9 Gezeitensturm minus zwanzig

»Sie ist nicht tot, und sie liegt auch nicht im Sterben. Sie ist gerade dabei, gesund zu werden! Die übliche und richtige Reaktion eines Cecropianers auf Verletzungen und Erkrankungen jedweder Art ist immer der Verlust des Bewusstseins.«

Mitten in der kurzen Nacht von Opal standen Julius Graves und Hans Rebka neben dem Tisch, auf dem reglos Atvar H’sial lag. Eine Seite ihres dunkelroten Panzers hatte man mit einer dicken Schicht Gips und Agglutinat bedeckt, inzwischen war es zu einem schimmernd weißen Ersatzpanzer ausgehärtet. Den Saugrüssel hatte sie zusammengefaltet in den Hautbeutel unter ihrem Kinn zurückgezogen, während die Fühler aufgerollt auf dem breiten Kopflagen. Das Pfeifen der Luft, die durch die Stigmen gesogen wurde, war kaum zu hören.

»Und das ist erstaunlich effektiv, nach menschlichen Begriffen«, fuhr Graves fort. »Von einer Verwundung, die den betroffenen Cecropianer nicht umbringt, erholt dieser sich normalerweise sehr schnell — meist innerhalb von zwei, höchstens drei Tagen. Und Darya Lang und J’merlia überlegen, ob Atvar H’sial sich bereits genug erholt hat, um das Gesuch, Erdstoß aufsuchen zu dürfen, erneut einzureichen.« Er lächelte, das Lächeln eines Totenschädels. »Nicht gerade schöne Neuigkeiten für Commander Perry, was? Hat er Sie gebeten, alles so weit hinauszuzögern, bis der Gezeitensturm vorbei ist?«

Hans Rebka verbarg seine Überraschung — oder versuchte es zumindest. Langsam gewöhnte er sich daran, dass Julius Graves anscheinend unbegrenztes Wissen über jede einzelne Spezies im gesamten Spiralarm besaß. Schließlich war sein mnemotechnischer Zwilling ja zu genau diesem Zwecke geschaffen worden, und von dem Augenblick an. wo sie gemeinsam an die Absturzstelle gekommen waren, hatte Steven Graves sämtliche Schritte in der Behandlung der Verletzungen vorgegeben, die Atvar H’sial erlitten hatte: Der Panzer musste versiegelt werden, die Beine verbunden, der gebrochene Deckflügel vollständig entfernt — der würde nachwachsen, und den zerquetschte Fühler und die gelben Auditiv-Hörner sollte man sich selbst überlassen.

Aber es fiel Rebka sehr viel schwerer zu akzeptieren, dass Graves auch über Menschen so viel wusste und sie so gut verstand.

Er kam auf die Idee, Julius Graves und er sollten doch einmal den Job tauschen. Wenn es irgendjemanden gab, der herausfinden konnte, was Max Perry, den aufstrebenden Politiker, vielleicht sogar Regenten, in einen Karriere-Aussteiger und ein nicht zu knackendes psychisches Mysterium verwandelt hatte, dann war das Graves. Während Rebka der Mann war, der die Oberfläche von Erdstoß würde absuchen und diese Carmel-Zwillinge finden können, wo auch immer sie sich versteckt haben mochten.

»Und wie ist Ihre Meinung dazu, Captain?«, fuhr Graves fort. »Sie waren bereits auf Erdstoß. Soll man es Darya Lang und Atvar H’sial gestatten, diesen Planeten aufzusuchen, sobald sie sich ganz erholt haben? Oder sollten man das Gesuch der beiden ablehnen?«

Das war ganz genau das, war Rebka sich auch schon selbst gefragt hatte, immer und immer wieder. Es blieb unausgesprochen, dass Graves beabsichtigte, Erdstoß aufzusuchen, egal, ob ihm jemand dabei Steine in den Weg legte oder nicht. Perry würde ihn begleiten als eine Art Reiseführer, oder zumindest als Ortskundiger. Und obwohl Rebka noch nichts in dieser Richtung angedeutet hatte, hatte auch er die feste Absicht, den Planeten erneut aufzusuchen. Das verlangte sein Job, und außerdem war Max Perry bei allem, was auch nur im Entferntesten mit Erdstoß zu tun hatte, voreingenommen und unzuverlässig. Aber was war mit den anderen?

