«

»Aber warum sollte mich interessieren …« Langsam hob Louis Nenda den Kopf, blickte zu der Cecropianerin hinauf, und im gleichen Augenblick senkte sie ihren augenlosen Kopf.

»Sie haben verstanden?« Die Pheromone fügten dem noch eine weitere Botschaft hinzu — stärker und doch deutlich subtiler als jedes Wort: Freude, Triumph, Tod.

»Durchaus. Das ist ja nun mehr als deutlich. Aber was ist mit denen?« Nenda deutete zum Fenster. J’merlia und Kallik hatten sich auf den heißen Boden gekauert, versuchten hinter dem Raumschiff Schutz vor der sengenden Sommersonne von Mandel zu finden. Beide zitterten, und J’merlia schien zu versuchen, den Hymenopter zu beruhigen. »Ich bin bereit, auf Ihren Vorschlag einzugehen, aber ich werde die keinesfalls mitschleppen, um ein paar Zeugen dabei zu haben.«

»Einverstanden. Und wir brauchen sie auch nicht. Alles, was J’merlias Sensitivität gegenüber Strahlung im Wellenlängenbereich eines halben Mikrometers betrifft, vermögen Sie ebenso zu leisten.«

»Ich kann sehen, falls Sie das meinen.« Nenda stand bereits an der Luke und rief Kallik zu sich. »Hören Sie, ich bin nicht bereit, die hier beim Schiff zu lassen. Ich bin nicht einmal bereit, das Schiff hier zu lassen. Wir fliegen also zu ›Nabelschnur‹ hinüber. Und lassen J’merlia und Kallik hier. Sie sollen hier auf uns warten.«

»Mein Vorschlag sieht ein wenig anders aus.« Atvar H’sial streckte ihre Hinterbeine jetzt zur Gänze und überragte Louis Nenda nun in durchaus bedrohlichem Maße. »Wir wollen ja schließlich auch nicht, dass sie den Flugwagen benutzen.«

»Kallik wird den nicht anrühren, wenn ich ihr das verbiete.« Nenda wartete, während die Cecropianerin ihn anstarrte. Selbst die leisen Obertöne ihrer Pheromonausschüttung waren verklungen. »Na gut! Von mir aus also: Wir lassen sie nicht hier! Kein Risiko ist besser als ein kleines Risiko — und ich weiß nicht genau, was von Ihrem Lo’tfianer zu halten ist. Wie wollen Sie vorgehen?«

»Sehr einfach. Wir werden ihnen ein Funkfeuer und einige Vorräte geben und sie dann an einem angemessenen Ort zwischen diesem Landeplatz hier und ›Nabelschnur‹ aussetzen. Wenn wir unsere Angelegenheiten erledigt haben, steuern wir das Funkfeuer an, holen sie an Bord, schauen uns den Ort an, an dem das Erwachen stattfinden wird — und brechen dann in den Orbit auf, bevor es auf der Oberfläche zu gefährlich wird.«

»Angenommen, die Bedingungen auf der Oberfläche verschlechtern sich, wo genau sollen wir die beiden dann lassen? Perry schwört ja Stein und Bein, dass es richtig heftig hier unten wird, und ich glaube nicht, dass er uns bewusst angelogen hat.«

»Wenn die Bedingungen sich zu rapide verschlechtern, dann wäre das wirklich bedauerlich.« Atvar H’sial stand da, den Kopf zur Seite gedreht, während J’merlia und Kallik vor der offene Luke warteten. Beide Sklaven zitterten vor Furcht und Anspannung. »Aber Sie werden problemlos einen neuen Hymenopter finden. Und auch wenn J’merlia seine Dienste mir gegenüber stets in befriedigendem Maße erledigt hat — sogar in mehr als befriedigendem Maße: Ich würde es sehr bedauern, auf seine Dienste verzichten zu müssen —, aber sollte das der Preis sein, den wir zu zahlen haben — der Preis … für einen größeren Erfolg … nun ja …«

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