21 Drei Stunden bis zum Gezeitensturm

Hans Rebka war nicht gerade glücklich, aber er war gewiss — das konnte man behaupten, ohne zu lügen — mit dem Verlauf der vergangenen Stunden recht zufrieden.

Seit er diesen Auftrag im Dobelle-System erhalten hatte, hatte ihn das Gefühl von Unsicherheit geplagt — was ihn selbst und was seine Arbeit betraf. Man hatte ihn ausgesandt, um herauszufinden, was mit Commander Maxwell Perry nicht stimmte, und um diesen Mann zu rehabilitieren.

Der Auftrag an sich klang ja sehr einfach. Nur: wie ihn ausführen? Rebka war ein Mann der Tat, kein Psychoanalytiker. Alle Aufträge, denen er bisher zugeteilt worden war, qualifizierten, wie er fand, in keiner Weise für eine derart vage gehaltene Aufgabe.

Jetzt sah das alles anders aus. An der Basis von ›Nabelschnur‹ war er plötzlich zu einer Gruppe völlig Hilfloser gestoßen — für ihn allesamt Nichtmenschen, Außenseiter oder Unschuldige — und hatte den Auftrag erhalten, einen überladenen, mit viel zu wenig Energie ausgestatteten Flugwagen einmal zur entgegengesetzten Seite von Erdstoß zu fliegen und dann noch mit einem Spielzeugraumschiff ins All zu starten, und das alles, bevor dieser Planet ihnen allen den Garaus machte.

Es mochte eine undurchführbare Aufgabe sein, aber wenigstens war sie anständig definiert. Die Regeln, nach denen er seinen Auftrag erfüllen konnte, waren ganz klar.

Diese Regeln hatte er schon vor langer Zeit gelernt, noch auf Teufel. Du schaffst es, oder du stirbst bei dem Versuch. Solange du es nicht geschafft hast, machst du niemals auch nur eine Sekunde lang Pause. Bis du stirbst, gibst du niemals auf.

Er war erschöpft — sie alle waren erschöpft —, doch was Dana Lang für eine Energiereserve oder für neue Energie gehalten hatte, war in Wirklichkeit nur die Freisetzung Unmengen aufgestauter Frustrationen, ein Akt, der zudem noch höchst befriedigend war. Freisetzung von Frustration also hatte Rebka angetrieben, und auf diese Weise würde er auch noch den Gezeitensturm durchstehen.

Sobald der Flugwagen aufgesetzt hatte, drängte Rebka alle auszusteigen. Es war bedeutungslos, wie gefährlich es dort draußen sein mochte, der Wagen würde sie keinen Meter mehr weiterbringen.

Rebka deutete auf den Hang zum Tal hinunter, der mit Blasen übersät schien. »Dahin müssen wir. Das ist die Richtung, in der das Raumschiff liegt.« Dann schrie er, um den grollenden Donner zu übertönen, Max Perry etwas zu, der geistesabwesend ins Leere starrte: »Commander, Ihre Gruppe war doch vor ein paar Tagen hier! Kommt Ihnen irgendetwas bekannt vor?«

Perry schüttelte den Kopf. »Als wir hier waren, war dieses gesamte Gebiet noch dicht bewachsen. Aber halt, da ist das Basaltplateau!« Er deutete auf einen dunklen, hervorstehenden Felsen, vierzig Meter hoch, dessen obere Hälfte unter grauem Rauch verborgen war. »Da müssen wir hin, und dann hinaufklettern! Genau dort oben sollte das Schiff sein.«

Perry nickte. »Noch irgendwelche bösen Überraschungen, die da auf uns warten?« Welche Fehler auch immer Perry haben mochte, er war immer noch der Fachmann für alle Fragen, was die Bedingungen auf Erdstoß anging.

