18 Gezeitensturm minus fünf

Die Sommer-Traumschiff war sorgfältig verborgen.

Die Pentacline-Senke war die größte Auffälligkeit der Oberfläche von Erdstoß. Einhundertfünfzig Kilometer breit, strotzend vor lebhafter, kräftiger Vegetation, konnte man sie vom All aus schon auf eine Entfernung von einer halben Million Kilometern erkennen, ein seesternförmiger, rötlich-brauner Fleck auf der staubgrauen Oberfläche von Erdstoß. Zugleich war die Pentacline-Senke auch der tiefste Punkt des Planeten. Die fünf Täler der Senke, die strahlenförmig von der mittleren Vertiefung in alle Richtungen abgingen und dabei immer flacher wurden, mussten einen Höhenunterschied von mehr als achthundert Metern zurücklegen, um die Höhe der sie umgebenden Ebene zu erreichen.

Das kleine Raumschiff war nahe der Mitte des nördlichen Seitenarms gelandet, an einem Punkt, wo die dichte Vegetation durch eine kleine, flache ›Insel‹ aus schwarzem Basalt durchbrochen war. Doch das Schiff hatte sich dem kahlen Felsbrocken in einem sehr flachen Landeanflugwinkel genähert und war bis ganz an die Kante vorgerutscht. Nun war es durch kräftigen neuen Pflanzenwuchs vor der Entdeckung aus größerer Höhe fast vollständig geschützt. Die Sommer-Traumschiff, kaum größer als ein Flugwagen, war unter einem dichten Dach aus Laub, einem Dach, das fünf Meter Durchmesser besaß, verborgen. Niemand befand sich an Bord, und alle Lebenserhaltungssysteme waren deaktiviert. Nur die Reststrahlung des Bose-Antriebs verriet überhaupt die Anwesenheit des Schiffes.

Max Perry stand an Bord des verlassenen Schiffes und blickte sich erstaunt um. Mit dem Kopf stieß er fast gegen das Dach, und der ganze Wohnraum war kaum drei Meter breit. Mit einem einzigen Schritt kam er von der Haupteinstiegsluke zur winzigen Kombüse; ein weiterer Schritt, und schon stand er vor den Instrumenten.

Er begutachtete die einfachen Displays mit ihren Dutzenden bunter Hebelchen und Anzeigen und schüttelte den Kopf. »Das ist doch nur ein Spielzeug! Ich wusste nicht, dass man mit so etwas Kleinem überhaupt in das Bose-Netzwerk hineinkommt!«

»So ist das eigentlich auch nicht gedacht.« Graves hatte sich wieder unter Kontrolle. Er sah zwar immer noch nicht ganz gesund aus, doch seine Finger zuckten nicht mehr so heftig, und über sein knochiges Gesicht brandeten nicht unablässig die unterschiedlichsten Emotionen hinweg. »Das hier ist als kleines Touristen-Schiff konstruiert worden, für kleine Ausflüge innerhalb des Systems. Die Konstrukteure haben nicht damit gerechnet, dass nachträglich noch ein Bose-Antrieb eingebaut werden würde, und ganz gewiss wäre niemand auf die Idee gekommen, damit derart viele Bose-Transits hintereinander durchzuführen. Aber so ist das eben auf Shasta — auf diesem Planeten haben die Kinder das Sagen. Die Carmel-Zwillinge haben ihre Eltern einfach überredet.« Er wandte sich zu J’merlia um. »Würdest du bitte Kallik sagen, sie soll damit aufhören, bevor sie noch irgendetwas Gefährliches anstellt?«

Das kleine Hymenopter-Weibchen war hinüber zum Antrieb des Schiffes gelaufen. Dessen Abdeckung hatte sie entfernt und spähte nun hinein. Nun, als Graves mit J’merlia gesprochen hatte, drehte sie sich um.

»Das ist gefahrlos«, übersetzte J’merlia, nachdem er kurz einer Reihe Klick- und Pfeiflauten gelauscht hatte. »Bei allem Respekt, Kallik sagt, sie sei das genaue Gegenteil von ›gefährlich‹. Sie weiß, dass jemand, der so dumm ist wie sie, nur wenig über etwas so Kompliziertes wie einen Bose-Antrieb wissen kann, aber sie ist sich recht sicher, dass die Energieeinheit dieses Antriebs hier erschöpft ist. Sie kann auch nicht wieder einsatzbereit gemacht werden. Es ist fraglich, ob dieses Schiff hier überhaupt in der Lage wäre, auch nur in eine enge Umlaufbahn einzuschwenken. Anhand des schwachen Signals, das die Detektoren des Schiffes ihres Meisters aufgefangen hatten, als sie die Oberfläche des Planeten scannten, hatte sie Derartiges bereits vermutet.«

»Das würde auch erklären, warum die Zwillinge Erdstoß nicht wieder verlassen haben.« Perry hatte sich dem Display zugewandt und ging nun das Computerlogbuch durch. »Und das passt auch zu der sonderbaren Route, die sich die beiden ausgesucht haben. Hier steht eine Bose-Netzwerk-Sequenz, mit der die beiden mit zwei weiteren Transits zuerst in das Dobelle-System gekommen wären und dann geradewegs auf das Gebiet der Zardalu-Gemeinschaft; aber diese Route zu nehmen war ihnen ohne eine neue Bose-Energiequelle nicht möglich. Sie hätten eine neue auf ›Mittelstation‹ bekommen können, aber das konnten sie natürlich nicht wissen. Also war der einzige andere Ort, den sie in diesem System hätten aufsuchen können, Opal, und dort hätten wir ihre Ankunft sofort bemerkt.«

»Was bedauerlicherweise hier nicht der Fall war. Also wie sollen wir sie denn nun finden?« Graves ging zur Luke hinüber und spähte hinaus, dann ließ er seine Fingerknöchel knacken. »Ich habe wirklich einen Verweis verdient, wissen Sie? Ich war irgendwie davon ausgegangen, dass, sobald wir das Schiff gefunden hätten, mit dem sie hierher gekommen sind, alles vorbei sei. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass die vielleicht draufgängerisch genug sein könnten, das Schiff zu verlassen und sich auf der Oberfläche von Erdstoß herumzutreiben.«

»Den Verweis können Sie gerne haben, wenn Sie wollen. Aber selbst wenn Sie die beiden finden, wie wollen Sie denn dann mit den Zwillingen verfahren?«

»Überlassen Sie das ruhig mir! Mein Spezialgebiet, verstehen Sie? Wir sind konditionierte Lebewesen, Commander. Wir nehmen an, alles was wir selbst wissen, sei einfach, und alles andere sehr geheimnisvoll.« Mit seinem dünnen Arm, der unter dem schwarzen Stoff seiner Kleidung irgendwie noch dürrer wirkte, deutete er auf das gesamte Gebiet der Pentacline-Senke. »All das hier erscheint mir sehr geheimnisvoll. Die beiden verbergen sich irgendwo dort draußen. Aber warum sollten sie dieses Schiff verlassen, das doch ein gewisses Maß an Sicherheit bietet, und dorthin gehen?«

Vom Schiff aus war nur eine einzige, grüne Masse von Rankpflanzen zu erkennen, saftig, dicht verflochten. Erdstöße ließen die Senke die ganze Zeit über erzittern, was dem Urwald dort draußen tatsächlich ein eigenes Bewusstsein und wahre Nervosität zu verleihen schien.