Am schnellsten reist, wer allein reist.

»Ich bin eher dagegen. Je mehr Leute dort sind, desto mehr können dort auch in Gefahr geraten, was auch immer sie an Spezialwissen mitbringen mögen. Und das gilt für Cecropianer genauso wie für Menschen.«

Vielleicht für Cecropianer sogar noch mehr. Er starrte den bewusstlosen Nichtmenschen an, unterdrückte ein Schaudern und ging dann auf die Tür des Gebäudes zu.

Mit J’merlia hatte er keine Schwierigkeiten — der machte immer so einen geknechteten Eindruck und schaute ihn mit seinen gelben Augen so flehentlich an. Aber Rebka fühlte sich schon unwohl, wenn er Atvar H’sial auch nur anschaute. Und dabei hielt er sich noch für einen gut ausgebildeten, vernünftigen Menschen. Irgendetwas hatte diese Nichtmenschen-Spezies an sich, etwas, das er nicht näher zu benennen wusste, ihm zu ertragen aber sehr schwerfiel.

»Sie fühlen sich in Gegenwart von Cecropianern immer noch unwohl, Captain.« Das war Graves, der ihm zur Tür folgte und wieder einmal seine Gedanken las — denn das eben war eine lupenreine Feststellung gewesen, nicht etwa eine Frage.

»Scheint so. Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde mich schon noch an diese Spezies gewöhnen.«

Das würde er gewiss auch — ganz, ganz langsam. Dennoch würde es ihm schwerfallen. Das größte Wunder erschien ihm immer noch, dass Cecropianer und Menschen sich nicht gleich beim Erstkontakt gegenseitig in einen Vernichtungskrieg verwickelt hatten.

Höchstwahrscheinlich, versicherte Rebkas innere Stimme ihm, wäre das auch passiert, hätten sie nur irgendetwas gefunden, worum zu kämpfen sich gelohnt hätte. Cecropianer sahen aus wie Dämonen. Hätte sie nicht gezielt nach Planeten Ausschau gehalten, die rote Zwergsterne umkreisten, während die Menschen nach Sternen suchten, die ihrer eigenen Sonne, Sol, ähnelten, dann hätten sie einander schon sehr viel früher bei ihren Streben systemauswärts kennen gelernt. Doch die unbemannten Sonden und die langsamen Weltraum-Archen, derer sich beide Spezies bedient hatten, waren eben in Richtung unterschiedlicher Stern-Typen ausgesandt worden, und so hatten sie einander eintausend Jahre lang verpasst. Als die Menschen schließlich das Bose-Netzwerk entwickelt hatten, sozusagen nur um dann herauszufinden, dass die Cecropianer genau das gleiche Netzwerk bereits quer durch den gesamten Spiralarm einsetzten, hatten beide Spezies bereits einiges an Erfahrungen mit fremdartigen Lebewesen sammeln können — sogar genug, als dass es ihnen möglich war, mit anderen Claden zu koexistieren, die so völlig andere stellare Gegebenheiten benötigten, und diese Koexistenz selbst dann noch zu wahren, wenn sie sich in der Gegenwart des jeweils anderen nicht sonderlich wohlfühlten.