»Kann ich noch nicht sagen. Davon gibt’s auf Erdstoß jede Menge.« Perry bückte sich und legte die Handfläche an den Felsboden. »Ganz schön heiß, aber noch wir können darauf gehen. Wenn wir Glück haben, werden die Buschfeuer die Pflanzen am Fuß des Felsbrockens abgebrannt haben, dann kommen wir da leichter durch als beim letzten Mal. Alles sieht ganz anders aus, jetzt, wo die Vegetation fort ist. Und es ist heißer — viel heißer.«

»Na, dann los!« Mit einer Handbewegung bedeutete Rebka der Gruppe, sich in Bewegung zu setzen. Der Donner wurde immer kräftiger, und rings um sie war es zu laut, als dass man sich hätte unterhalten können. »Sie und Graves gehen voraus! Dann Sie beide.« Er deutete auf die Zwillinge. »Ich übernehme die Nachhut, hinter allen anderen.«

Er drängte sie, endlich loszugehen, ohne eine Diskussion auch nur zuzulassen. Der Flug mit dem Wagen hierher war für alle unglaublich zermürbend gewesen, eine Nervenprobe, doch Rebka wusste, dass es ein Fehler wäre, sie jetzt zu fragen, ob sie sich zutrauten, noch einen oder zwei Kilometer durch wirklich schwieriges Gelände zu marschieren. Die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit würde er früh genug erfahren — dann nämlich, wenn sie zusammenbrachen.

Die Oberfläche war ruhig gewesen, als sie gelandet waren; doch als sich Perry und Graves nun in Bewegung setzten, durchfuhr ein neuer Stoß seismischer Energie das Erdreich. Eine tiefe Spalte tat sich vor ihnen auf, Risse bildeten sich längs entlang der Talwand.

»Weitergehen!«, brüllte Rebka über das Dröhnen berstender Felsen hinweg. »Uns bleibt keine Zeit, hier herumzustehen und abzuwarten!«

Perry nämlich war stehen geblieben und hatte Graves die Hand auf den Arm gelegt, um ihn ebenfalls dazu zu bewegen, keinen weiteren Schritt mehr zu machen. Dann wandte er sich um, blickte Rebka an und schüttelte den Kopf. »Wir können noch nicht weitergehen! Das ist eine Erdbebenkonfluenz! Passen Sie auf!«

Bodenwellen verschiedener Wellenlänge und verschiedener Amplitude konvergierten fünfzig Schritte vor der Gruppe. Wo diese Wellen aufeinander trafen, schossen Felsbrocken und Erdreich wie Gischt sich am Strand brechender Wogen in die staubverhangene Luft. Klaffend riss das Erdreich vor ihnen — wie tief der so entstandene Graben war, ließ sich nicht bestimmen —, nur um Augenblicke später sich wieder zusammenzuziehen: Der Graben, eben noch da, war spurlos verschwunden. Perry beobachtete das Schauspiel, bis er sich sicher war, dass die größten Bewegungen des Erdreichs vorbei waren, dann ging er weiter.

Rebka war erleichtert. Perry hatte vielleicht ein echtes Problem, aber dennoch hatte der Mann seinen Überlebensinstinkt nicht verloren! Trieb Perry dieser Instinkt auch auf dem nächsten Kilometer noch an, hätte er seine Schuldigkeit als Erdstoß-Experte mehr denn erfüllt.

Die kleine Gruppe kämpfte sich weiter voran. Der Boden bebte unter ihren Füßen. Heißer Atem stieg aus Hunderten von Rissen im geborstenen Gestein auf, und der Himmel über ihnen verwandelte sich in ein bewegtes Gemälde aus feinster Asche und gleißenden Blitzen. Das Donnern des Himmels und das Grollen der Erde umtoste sie. Ein warmer, schwefeliger Regen hatte eingesetzt; wo er auf den von den Gezeiten malträtierten Boden fiel, zischte und dampfte es.

Als Nachhut hatte Rebka die ganze Gruppe im Blick und begutachtete sie nachdenklich. Die Carmel-Zwillinge gingen Seite an Seite, gleich hinter Graves und Perry. Nach ihnen kam Darya Lang zwischen den beiden Nichtmenschen; eine Hand hatte sie auf J’merlias geneigten Thorax gestützt. Alle kamen recht gut voran. Graves, Geni Carmel und Darya Lang hinkten, und alle schwankten vor Erschöpfung — aber das waren ja nur Kleinigkeiten.