»Die sind dorthin gegangen, weil sie dachten, es sei ungefährlich, und damit niemand sie finden würde. Aber ich kann sie finden.« Perry warf einen Blick auf seine Uhr. »Wir müssen uns beeilen. Es ist schon Stunden her, dass wir von dem Funkfeuer aus aufgebrochen sind. J’merlia.« Er wandte sich dem besorgten Lo’tfianer zu. »Wir haben euch versprochen, wir würden euch in vier Stunden wieder dorthin zurückbringen, wo ihr vorher wart. Und das wird auch so sein. Kommen Sie, Allianzrat! Ich weiß, wo die sein werden — ob nun lebendig oder tot.«

Außerhalb des Schiffes schien die Atmosphäre in der Senke dichter und drückender zu sein, zehn Grad heißer als auf der Ebene. Schwarzer Basalt zitterte unter ihren Sohlen, er war heiß und pulsierte wie die Schuppenhaut eines gewaltigen Untieres. Perry ging bis zur Kante des Felsplateaus und schaute sich sorgfältig um.

Graves folgte ihm und wischte sich über die schweißnasse Stirn. »Wenn Sie auf Fußabdrücke spekuliert haben, dann möchte ich Sie ja nicht entmutigen, aber …«

»Nein. Wasserabdrücke.« — Perry kniete sich auf den Boden. »Ablaufmuster. Auf Erdstoß gibt es zahlreiche kleine Seen und Tümpel. Die hier heimischen Tiere kommen damit prima zurecht, aber die können auch mit Wasser leben, das Sie oder ich nicht würden trinken können. Und sobald die Carmel-Zwillinge ihr Schiff verlassen haben, werden sie Trinkwasser benötigen.«

»Vielleicht haben sie ja einen Aufbereiter.«

»Den werden sie ganz gewiss haben, und sie werden ihn auch brauchen — Trinkwasser ist auf Erdstoß ein ziemlich relativer Ausdruck. Sie oder ich würden das nicht trinken können, und Geni und Elena Carmel auch nicht.« Mit der Hand fuhr Perry über eine glatte, keilförmige Einbuchtung im Fels. »Wenn die noch leben, dann werden sie in der Nähe des Wassers bleiben. Und es ist völlig egal, wohin die beiden zuerst gegangen sind, als sie von diesem Felsen aufgebrochen sind — und das muss so sein, schließlich ist ihr Sommer-Traumschiff noch hier —, denn sie müssen hier, entlang einer der Ablaufrinnen geblieben sein. Das hier ist eine davon, eine gute, richtig tief ausgewaschene. Eine weitere ist dort drüben, fast genau so deutlich ausgeprägt. Aber diese Felsplatte hier ist ein wenig geneigt, und wir sind hier auf der etwas niedrigeren Seite. Also werden wir die hier zuerst ausprobieren.«

Vorsichtig ließ er sich über die Kante gleiten. Graves folgte ihm, er verzog das Gesicht, als er mit der bloßen Hand den Basalt berührte. Der Felsen war wärmer als sein eigenes Blut, fast schon heiß genug, um sich daran zu verbrennen. Rasch bewegte Perry sich vorwärts, er rutschte auf seinem Hinterteil eine Schräge von mindestens dreißig Grad Neigung hinab, durch einen herabhängenden Vorhang dichter Kletterpflanzen mit dunkelroten Adern hindurch.

»Warten Sie auf mich!« Graves hob einen Arm, um seine Augen zu schützen. Scharfkantiges Laub zerschnitt ihm den Handrücken und hinterließ auch Wunden auf seinem ungeschützten, kahlen Schädel. Dann war er hindurch, unter der Bodenvegetation hinweg, die die erste Ebene der Pentacline-Senke kennzeichnete.

Das Licht von Mandel und Amarant war hier zu einem blaugrünen Schatten gedämpft. Kleine Wesen flogen auf sie zu. Julius Graves dachte zuerst, es seien Insekten oder Vögel, doch nach einer kurzen Anfrage bei Steven wusste er, dass es in Wirklichkeit Pseudohohltiere waren, eher mit fliegenden Quallen vergleichbar als mit irgendeiner anderen Lebensform auf Terra oder Miranda. Aufgeschreckt zwitscherten die Tiere und flüchteten vor Graves in das Halbdunkel des Waldes. Nach wenigen Metern war die Temperatur unter dem Blätterdach sprunghaft um einige weitere Grad gestiegen.

Perry folgte dem Felsbett des Wasserlaufs, zwängte sich zwischen klebrigen, gelben Pflanzenstängeln und hoch aufragenden Pilzgewächsen hindurch, manche höher als zwei Meter. Ganze Wolken winziger, geflügelter Wesen stoben aus den höheren Lagen des Blätterdachs auf und stürzten sich auf sein ungeschütztes Gesicht und seine bloßen Hände.

»Die beißen nicht«, meinte Perry über die Schulter hinweg. »Einfach weitergehen!«

Graves schlug dennoch nach ihnen, versuchte sie von seinen Augen abzuhalten. Er fragte sich, warum Perry keine Atemfilter und Schutzmasken mitgenommen hatte. Während er darüber nachdachte, achtete er nicht darauf, wohin er ging und marschierte geradewegs in den anderen Mann hinein.

»Haben Sie was gefunden?«

Perry schüttelte den Kopf und deutete abwärts. Zwei Schritte vor ihnen verwandelte sich das Flussbett in einen vertikal verlaufenden Schacht. Sorglos beugte sich Graves darüber, doch er konnte keinen Boden erkennen.

»Wollen wir hoffen, dass die nicht da unten sind.« Perry hatte bereits kehrtgemacht.