»Wirbeltier-Chauvinismus ist nur allzu verbreitet.« Graves hatte ihn jetzt eingeholt und passte seine eigene Schrittlänge der Rebkas an. Einen Augenblick lang schwieg er, dann lachte er leise. »Aber laut Steven — der sagt, er spricht als jemand, der weder über ein Rückgrat noch über ein Exo-Skelett verfügt — sollten eher wir uns als die Außenseiter fühlen. Unter den 4209 Welten, über die bekannt ist, dass sie eigene Lebensformen hervorgebracht haben, sind nur 986 Welten, auf denen sich Lebensformen mit körperinternen Skeletten entwickelt haben, sagt Steven. Arthropoden-Wirbellose hingegen gedeihen auf 3311 Planeten prächtig. Bei einem galaktischen Beliebtheitswettbewerb würden Atvar H’sial, J’merlia oder jeder andere Arthropode Sie, mich oder Commander Perry mit Leichtigkeit schlagen. Sogar, wenn Sie mir das zu sagen gestatten, Ihre Frau Professor Lang.«

Rebka beschleunigte seinen Schritt. Es hatte natürlich keinen Sinn, Julius Graves gegenüber zu erwähnen, dass Steven auf dem besten Wege war, ihm auf die Nerven zu gehen. Es mochte ja gut und schön sein, alles im Universum zu wissen — aber musste er es deswegen auch gleich in alle Welt hinausposaunen?

Rebka war nicht bereit zuzugeben, was der wahre Grund für seine Verärgerung war. Er verabscheute es, sich in der Gegenwart von jemandem zu befinden, der so ungleich mehr wusste als er selbst. Noch schlimmer war nur, sich in Gegenwart von jemandem zu befinden, der ihn mühelos und in jeder Hinsicht durchschaute. Es ging ja nun wirklich niemanden etwas an, dass er ein gewisses Faible für diese Lang entwickelt hatte. Verdammt noch mal, er hatte es doch selbst erst begriffen, als er sie aus dem abgestürzten Flugwagen herausgezerrt hatte! Sie bedeutete doch nur mehr Ärger, war nichts als ein weiteres ungewolltes Problem für ihn, neben den Problemen Erdstoß und Max Perry.

Warum war sie hierher gekommen — warum musste sie sein Leben noch komplizierter machen? Es war ganz offensichtlich, dass sie hier auf Opal deutlich überfordert war: eine Wissenschaftlerin, die besser brav und still in ihrem Arbeitsräumen geblieben wäre, um sich dort ihren Forschungen zu widmen. Hier würde man auf sie aufpassen müssen. Er würde auf sie aufpassen müssen. Und diese Aufgabe wäre am einfachsten zu erfüllen, wenn er dafür sorgte, dass sie auf Opal zurückblieb, während er selbst nach Erdstoß aufbrach.

Der Sturm der Kategorie Fünf war vorbei, und ausnahmsweise riss die Wolkendecke über Opal in dieser Nacht einmal auf. Es war beinahe Mitternacht, doch dunkel war es nicht. Amarant hatte den letzten Teil seiner langsamen Annäherung an Mandel begonnen. Jetzt stand er hoch am Himmel, groß genug, um als leuchtend orangefarbene Scheibe erkennbar zu sein. Noch zwei Tage, dann wäre der Zwergbegleiter des Primärsterns hell genug, als dass er eigene Schatten erzeugen würde.

Einen halben Himmel davon entfernt, dicht an den Horizont gedrängt, lag Gargantua, der jetzt ebenfalls auf den Hochofen von Mandel zuhielt. Bisher war er immer noch nicht mehr als ein rosafarbener Punkt, aber er war schon heller als sämtliche am Nachthimmel stehenden Sterne. Noch eine Woche, dann würde der Gasriese ebenfalls als Scheibe zu erkennen sein, überzogen von umbrafarbenen und blassgelben Streifen.

Rebka durchquerte den Raumhafen und hielt auf eines der vier Hauptgebäude zu. Immer noch blieb Graves an seiner Seite.

»Wollen Sie sich mit Louis Nenda treffen?«, fragte der Allianzrat.