Sie brauchten also Ruhe. Grimmig lächelte Rebka in sich hinein: Keine Frage — auf die eine oder andere Weise würden sie ihre Ruhe schon finden, innerhalb der nächsten Stunden!

Das Hauptproblem war die steigende Temperatur. Noch zehn Grad mehr, und sie würden, da war Rebka sich sicher, entweder langsamer gehen müssen oder sich alle einen Hitzschlag holen. Der Regenschauer, der eigentlich hätte hilfreich sein sollen, war inzwischen so heiß geworden, dass, trafen die Regentropfen bloße Haut, Verbrühungen die Folge waren. Und ein weiteres Ansteigen der Temperaturen dürfte während des Marsches ihrer kleinen Gruppe in die Pentacline-Senke hinein unausweichlich sein.

Doch sie mussten tiefer hinabsteigen! Wenn sie jetzt langsamer wurden oder wieder umkehrten, sei es, um sich auszuruhen, sei es, um Schutz vor dem Regen zu suchen, würden sie den Kräften des Gezeitensturms zum Opfer fallen.

Rebka trieb seine Schutzbefohlenen weiter an und ließ den Blick währenddessen immer wieder in das Gelände vor ihnen wandern, um zu sehen, wie weit sie sich dem Basaltplateau schon genähert hatten. Es waren nur noch wenige hundert Meter zu gehen, und der Weg sah recht einfach aus. Nur noch etwa hundert Schritte, und es gäbe weniger herumliegende Felsbrocken, weniger Spalten im Erdreich, was ihnen das Vorankommen so sehr erschwert hatte: Stattdessen würde das in dunkle tiefbraune Erdtöne getauchte Gelände ebener, leichter zu bewältigen als alles, was Rebka bisher in der Pentacline-Senke gesehen hatte. Vielleicht handelte es sich um den Grund eines jetzt ausgetrockneten Sees, um das, was einmal ein lang gestrecktes, flaches Gewässer gewesen war, ehe das Wasser bei der Hitze der letzten Tage verdampft war. Hier würden sie leicht und zügig vorankommen, das Gelände rasch durchqueren können. Auf der anderen Seite der schmalen Ebene stieg der Boden sanft an und führte zu der felsigen Anhöhe, auf deren Plateau sie das Schiff zu finden erwarteten.

Die beiden Anführer der kleinen Gruppe hatten sich der Ebene jetzt auf etwa zwanzig Schritte genähert. Der massige, abgeflachte Felsbrocken schien schon fast zum Greifen nahe zu sein, als Max Perry plötzlich zögerte und stehen blieb. Während Rebka das noch beobachtete und innerlich fluchte, stützte sich Perry schon auf einen großen, scharfkantigen Felsen und betrachtete nachdenklich das vor ihm liegende Gelände.

»Gehen Sie schon weiter, Mann!«

Perry schüttelte den Kopf, hob den Arm, um die anderen zum Stehenbleiben zu bewegen, und kauerte sich dann auf den Boden, um diesen genau zu untersuchen. Im gleichen Augenblick stieß Elena Carmel einen Schrei aus und deutete auf das Plateau des gewaltigen Basaltfelsens.

Der Himmel hatte sich schwarz verfärbt; doch die jetzt fast unablässig zuckenden Blitze boten mehr als genug Licht, um noch etwas zu erkennen. Dort, wohin Perry starrte, konnte Rebka nicht das Geringste sehen, außer einem leichten Hitzeflirren: Der Grund des ausgetrockneten Sees wirkte wie ein unscharfes Foto. Doch auf der anderen Seite dieser verschwommenen Ebene, dort, wohin Elena Carmels Finger zeigte, auf dem Basaltplateau, über das Staubwolken hinwegrollten, sah Rebka etwas völlig Unverkennbares: die Umrisse eines kleinen Raumschiffs. Es stand recht sicher dort, ein Stück weit von der Felskante entfernt, und es schien unbeschädigt. Dort hinaufzusteigen sollte keinem von ihnen sonderlich schwer fallen. In spätestens fünf Minuten sollten sie dort oben sein!