»Und was ist, wenn das andere auch eine Sackgasse ist?« Wieder knackte Graves mit den Fingerknöcheln.

»Das wäre Pech. Dann müsste uns eine neue Idee kommen, wo sie wohl stecken könnten; aber selbst wenn uns noch etwas einfallen sollte, hätten wir dann ohnehin keine Zeit, dieser Spur nachzugehen. Wir müssen auch an uns selbst denken.«

Statt den felsigen Abhang wieder hinaufzuklettern, ging er erst einige Schritte seitwärts, bahnte sich vorsichtig einen Weg um den Fuß des großen Felsbrockens, bis er auf den zweiten Ablauf stieß. In der Nähe des Wasserlaufs wuchs die niedrige Vegetation sichtlich kräftiger. Zähe Bambusspeere ragten bis auf Kniehöhe hinauf, durchbohrten Stiefelsohlen und zerschnitten den Stoff ihrer Hosen. Reizender Pflanzensaft angebrochener Blätter brannte in den feinen Schnittwunden an ihren Unterschenkeln. Perry fluchte, doch er verlangsamte seinen Schritt nicht.

Nach weiteren zwanzig Metern blieb er stehen und deutete auf irgendetwas. »Da ist noch ein Ablauf. Und irgendein Lebewesen ist hier in letzter Zeit öfters durchgegangen.« Das grau-grüne Seggenried, das neben dem Wasserlauf wuchs, war an mehreren Stellen zertreten und gebrochen. Die zerquetschten Stängel waren von einer braunen Schicht getrockneten Pflanzensafts überzogen.

»Tiere?« Graves beugte sich vor und rieb sich die zerkratzten Schienbeine und Waden, die inzwischen juckten wie verrückt.

»Vielleicht.« Perry hob einen Fuß und drückte dann einen bisher unbeschadeten Halm nach unten, um zu sehen, wie stabil der war. »Aber ich bezweifle das. Was auch immer die niedergedrückt hat, war ungefähr so schwer wie ein Mensch. Ich habe noch nie von irgendeiner Lebensform hier in der Senke gehört, deren Gewicht auch nur ein Viertel von dem eines Menschen betragen hätte. Wenigstens macht es das uns einfacher, dieser Spur zu folgen.«

Er ging neben dem Ablauf entlang, folgte immer weiter der Spur der niedergetretenen Gräser. Das saftig-grüne Zwielicht hier war immer düsterer geworden, doch es fiel ihm nicht schwer, der Spur weiter zu folgen. Sie verlief parallel zu dem ausgetrockneten Wasserlauf, dann führte sie nach und nach in den Lauf hinein. In dreißig Metern Entfernung war der Boden des Trampelpfades von dichten, zähen Farndickicht überwuchert.

Graves legte Perry die Hand auf die Schulter und ging an ihm vorbei.

»Wenn Sie recht haben«, meinte er leise, »dann ist das von jetzt an hier mein Spiel. Lassen Sie mich vorgehen — allein! Ich rufe Sie, wenn ich Sie brauche.«

Einen Augenblick starrte Perry ihn nur schweigend an, dann gestattete er Graves tatsächlich, an ihm vorbeizugehen. In den letzten fünf Minuten hatte sein Begleiter sich sichtlich verändert. Jede Spur seiner sonst allgegenwärtigen Unsicherheit war verschwunden, stattdessen strahlte er jetzt Stärke, Herzlichkeit und Mitgefühl aus. Er war ein völlig anderer Mann — er verhielt sich so, wie man das von einem echten Ratsmitglied erwartet hätte.

Vorsichtig ging Graves am Bachbett entlang, bis er nur noch wenige Meter von dem dichten Schleier aus Farnen entfernt war. Er blieb stehen, lauschte, und nachdem er einige Sekunden gewartet hatte, nickte er kurz und wandte sich zu Perry um. Er winkte, eine geradezu groteske Bewegung, dann teilte er den Farnvorhang und trat in das düstere Innere des Dickichts.


Es waren die Carmel-Zwillinge, sie mussten es einfach sein, auch wenn Perry darauf gewettet hätte, es sei anders, als er, Graves und Rebka von Opal aufgebrochen waren. Doch was redete Graves denn mit ihnen, so tief in der Dunkelheit verborgen?

Einige Minuten in der Pentacline fühlten sich, so nah vor dem Gezeitensturm, an wie Stunden. Die Hitze und die Luftfeuchtigkeit waren entsetzlich. Immer und immer wieder blickte Perry auf die Uhr, er konnte einfach nicht glauben, dass die Zeit so langsam verstrichen sein sollte. Obwohl es mitten am Tag war, und Mandel immer noch im Begriffstand, aufzugehen, fiel es Perry zunehmend schwer, seine Umgebung zu erkennen. Braute sich dort ein Sturm zusammen, hoch oben in der Atmosphäre? Perry blickte senkrecht nach oben, doch durch die zahlreichen Schichten der Vegetation konnte er nichts erkennen. Unter sich jedoch nahm er zahllose Anzeichen für die Aktivität von Erdstoß wahr. Der wurzelüberwucherte Waldboden bebte und zitterte unablässig.

Noch fünfunddreißig Stunden bis zum Höhepunkt des Gezeitensturms.

Perry hatte die Zeit stets im Kopf, und ebenso immer die gleiche Frage. Sie hatten versprochen, J’merlia und Kallik an den Ort zurückzubringen, an dem sie die beiden gefunden hatten. Das Versprechen hatten sie in gutem Glauben und ohne jeden Hintergedanken gegeben. Doch konnten sie das überhaupt tun, wenn sie doch wussten, dass Erdstoß schon bald eine tödliche Falle sein würde, für jegliche Lebewesen, außer denen, die sich in besonderer Weise an ihre Umwelt angepasst hatten?

Ein plötzlich aufflammendes, gleißendes Licht vor ihm riss ihn aus den Gedanken. Der Farn-Vorhang wurde zur Seite gebogen, dahinter stand Graves und bedeutete ihm mit einer Geste, ihm zu folgen.