Elena Carmel hatte sich umgedreht und ihrer Schwester etwas zugerufen, bei all dem Donner unhörbar. Rebka jedoch konnte es ihr von den Lippen ablesen. »Die Sommer-Traumschiff!«, rief sie. Triumph stand auf ihrem Gesicht zu lesen. Und schon rannte sie los, auf ihrer aller Ziel zu, an Graves und Perry vorbei.

Sie war schon auf der Ebene, die aus getrockneten Schlamm zu bestehen schien, da erst blickte Perry auf und sah sie.

Eine Sekunde war er wie erstarrt, dann stieß er einen hohen, heulenden Warnlaut aus, der sogar noch das Donnergrollen übertönte.

Elena hörte den Laut und drehte sich um. Als sie das tat, ließ ihr Gewicht die Kruste aus gebranntem Lehm, weniger als einen Zentimeter dick, brechen. Dampf schoss empor, wirbelte pechschwarzen, heißen Schlamm rings um ihren Körper. Elena schrie, hob die Arme, versuchte das Gleichgewicht zu halten. Unter der brüchigen Oberfläche bot der brodelnde Schlamm nicht mehr Halt als heißer Sirup: Bevor noch irgendwer etwas unternehmen konnte, war Elena bereits bis zur Taille darin versunken. Sie schrie vor Schmerzen, als siedender Schlamm sich um ihre Beine und ihre Hüfte schloss.

»Vorbeugen!« Perry warf sich auf den Bauch, um das eigene Gewicht besser zu verteilen, und versuchte, auf der brüchigen Oberfläche zu ihr zu kriechen.

Doch Elena Carmel hatte zu große Schmerzen, um seinem Befehl auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Und Perry war nicht schnell gut: Elena sank sehr rasch ein. Perry war drei Schritte vielleicht noch von ihr entfernt, da erreichte der brodelnde Schlamm ihre Kehle. Die stieß einen letzten, entsetzlichen Schrei aus.

Hastig versuchte Perry noch, sie zu fassen zu bekommen, ihren Haarschopf, ihren ausgestreckten Arm, erreichte sie, vermochte sie dennoch nicht festhalten.

Sie sank immer tiefer. Sie hatte einen Verbrennungsschock erlitten, und es war kein einziger Laut zu hören, als der sengend heiße Schlamm in ihren Mund quoll, in ihre Nase, in ihre Augen. Sekundenbruchteile später hatte der Schlamm sie verschluckt. Ein winziger Strudel auf der Oberfläche war ein letzter Hinweis, wo Elena versunken war, doch keinen Lidschlag später war die Oberfläche spiegelglatt und ruhig, nichts verriet mehr den Ort der Tragödie.

Perry aber gab nicht auf, kroch weiter, stieß die Arme bis zu den Ellenbogen in die kochende Schwärze. Er brüllte vor Schmerzen, tastete blind umher und fand nichts.

Bis zu diesem Augenblick hatten die anderen aus ihrer kleinen Gruppe Gestrandeter stocksteif dagestanden. Jetzt aber erwachte Geni mit einem furchtbaren Schrei zum Leben und stürzte vorwärts. Blitzschnell setzte Julius Graves ihr nach, hielt sie fest, gerade noch am Rande dieses siedenden Kessels aus Treibsand.

»Nein, Geni! Nicht! Sie können ihr nicht mehr helfen! Sie ist fort!« Er hielt sie an der Taille fest, mühte sich, sie wieder in Sicherheit zu zerren. Sie wehrte sich mit der Kraft der Verzweiflung. Ihm blieb nur, sie festzuhalten, bis Rebka und Darya Lang es endlich bis zu ihm an die Kante geschafft hatten und Genis Arme packten.