»Kommen Sie! Ich möchte, dass Sie das hören: Ein weiterer Zeuge ist hier nur von Vorteil.«

Max Perry bahnte sich seinen Weg durch die stacheligen Farnwedel. Von innen beleuchtet konnte man doch zwischen dem dichten Gestrüpp deutlich weniger erkennen, als er erwartet hatte. Die Farnwedel bildeten nur eine äußere Begrenzung, eine Art natürlichen Zaun, in dessen Mitte ein flexibles Zelt aufgestellt worden war, das von Druckluftspanten gehalten wurde. Graves hielt eine Zeltplane fest, die als Tür diente, und als Perry dann in das Innere des Zeltes trat, war er erstaunt, wie geräumig es war. Die Grundfläche betrug mindestens zehn mal zehn Meter. Selbst mit den nach innen geneigten Wänden bot es verblüffend viel Platz. Und das Mobiliar war erstaunlich komplett: alles, was man für ein normal-luxuriöses Leben brauchte. Ein Gerät zur Steuerung der Temperatur und der Luftfeuchtigkeit summte, sodass im Inneren des Zeltes angenehme Bedingungen herrschten. Und im Ganzen war dieses Zelt ausgezeichnet vor jedem verborgen, der sich bei der Suche nicht mehr als die übliche Mühe gab. Kein Wunder, dass die Zwillinge es vorzogen, sich hier aufzuhalten, statt in der beengten Kabine der Sommer-Traumschiff.

Das Zelt musste außerdem so beschaffen sein, dass keinerlei Licht nach außen drang, oder aber die Beleuchtung war gerade eben erst eingeschaltet worden. Doch Perry blieb nur wenig Zeit, die Leuchtzylinder an den Wänden zu begutachten, ehe die Bewohner des Zeltes seine ganze Aufmerksamkeit forderten.

Elena und Geni Carmel saßen an der dem Eingang gegenüberliegenden Wand, Seite an Seite, die Hände auf die Knie gestützt. Sie trugen gelbbraune Jumpsuits, ihr kastanienbraunes Haar war so geschnitten, dass der Pony ihnen tief über die Stirn fiel. Perrys erster Eindruck — und der war überwältigend — war, die gleiche Person zweimal zu sehen, und beide ähnelten Amy ebenso sehr wie damals auf den Bildern, die man ihm auf Opal gezeigt hatte — es hatte ihm buchstäblich den Atem geraubt.

Doch jetzt, in natura, in der gleißenden Beleuchtung, die im Zelt herrschte, kehrte seine Vernunft schnell wieder zurück. Wenn diese Zwillinge Ähnlichkeit mit Amy hatten, dann nur, weil sie die gleiche Kleidung und einen ähnlichen Haarschnitt trugen. Elena und Geni Carmel wirkten abgekämpft und müde, soweit von Amys forschen, unbesiegbaren Selbstbewusstsein entfernt, wie das nur denkbar war. Die Sonnenbräune, auf den Bildwürfeln noch deutlich zu erkennen, war längst verschwunden, war der Blässe der Erschöpfung gewichen.

Und die beiden Zwillinge unterschieden sich doch voneinander. Auch wenn ihre Gesichtszüge einander deutlich ähnelten, galt das nicht auch für ihren Gesichtsausdruck. Eine von beiden war eindeutig die dominantere — vielleicht war sie einige Minuten früher geboren, oder sie war eine Winzigkeit größer und schwerer?

Sie war auch diejenige, die Max Perry nun in die Augen blickte. Die andere hielt den Blick unverwandt gesenkt, auf den Zeltboden geheftet, blickte nur einmal kurz und scheu mit großen Augen unter erkennbar schweren Lidern zu ihrem neuen Besucher auf. Doch sie schien keinerlei Schwierigkeiten mit Graves zu haben und wandte sich nun ihm zu, als er die Zeltplane schloss und sich den beiden gegenübersetzte.

Dann deutete er auf einen Stuhl neben dem seinen. »Elena …«, er zeigte auf die selbstbewusstere der beiden Zwillinge, »… und Geni haben eine harte Zeit hinter sich.« Seine Stimme klang sanft, fast schüchtern. »Meine Lieben, ich weiß, dass es unschön ist, wieder daran denken zu müssen; aber ich möchte, dass Sie dem Commander genau das erzählen, was Sie gerade mir erzählt haben … und diesmal werden wir das auch aufzeichnen.«

Erneut blickte Geni Carmel kurz zu Perry hinüber und schaute dann ihre Schwester fragend an.

Elenas Finger verkrampften sich um ihre Knie. »Von Anfang an?« Dafür, dass sie so zierlich war, klang ihre Stimme erstaunlich tief.

»Nicht ganz von Anfang an. Sie müssen nicht erzählen, wie Sie auf Shasta die Reise begonnen haben — davon existieren bereits Aufzeichnungen. Bitte fangen Sie damit an, wie Sie auf Pavonis Vier angekommen sind!« Graves hielt den beiden ein kleines Aufzeichnungsgerät entgegen. »Sobald Sie fertig sind, kann die Aufzeichnung beginnen.«

Elena Carmel nickte unsicher und räusperte sich mehrmals. »Das sollte der letzte Planet werden«, begann sie schließlich. »Der letzte Planet, den wir besuchen, bevor wir wieder nach Shasta zurückkehren. Wir wollten eben wieder nach Hause.« Beim letzten Wort brach ihre Stimme. »Also haben wir uns entschieden, wir würden draußen an der Oberfläche bleiben, weg von den anderen Leuten da. Wir haben besondere Ausrüstung gekauft …«, sie machte eine Handbewegung, die das ganze Zelt mit einschloss, »… hier diese Ausrüstung, damit wir auch allein komfortabel leben könnten. Und wir sind mit der Sommer-Traumschiff zu einem der Festland-Torfhügel geflogen, mitten in den Sümpfen — auf Pavonis Vier gibt es ja fast nur Sumpf. Wir wollten weg von der Zivilisation, und wir wollten ja auch nicht die ganze Zeit über an Bord bleiben.«

Sie machte eine Pause.

»Das war meine Schuld«, gestand Geni Carmel, und ihre Stimme, der ihre Erschöpfung deutlich anzumerken war, war einen Ton höher als die ihrer Schwester. »Wir haben so viele Leute gesehen, auf so vielen Welten, und das Schiff war kleiner, als wir vor unserem Aufbruch bedacht hatten. Ich hatte es satt, so beengt leben zu müssen.«

»Wir waren beide erschöpft.« Elena verteidigte ihre kleine Schwester. »Wir haben unser Lager also dreißig Meter vom Schiff entfernt aufgeschlagen, ganz nah am Fuß des Hügels. Als dann das Zwielicht einsetzte, dachten wir, es wäre eine gute Idee, ganz primitiv zu leben, so wie vor zehntausend Jahren auf der Erde, und ein Feuer anzuzünden. Das haben wir gemacht, und das war schön gemütlich und warm, und es sah auch gar nicht nach Regen aus. Also haben wir uns entschlossen, im Freien zu übernachten. Als es dann ganz dunkel war, haben wir unsere Schlafsäcke nebeneinander ausgebreitet, haben nur dagelegen und uns die Sterne angesehen.« Sie legte die Stirn in Falten. »Ich weiß nicht mehr, worüber wir alles geredet haben.«

»Ich schon«, warf Geni ein. »Wir haben darüber geredet, dass das ja jetzt unser letztes Ziel sei und wie langweilig es werden würde, wieder auf Shasta zur Schule zu gehen. Wir haben versucht, die Sonne von unserem Heimatplaneten zu finden, aber die Sternbilder sahen so anders aus, und wir wussten nicht mehr genau, wo unser Zuhause eigentlich ist …« Sie sprach nicht mehr weiter und blickte wieder zu ihrer Schwester hinüber.