Geni hatte noch nicht aufgegeben, zu dem Ort zu gelangen, an dem ihre Zwillingsschwester versunken war. Sie wand sich, die Bewegung riss Darya mit, hinaus auf die brüchige Kruste. Sofort brach Darya ein, ihr linker Fuß sank bis zum Knöchel ein. Mit einem Schrei sackte sie in Richtung Rebka zu Boden, einer Ohnmacht nahe. Rebka konnte nicht anders, als Geni Graves überlassen, um nun Darya auf sicheren Grund zu zerren.

Ein letztes, verzweifeltes Mal versuchte Geni zu der Stelle zu gelangen, wo der Schlamm nun keine Kruste mehr besaß. Dort, wo Elena in die Tiefe gezogen worden war, sprudelte und blubberte es plötzlich, als atme jemand aus. Doch Perry kroch mit schmerzverzerrtem Gesicht langsam rücklings über die trügerische Kruste hinweg in Richtung des deutlich ungefährlicheren Terrains, in dem die geborstenen Felsbrocken lagen. Seine Hände waren zu nichts mehr zu gebrauchen, doch er kam hoch auf die Füße und nutzte sein reines Körpergewicht, um Geni zurückzustoßen.

Gemeinsam stolperten sie in Sicherheit. Genis verzweifelte Gegenwehr ließ nach. Als der erste Schock sich gelegt hatte, vergrub sie ihr Gesicht in den Händen und begann jämmerlich zu schluchzen.

Einen Arm immer noch um Darya Lang gelegt, begutachtete Rebka jetzt die restliche Gruppe. Sie alle waren von Elenas Tod wie betäubt, er aber war derjenige, der sich darum kümmern musste, sie alle irgendwie am Leben zu erhalten. Innerhalb von dreißig Sekunden jedoch hatte sich ihre Lage von ›schwierig‹ in ›verzweifelt‹ verwandelt. Die Luft konnte man kaum noch atmen, und die Oberfläche von Erdstoß wurde zunehmend aktiver. Das Einzige, was sie sich jetzt nicht leisten konnten, war tatsächlich, noch langsamer an den Ort zu gelangen, wo, wie es schien, ihre einzige Überlebenschance lag.

Was tun?

Bedrückt schätzte Rebka ihre neue Lage ab. Himmel und Erde grollten zwar momentan weniger heftig, aber statt acht Personen, Menschen wie Nichtmenschen, die sich recht zügig hatten bewegen können, gab es jetzt nur noch vier Personen, die wirklich einsatzfähig waren: er selbst, Graves, J’merlia und Kallik. Niemand wusste, wie hilfreich die beiden Nichtmenschen im Falle einer Krise sein würden, doch bisher hatten sie sich genauso gut geschlagen wie die Menschen.

Was war mit den anderen?

Perry hatte einen Schock erlitten — und Rebka war sich ziemlich sicher, dass dieser nicht nur rein physisch war —, stand da wie ein deaktivierter Roboter. Allerdings war Perry ein zäher Hund. Der konnte gehen, also würde er auch gehen. Andererseits konnte er niemand anderem mehr helfen, und da er seine Hände nicht mehr nutzen konnte, würde er ernst zu nehmende Schwierigkeiten haben, an dem Felshang hinaufzuklettern. Im Augenblick ließ Perry die Arme einfach nur hängen; sie waren bis zu den Ellbogen verbrannt: Arme aus verkohltem Hefeteig hätten nicht nutzloser sein können. Sobald der erste Schock erst einmal abgeklungen wäre, würden die Schmerzen furchtbar sein. Mit ein wenig Glück war das aber erst der Fall, wenn sie alle an Bord der Sommer-Traumschiff waren.