»Dann sind wir eingeschlafen.« Auch Elena fiel das Sprechen jetzt sichtlich schwerer. »Und als wir eingeschlafen waren, sind sie gekommen. Die … die …«

»Die Bercia?«, schlug Julius Graves vor. Beide Zwillinge nickten.

»Warten Sie einen Moment, Elena!«, sagte er. »Ich möchte hier ein paar Fakten über die Bercia zu Protokoll genommen wissen. Diese Fakten sind lange bekannt und lassen sich leicht verifizieren. Die Bercia waren Vertebraten, die sich sehr langsam bewegten. Diese nachtaktiven Amphibien, die sich nur auf Pavonis Vier entwickelt haben und auf keinem anderen Planeten zu finden sind, waren extrem photophob. Ihr Leben ähnelte dem der auf der Erde ausgestorbenen Biber. Genau wie die Biber lebten sie in Gemeinschaften, meistens im Wasser, und sie errichteten gemeinsam genutzte Baue. Der Hauptgrund, warum man bei ihnen eine bedingte Vernunftbegabtheit vermutet hat, war die Komplexität dieser Baue. Und um sie zu bauen, verwendeten sie Schlamm und die Äste der einzigen baumartigen Gewächse auf Pavonis Vier. Die wachsen nur in der Nähe der Festland-Torfhügel. Daher war es also praktisch unvermeidbar, dass die Bercia in der Nacht auch den Hügel aufsuchen würden, auf dem die Carmels lagerten.«

Nun wandte er sich wieder Elena zu. »Hat Ihnen irgendjemand etwas über die Bercia erzählt, bevor Sie dorthin aufgebrochen sind? Wer die waren, oder wie die aussahen?«

»Nein.«

»Und Ihnen?«, fragte er, nachdem er sich zu Geni Carmel umgewandt hatte.

Sie schüttelte den Kopf, dann fügte sie noch hinzu: »Nein.« Ihre Stimme war kaum noch hörbar.

»Dann würde ich gern noch eine Beschreibung der Physis der Bercia hinzufügen. Alle Erfahrungen, die Menschen mit dieser Spezies jemals gemacht haben, ließen darauf schließen, dass sie sanftmütig waren und sich ausschließlich von Pflanzen ernährten. Doch um das Xylem der großen Stämme durchkauen zu können, hatten die Bercia kräftige Kiefer und große, scharfe Zähne.« Er nickte Elena Carmel zu. »Bitte erzählen Sie weiter! Beschreiben Sie den Rest der Nacht auf Pavonis Vier!«

»Ich weiß nicht mehr genau, wann wir eingeschlafen sind oder wie lange wir geschlafen haben.« Elena Carmel blickte zu ihrer Schwester hinüber. »Ich bin erst aufgewacht, als ich gehört habe, wie Geni geschrien hat. Sie hat mir erzählt …«

»Ich möchte es von Geni selbst hören.« Mit dem Finger deutete Graves auf ihre Schwester. »Ich weiß, dass es schlimm ist, alles noch einmal wiederholen zu müssen, aber bitte erzählen Sie, was Sie gesehen haben!«

Geni Carmel sah entsetzlich verängstigt aus. Graves beugte sich vor und ergriff ihre Hände. Dann wartete er.

»Pavonis Vier hat einen großen Mond«, begann Geni schließlich. »Ich schlafe nicht so fest wie Elena, und das Mondlicht hatte mich geweckt. Erst habe ich mich gar nicht umgesehen — ich lag einfach nur in meinem Schlafsack und habe zu dem Mond hochgeschaut. Ich kann mich noch erinnern, dass darauf ein dunkles Muster zu erkennen war, wie ein abgerundetes Kreuz auf der Spitze einer Pyramide. Dann hat sich irgendetwas Großes vor den Mond geschoben. Ich dachte erst, es sei eine Wolke oder so was, und ich habe auch gar nicht begriffen, wie nah es war, bis ich seinen Atem gehört habe. Es hat sich genau über mich gebeugt. Ich habe einen abgeflachten, dunklen Schädel gesehen und eine Schnauze voller spitzer Zähne. Und dann habe ich nach Elena geschrien.«

»Bevor wir weitermachen«, warf Graves ein, »möchte ich wieder eine verifizierbare Erläuterung zu Protokoll nehmen. Auf dem Planeten Shasta, der Heimatwelt von Elena und Geni Carmel, gibt es keine gefährlichen Fleischfresser. Aber das war früher anders. Das größte und gefährlichste dieser Tiere war ein vierbeiniger Invertebrat, der als ›Skrayal‹ bezeichnet wurde. Auch wenn dieses Tier anatomisch gesehen keinerlei Übereinstimmungen mit einem Bercia besaß, war er diesem bei oberflächlicher Betrachtung doch ein wenig ähnlich, und er war etwa gleich groß und gleich schwer. Elena Carmel, was haben Sie gedacht, als Ihnen klar wurde, dass ein Bercia sich über Ihre Schwester gebeugt hat, und eine ganze Gruppe dieser Lebewesen rings um Ihre Schlafsäcke stand?«

»Ich dachte … ich dachte, das wären Skrayal. Nur am Anfang.« Sie zögerte, dann sprudelten die Worte regelrecht hervor. »Klar, als ich sie dann besser habe sehen können und ein wenig darüber nachgedacht habe, da wusste ich, dass das ja gar nicht sein konnte, und außerdem haben wir ja nie einen Skrayal gesehen — die waren schon lange vor unserer Geburt ausgestorben. Aber bei uns gibt es überall Geschichten darüber und Bilder von denen, und als ich aufgewacht bin, da wusste ich erst einmal gar nicht, wo ich überhaupt bin — ich habe nur diese riesigen Tiere gesehen, und die Zähne von dem, der sich gerade über Geni gebeugt hat.«

»Was haben Sie getan?«

»Ich habe geschrien, dann nach der Lampe gegriffen und die so hell gemacht, wie das nur ging.«

»Wussten Sie, dass die Bercia hochgradig photophob waren und bei starker Beleuchtung sofort einen tödlichen Schock erleiden würden?«

»Ich hatte keine Ahnung!«

»Wussten Sie, dass die Bercia mutmaßlich intelligent waren?«

»Ich habe doch schon gesagt, dass wir von den Bercia zuvor noch nicht einmal gehört hatten! Wir haben das alles erst später erfahren, als wir die Planeten-Datenbank an Bord der Sommer-Traumschiff durchgegangen sind.«

»Also konnten Sie auch gar nicht wissen, dass das die einzigen Überlebenden ihrer Spezies waren? Und dass die Jungen ohne Pflege durch die Muttertiere nicht überleben konnten?«

»Wir wussten überhaupt nichts über sie. Wir haben das erfahren, als wir nach Capra City zurückgekehrt sind und gehört haben, dass wir mit Haftbefehl gesucht würden.«

»Allianzrat«, unterbrach Perry das Gespräch; wieder blickte er auf seine Uhr, »wir sind schon drei Stunden fort! Wir müssen zurück.«

»Also gut. Wir können hier auch eine Pause machen.« Graves griff nach dem Aufzeichnungsgerät und wandte sich dann wieder Elena und Geni Carmel zu. »Auf Shasta wird eine Untersuchung und ein Prozess stattfinden, unter strenger Einhaltung aller gesetzlichen Regelungen, und auch eine Anhörung auf Miranda. Aber ich kann Ihnen versichern, dass das, was Sie mir bisher schon erzählt haben, ausreichen wird, um Sie auf jeden Fall vom Vorsatz freizusprechen. Dass die Bercia gestorben sind, war ein Unfall; Sie wussten nicht, wen Sie da umbringen, Sie waren völlig verängstigt und noch im Halbschlaf. Für mich bleibt nur noch eine Frage offen: warum Sie geflohen sind. Aber auf diese Erklärung kann ich noch warten.« Er stand auf. »Jetzt muss ich Sie beide festnehmen. Ab jetzt stehen Sie unter Arrest. Und wir müssen diesen Ort hier verlassen.«

Einen Sekundenbruchteil lang blickten die Zwillinge einander an.

»Wir werden nicht gehen«, entgegneten sie atemlos, absolut zeitgleich.

»Das müssen Sie! Sie sind in Gefahr. Wir alle sind in Gefahr.«

»Wir werden hier bleiben und sehen, was geschieht«, erklärte Elena.

Graves blickte sie stirnrunzelnd an. »Sie verstehen nicht — Commander Perry kann Ihnen das genauer erklären, aber ich werde es jetzt ganz einfach ausdrücken: Sie mögen das Gefühl haben, Sie wären hier in Sicherheit, aber Sie haben keine Chance, den Gezeitensturm zu überstehen, wenn Sie hier auf Erdstoß bleiben.«

»Dann lassen Sie uns hier!« Elena Carmel stand kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Wir bleiben hier. Falls wir sterben, wird das doch Strafe genug sein, um alle zufriedenzustellen.«

Graves seufzte und setzte sich wieder. »Commander Perry, Sie müssen jetzt gehen. Gehen Sie zurück zu den anderen und fliegen Sie los! Ich kann hier nicht weg.«

Perry blieb stehen, doch er löste seine Waffe vom Gürtel und richtete sie auf die Zwillinge. »Damit kann man jemanden umbringen, aber man kann diese Waffe auch auf Betäubung stellen. Wenn der Allianzrat das wünscht, dann können wir euch auch bewusstlos zum Flugwagen bringen.«

Beunruhigt starrten die beiden jungen Frauen die Waffe an, doch Graves schüttelte den Kopf. »Nein, Commander«, meinte er mit matter Stimme, »das ist keine Lösung. Wir werden die beiden niemals den Abhang hinaufschaffen können, und das wissen Sie auch. Ich werde hier bleiben. Sie müssen gehen und J’merlia und Kallik erzählen, was hier passiert ist.« Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Und machen Sie schnell, bevor es zu spät ist.«

Donnergrollen in der Ferne verlieh seinen Worten Nachdruck. Perry blicke auf, doch er bewegte sich nicht einen Millimeter.

»Sagen Sie mir warum«, fuhr Graves jetzt fort. Er öffnete die Augen wieder und begann dann, im Zelt auf und ab zu gehen. »Sagen Sie mir, warum Sie nicht mit mir zurückkommen wollen. Glauben Sie, ich sei Ihr Feind — oder dass die Gouverneure der Allianz alle blutrünstige Ungeheuer sind? Glauben Sie, unser ganzes Rechtssystem sei nur darauf ausgelegt, junge Frauen quälen und foltern zu können? Dass der Rat in irgendeiner Weise billigen würde, wenn man Sie misshandelte? Wenn das irgendetwas nutzt, dann gebe ich Ihnen gerne mein persönliches Versprechen, dass Ihnen kein Leid zugefügt wird, wenn Sie jetzt mit mir kommen. Aber bitte erzählen Sie mir, wovor Sie solche Angst haben!«

Fragend blickte Elena Carmel zu ihrer Schwester hinüber. »Sollen wir?« Und dann, als Geni nickte, sagte sie: »Man würde uns einer Behandlung unterziehen. Rehabilitieren. Oder nicht?«

»Naja … ja.« Graves blieb stehen. »Aber doch nur, um Ihnen zu helfen. Das würde die schmerzhaften Erinnerungen löschen — Sie wollen doch nicht den Rest Ihres Lebens immer und immer wieder diese Nacht auf Pavonis Vier durchleben! Das ist eine Therapiemaßnahme. Die schadet Ihnen doch nicht!«

»Das können Sie nicht mit Sicherheit sagen«, widersprach Elena. »Ist die Rehab nicht dazu da, bei Geisteskrankheiten zu helfen? Egal, was für Geisteskrankheiten?«

»Naja, es richtet sich natürlich immer gegen ein besonderes Ereignis oder Problem. Aber es hilft bei allem.«

»Selbst bei einem Problem, das wir gar nicht als ein Problem ansehen.« Zum ersten Mal übernahm Geni Carmel in diesem Gespräch die Führung. »Die Rehab soll uns ›gesünder‹ machen. Aber wir sind nicht ›gesund‹, zumindest nicht gemäß den Definitionen, nach denen Sie und der Rat vorgehen.«