Darya Lang brauchte gewiss auch Hilfe. Ihr Fuß war nicht schlimmer verbrüht als Perrys Unterarme, aber sie war körperliche Schmerzen viel weniger gewöhnt als er. Sie weinte jetzt schon, Folge des Schocks ebenso wie der Schmerzen. Die Tränen rannen ihr über die schmutzigen, staubbedeckten Wangen.

Und dann war da noch Geni Carmel. Körperlich brauchte sie keine Unterstützung, doch ihr Herz war gerade in tausend Stücke zersprungen. Sie schien kaum wahrzunehmen, dass noch andere hier waren, sie würde kaum in der Lage sein, ihren Begleitern zu helfen.

Routine für Rebka, die nun anstehenden Aufgaben zu verteilen. »Allianzrat Graves, Sie kümmern sich um Geni Carmel! Ich werde Commander Perry helfen, soweit das erforderlich ist. J’merlia und Kallik, Professorin Lang benötigt eure Hilfe! Bitte steht ihr bei, vor allem, wenn wir mit dem Aufstieg beginnen!«

Und jetzt werden wir sehen, wie zäh Perry wirklich ist. »Commander, hier können wir nicht weitergehen. Können Sie uns eine alternative Route zum Schiff empfehlen?«

Perry erwachte wieder zum Leben. Er erschauerte, starrte seine verbrannten Unterarme an und hob dann vorsichtig die rechte Hand, sorgsam darauf bedacht, nichts damit zu berühren. Dann deutete er auf die linke Seite des gewaltige Basaltplateaus, bewegte den Arm dabei so, als handele es sich bei diesem um ein nicht zu seinem Körper gehörendes Objekt, das dennoch aus unerfindlichen Gründen mit diesem verwachsen schien.

»Als wir das letzte Mal hier waren, sind wir einem trockenen Wasserablauf gefolgt. Der bestand ganz aus Felsen, keine schlammige Oberfläche. Wenn wir den finden können, dann schaffen wir es vielleicht, ihm nach oben zu folgen.«

»Gut. Sie gehen vor!«

Während sie dem todbringenden, siedenden Schlamm auswichen, blickte Rebka zu dem Plateau hinauf. Es lag nicht mehr als vierzig Meter über ihnen, und trotzdem schien die Entfernung unüberwindbar zu sein. Der Wasserablauf führte nicht allzu steil hinauf. Ein gesunder Mensch mochte ihn innerhalb einer halben Minute emporsteigen können, Perry aber brauchte allein schon so lange, um die ersten Schritte den Hang hinauf zu machen. Zu langsam, das dauerte zu lange!

Rebka drängte sich an den anderen vorbei auf Perry zu und legte die Hände auf dessen Hüften.

»Gehen Sie einfach weiter! Machen Sie sich keine Gedanken, Sie könnten fallen! Ich bin da. Sagen Sie, wenn ich Sie schieben oder heben soll!«

Perry warf einen kurzen Blick über die Schulter, bevor er tat, was Rebka wollte und sich in Bewegung setzte. Julius Graves lotste Geni Carmel; die beiden kamen schnell genug voran. J’merlia und Kallik hatten bereits Versuche aufgegeben, Darya Lang irgendwie zu stützen. Ihnen war es effektiver vorgekommen, Darya Kallik auf den Rücken zu setzen, auch wenn sich das Hymenopter-Weibchen nun mühsam den Hang hinaufkämpfen musste. J’merlia tat sein Bestes, schob Kallik von hinten und feuerte sie mit einem bunten Sammelsurium von Pfeif- und Heultönen an.

Die Oberfläche unterhalb des Basaltmassivs erzitterte von neuem. Rebka beobachtete, wie der Flugwagen, mit dem sie hier angekommen waren, sich zur Seite neigte und dann umkippte. Eine schwarze Rauchwolke verschluckte ihn, dann kam diese langsam und stetig in ihre Richtung gekrochen.

Eines nach dem anderen!, mahnte er sich. Jetzt nicht nach hinten schauen und nicht nach oben!

Rebka konzentrierte sich ganz darauf, Max Perry zu helfen. Sollte Perry stürzen, risse er alle mit sich in die Tiefe.

Sie kämpften sich weiter voran, über losen Kies hinweg. Einmal wurde es kritisch, als Perry abrutschte und vornüber auf die Felswand zustürzte. Er stöhnte auf, als er mit den verletzten Händen auf der rauen Oberfläche aufprallte und die verbrannten Handballen aufplatzten. Rebka bekam ihn gerade noch zu fassen, ehe Perry noch weiter abrutschen konnte. Nach wenigen Sekunden kämpften sie sich bereits wieder den steinigen Wasserlauf entlang.

Erst als Perry die letzten, sehr viel einfacheren Schritte hinter sich gebracht hatte, wagte Rebka, sich umzudrehen und zu schauen, was hinter ihm passierte. Graves ging mit unsicheren Schritten, stand kurz davor zusammenzubrechen, und Geni Carmel stützte ihn. Die anderen drei waren noch auf halber Höhe und kamen nur langsam voran. Rebka hörte, wie Kallik vor Anstrengung klickte und pfiff.

Sie mussten es allein schaffen. Wichtiger als alles andere war jetzt das Raumschiff. War es noch einsatzfähig, hatte es noch genügend Energie, um noch ein letztes Mal in den Orbit abzuheben? Perry war zur Sommer-Traumschiff hinübergewankt, stand dann aber reglos vor geschlossener Luke. Frustriert hob er die Hände, als Rebka neben ihn trat. Ohne seine Finger nutzen zu können, hatte er keinerlei Möglichkeit, an Bord zu kommen.

»Sagen Sie den anderen, sie sollen sich beeilen — vor allem Kallik!« Rebka riss bereits die Luke auf, und da erst begriff er, wie klein dieses Schiff war. Perry hatte ihm zwar gesagt, dass es kaum mehr als ein Spielzeug war, aber mit eigenen Augen zu sehen, wie winzig das Ding war, war eine unangenehme Überraschung: Der Innenraum war ja kaum größer als der des Flugwagens!

Rebka hastete zu den Instrumenten hinüber. Wenigstens würde er mit denen keine Schwierigkeiten haben, selbst ohne Hilfe von Kallik oder Geni Carmel. Das war die einfachste Instrumententafel, die er jemals gesehen hatte.

Er aktivierte die Displays. Die Energieanzeige meldete erschreckend niedrige Werte. Und wenn sie jetzt nur die Hälfte der Strecke zum Orbit schafften?

Er warf einen Blick auf das Chronometer. Weniger als eine Stunde bis zum Höhepunkt des Gezeitensturms. Damit war seine Frage beantwortet: Jacke wie Hose, wofür sie sich entschieden, rien ne va plus. Während die anderen sich in das beengte Innere zwängten, leitete er bereits die Startvorbereitungen ein.

Darya Lang und Geni Carmel waren die Letzten, die an Bord kamen.

»Die Luke schließen!«, befahl Rebka und wandte sich wieder den Instrumenten zu. Er wartete nicht, ob sie seiner Anweisung nachkamen, und es war auch keine Zeit mehr, noch die lange Checkliste durchzugehen, die eigentlich vor einem Start ins All anstand. Durch die Frontscheibe sah er, wie ein Flammenteppich auf der Oberfläche unaufhaltsam, unbeirrbar auf sie zugekrochen kam. In wenigen Sekunden würde der das Schiff vollständig einhüllen.

»Festhalten! Ich starte mit drei G!«

Wenn wir Glück haben, dachte er. Und wenn nicht … Hans Rebka gab vollen Startschub. Das Raumschiff erzitterte und mühte sich nach Kräften.

Nichts geschah, es schien Minuten zu dauern. Dann, als der Feuersturm sie schon fast erreicht hatte, schienen sämtliche Bauteile, jedes Schott, der ganze Rumpf der Sommer-Traumschiff’ aufzustöhnen — ein Zittern durchlief das Schiff, dann hob es in den pechschwarzen, wild bewegten Himmel von Erdstoß ab.

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