»Geni, ich habe keine Ahnung, wovon Sie da sprechen, aber niemand ist vollkommen ›gesund‹.« Graves seufzte und rieb sich über den kahlen Schädel. »Ich am allerwenigsten. Aber ich würde mich sofort in die Rehab begeben, wenn das als notwendig erachtet würde.«

»Aber angenommen, Sie hätten ein Problem, von dem Sie gar nicht wollten, dass es behoben wird?«, fragte Elena jetzt. »Irgendetwas, das Ihnen wichtiger ist als alles andere in der Welt?«

»Ich weiß nicht, ob ich mir so etwas überhaupt würde vorstellen können.«

»Na, sehen Sie! Und Sie repräsentieren das Denken des Rates«, konstatierte Geni, »das Denken der menschlichen Spezies.«

»Aber Sie sind doch auch Menschen.«

»Aber wir sind anders«, merkte Elena an. »Haben Sie jemals von Mina und Daphne Dergori gehört, von unserer Heimatwelt Shasta?«

Verwirrt hielt Graves inne. »Habe ich nicht«, erwiderte er dann. »Sollte ich denn?«

»Das sind Schwestern«, erklärte Elena. »Zwillingsschwestern. Wir haben sie kennen gelernt, als wir noch ganz klein waren. Sie sind im gleichen Alter wie wir, und wir haben viel gemeinsam. Aber sie und ihre ganze Familie waren in einen Raumschiffunfall verwickelt. Fast alle sind dabei umgekommen. Mina und Daphne und drei weitere Kinder wurden im letzten Moment von einem Mitglied der Besatzung in eine Pinasse geworfen und haben überlebt. Als sie dann nach Hause gekommen sind, wurden sie einer Rehab unterzogen. Damit sie vergessen konnten.«

»Das war doch gut so.« Kurz blickte Graves zu Perry hinüber, der wieder auf seine Uhr deutete. »Und es hat auch bestimmt funktioniert. Oder nicht?«

»Es hat ihnen dabei geholfen, den Unfall zu vergessen.« Geni war bleich, und ihre Hände zitterten. »Aber verstehen Sie denn nicht? Sie haben dabei einander verloren.«

»Wir haben sie wirklich gut gekannt«, ergriff nun wieder Elena das Wort. »Wir haben verstanden, was in ihnen vorging. Sie waren genauso wie wir; sie waren einander genauso nah wie wir. Aber nach der Rehab, als wir sie da wieder getroffen haben … da war diese Nähe weg. Ganz und gar weg. Sie waren einander nicht mehr näher als andere Leute auch.«

»Und das würde uns ebenso ergehen«, fügte Geni hinzu. »Verstehen Sie denn nicht, dass das für uns schlimmer wäre, als zu sterben?«

Einige Augenblicke blieb Graves reglos stehen, dann ließ er sich in einen Stuhl fallen. »Und deswegen sind Sie von Pavonis-Vier geflohen? Weil Sie Angst hatten, wir würden Sie einander wegnehmen?«

»Wäre das denn nicht so?«, fragte Elena nach. »Würden Sie denn nicht wollen, dass wir ein ›normales‹ und ›unabhängiges‹ Leben führen können? Gehört das nicht zur Rehab dazu?«

»Beim Herrn aller Herren!« Jetzt setzten in Graves Gesicht wieder die spastischen Zuckungen ein. »Hätten wir das getan? Hätten wir das wirklich? Ja, das hätten wir wohl. Das hätten wir!«

»Weil Nähe zueinander und Abhängigkeit voneinander ›unnatürlich‹ sind«, hielt ihm Elena verbittert entgegen. »Man würde versuchen, uns zu heilen. Diese Vorstellung ist für uns unerträglich! Deswegen werden Sie uns umbringen müssen, bevor wir mit Ihnen mitkommen. Also gehen Sie jetzt, und lassen Sie uns beisammen bleiben! Wir wollen diese Heilung nicht. Wenn wir sterben, dann wenigstens zusammen!«

Graves schien nicht zuzuhören, »Blind«, flüsterte er. »Ich war blind von meiner eigenen Hybris. Ich war überzeugt davon, dass mir die Gabe verliehen worden wäre, jeden Menschen verstehen zu können. Aber kann ein Individuum überhaupt ein anderes Lebewesen zur Gänze verstehen? Gibt es so viel Empathie? Ich bezweifle es!«

Er richtete sich auf, ging zu den beiden Frauen hinüber und legte die Hände aneinander, wie zum Gebet. »Elena und Geni Carmel, bitte hören Sie mir zu! Wenn Sie jetzt mit mir kommen und einer Rehabilitation für das, was auf Pavonis Vier geschehen ist, zustimmen, wird man Sie nicht trennen. Niemals. Es wird niemals ein Versuch unternommen werden, Ihr Bedürfnis, zusammen zu sein, zu ›behandeln‹ oder die Nähe, die zwischen Ihnen beiden besteht, zu zerstören. Sie werden weiterhin Ihr Leben gemeinsam verbringen können. Das schwöre ich Ihnen, bei jedem einzelnen Atom meines Körpers, mit meiner vollen Autorität als Mitglied des Rates der Allianz.«

Er ließ die Arme sinken und wandte sich um. »Ich weiß, dass ich von Ihnen verlange, mir mehr zu vertrauen, als eigentlich vernünftig wäre. Aber bitte tun Sie es! Besprechen Sie das miteinander! Commander Perry und ich werden draußen warten. Bitte reden Sie miteinander … und sagen Sie mir dann, dass Sie mit uns kommen wollen!«

Zum ersten Mal, seit Perry das Zelt betreten hatte, lächelten die Carmel-Zwillinge.

»Allianzrat«, meinte Elena leise, »Sie haben recht, wenn Sie sagen, Sie würden Zwillinge nicht verstehen. Begreifen Sie denn nicht, dass Sie nicht das Zelt verlassen müssen und dass wir das nicht miteinander besprechen müssen? Wir beide wissen, was der jeweils andere denkt und fühlt.«

Völlig zeitgleich standen die beiden Frauen auf und sagte einstimmig: »Wir werden mit Ihnen kommen. Wann müssen wir aufbrechen?«

»Jetzt.« Perry war nur ein stiller Beobachter gewesen, hatte immer und immer wieder zu den drei Personen geschaut, die vor ihm standen, und dann auf seine Uhr. Zum ersten Mal akzeptierte er die Vorstellung, Julius Graves habe wirklich die Gabe, in einer Art und Weise mit Menschen umzugehen, die Perry niemals würde entwickeln können. »Wir alle müssen jetzt, in diesem Augenblick, aufbrechen. Schnappen Sie sich alles, was Sie unbedingt brauchen, aber nicht mehr als das! Wir waren länger hier, als wir geglaubt haben. Bis zum Gezeitensturm sind es nur noch weniger als sechsunddreißig Stunden.«


Der Flugwagen hob von der schwarzen Basaltoberfläche ab.

Zu langsam, sagte sich Max Perry. Zu langsam und zu träge. Wo liegt denn die Lastgrenze des Wagens? Ich wette, die haben wir fast erreicht.

Er sagte den anderen nichts davon, doch seine innere Anspannung versuchte, den Wagen mit reiner Willenskraft schneller werden zu lassen, bis sie eine sichere Flughöhe erreicht hätten, um dann zu ihrem letzten Landepunkt zurückzukehren.

Anscheinend teilten die anderen seine Besorgnis nicht. Elena und Geni Carmel wirkten erschöpft, sie lagen rücklings in ihren Sesseln im hinteren Teil des Wagens und starrten müde zum gleißenden Himmel hinauf. Graves legte jetzt wieder diese manische Heiterkeit an den Tag, er fragte J’merlia, und mit dessen Hilfe auch Kallik, über die Zardalu-Clade und Kalliks eigene Heimatwelt aus. Perry kam zu dem Schluss, dass es wohl wieder Steven war, der hier agierte, der beständig weitere Informationen aufzusaugen suchte.

Perry selbst blieb nur wenig Zeit, die anderen zu beobachten oder sich zu unterhalten. Auch er war müde — er hatte seit mehr als vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen —, doch die Energie, die Nervosität schenken kann, hielt ihn hellwach. In den letzten Stunden hatte sich die Atmosphäre von Erdstoß sichtlich verändert. Statt unter einem staubigen, aber sonnenlichtdurchfluteten Himmel entlangzurasen, flog der Wagen jetzt unter einer dichten, beständigen Decke aus aufwallenden Wolken hinweg, schwarz und staubigrot. Sie mussten sich unbedingt in Sicherheit bringen, mussten diese Wolkendecke durchstoßen, doch Perry wagte es nicht, den Flugwagen den unkalkulierbaren Scherungen des Windfeldes auszusetzen. Selbst auf der jetzigen Flughöhe, noch weit unterhalb der Wolkendecke, packten und rüttelten immer wieder plötzliche Turbulenzen den Wagen. Es war zu gefährlich, schneller als mit halber Kraft zu fliegen. Immer und immer wieder flammten gezackte Blitze auf, zerrissen staubigrot den Vorhang aus umherwirbelndem Staub, fuhren vom Himmel bis zur Oberfläche des Planeten. Von Minute zu Minute drängte sich die Unterseite der Wolkendecke näher an den Boden heran.

Perry blicke hinunter. Er konnte ein Dutzend versprengter Seen und Tümpel erkennen, die das Wasser, das sich darin gesammelt hatte, an die Atmosphäre abgaben. Erdstoß benötigte diese Wasserdampfschicht, um sich vor den Strahlen von Mandel und Amarant zu schützen.

Wogegen der Planet sich nicht schützen konnte, waren die zunehmenden Gezeitenkräfte. Der Boden rings um die Seen begann zu reißen, aufzuspringen, sich zu heben und zu senken. Die Bedingungen verschlechterten sich stetig, während der Wagen dem Ort immer näher kam, an dem Graves und Perry J’merlia und Kallik gefunden hatten.

Perry kämpfte mit der Steuerung des Wagens, während er das tat, rasten seine Gedanken. Eine Landung unter diesen Bedingungen würde schwer werden. Wie lange würde es dauern, J’merlia und Kallik bei ihrem Schiff abzusetzen und dann wieder in die relative Sicherheit des Luftraums zurückzukehren? Und wenn dort keine Spur von Atvar H’sial und Louis Nenda war, konnten sie die beiden Sklaven wirklich an der Oberfläche des Planeten zurücklassen?

Weit mussten sie nicht mehr fliegen. In zehn Minuten würde er eine Entscheidung treffen müssen.

Und in dreißig Stunden würde der Gezeitensturm über Erdstoß hinwegbranden. Perry riskierte es, die Fluggeschwindigkeit ein wenig zu steigern.

Ein rötliches Licht erschien am Himmel vor ihm. Mit müden Augen betrachtete Perry es genauer.

War das Amarant, den man durch einen Riss in der Wolkendecke erkennen konnte? Bloß waren gar keine Wolken mehr zu sehen. Und die Stelle, an der er das Leuchten wahrnahm, lag zu tief, um der Himmel sein zu können.

Er starrte erneut hin, drosselte die Geschwindigkeit, bis sie nur noch zu kriechen schienen, bis er sich sicher sein konnte. Als er sich dann schließlich sicher war, wandte er sich in seinem Sessel um.

»Allianzrat Graves und J’merlia! Würden Sie bitte nach vorn kommen und mir Ihre Meinung dazu mitteilen?«

Es war eine reine Formalität. Perry brauchte keine zweite Meinung mehr zu hören. In den letzten Stunden hatte es in dieser Gegend immensen Vulkanismus gegeben. Genau dort, wo sie J’merlia und Kallik aufgelesen hatten, glomm die Oberfläche des Planeten jetzt von Horizont zu Horizont orangerot. Rauchende Lavaströme krochen durch ein schwarzes, lebloses Gelände, und nirgends, von Horizont zu Horizont, gab es einen Platz, an dem ein Flugwagen hätte landen können.

Perry erschauerte in geradezu urzeitlicher Ehrfurcht vor dem Schauspiel — und er war immens erleichtert.

Er musste keine einsame Entscheidung fällen. Erdstoß hatte sie ihm abgenommen. Sie konnten sofort die Sicherheit von ›Nabelschnur‹ suchen.

In Gedanken ging er bereits Berechnungen durch. Von ihrer aktuellen Position würden sie sieben Stunden lang fliegen müssen. Dazu noch eine kleine Sicherheitsspanne, für den Fall, dass sie irgendwelchen Stürmen würden ausweichen oder die Fluggeschwindigkeit würden verringern müssen, das machte dann alles in allem zehn Stunden. Und ihnen blieben noch achtzehn Stunden, bis ›Nabelschnur‹ sich von der Erdstoß-Oberfläche lösen würde.

Damit hatten sie ein Sicherheitspolster von acht Stunden. Mehr als reichlich Zeit also.

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