»Genau das hatte ich vor. Wie viel wissen Sie über ihn?« Wenn Rebka diesen Graves schon am Hals hatte, dann konnte er genauso gut auch versuchen, dessen überlegenes Wissen zu seinem Vorteil zu nutzen.

»Nur das, was sein Antragsformular auch Ihnen verraten hat«, entgegnete Graves. »Dazu das, was wir über die Mitglieder der Zardalu-Gemeinschaft wissen — deutlich weniger, als uns lieb ist. Die Welten der Gemeinschaft sind nicht gerade dafür bekannt, sonderlich kooperativ zu sein.«

Möglicherweise ist das die glatteste Untertreibung, die ich bisher von ihm gehört habe, dachte Rebka.

Vor zwölftausend Jahren, lange bevor die Menschen mit der Expansion begonnen hatten, hatten die Land-Cephalopoden von Zardalu versucht, etwas auf die Beine zu stellen, was weder Menschen noch Cecropianer jemals dumm genug zu versuchen gewesen waren: die Zardalu-Gemeinschaft, ein echtes Reich von eintausend Planeten, die unbarmherzig von Genizee aus regiert wurden, der Heimatwelt der Zardalu-Clade. Ihr Unterfangen war in katastrophalem Maße gescheitert. Doch dieses Scheitern war möglicherweise als Beispiel abschreckend genug, um Menschen und Cecropianer davon abzuhalten, genau den gleichen Fehler zu begehen.

»Im Grunde ist Louis Nenda ein Mensch«, fuhr Graves fort, »aber mit einigen Zardalu-Erweiterungen.«

»Mental oder physisch?«

»Das weiß ich nicht. Aber welcher Eingriff auch immer vorgenommen worden ist: er muss relativ unbedeutend gewesen sein. Nirgends werden Augen im Hinterkopf oder an den Fingerspitzen erwähnt, kein Hermaphroditismus, keine Knochenentfernungen oder Vierarmigkeit oder Vierfüßigkeit. Kein Riesenwuchs, keine Kompaktierung — er ist männlichen Geschlechts, und laut der Passagierliste von durchschnittlicher Größe und durchschnittlichem Gewicht. Natürlich gibt es Hunderte von Modifikationen, die auf keiner Standardliste aufgeführt sind.

Und was dieses Haustier betrifft, das er mitbringt, darüber kann ich Ihnen sogar noch weniger sagen. Es ist ein Hymenopter, und selbstredend ist es auch ein Arthropode — Nendas Liebling besitzt eben nur gewisse Ähnlichkeiten mit den Hymenoptera der Erde. Aber ob es sich bei seinem Begleiter einfach nur um eine Art Schoßtier handelt, gar um einen Sexualpartner oder vielleicht um nichts anderes als Reiseproviant — das werden wir erst mit der Zeit in Erfahrung bringen können.«

Nun, viel Zeit wird es nicht in Anspruch nehmen, das herauszufinden, dachte Rebka. Das neu eingetroffene Schiff stand mitten im Raumhafen von Sternenseite, die Passagiere und Besatzungsmitglieder wurden im Ankunftsgebäude bereits nach eingeschleppten Organismen abgesucht. Da die Suche nach Endo- und Ectoparasiten nur wenige Minuten in Anspruch nahm, mussten die Neuankömmlinge schon bald fertig sein.

Rebka und Graves gingen zu der Stelle im Gebäude hinüber, an der Max Perry und drei Mitarbeiter der Zollbehörde bereits warteten.

»Wie lange noch?«, fragte Rebka.

Statt einer Antwort deutete Perry auf die versiegelte Doppeltür der Dekontaminationskammern: Sie öffnete sich gerade.

Nach den Andeutungen, die Graves gemacht hatte, und nach dem, was Rebka sich selbst alles vorgestellt hatte, sah dieser Louis Nenda erstaunlich normal aus. Er war klein, dunkelhäutig und muskulös, man hätte ihn für einen Bewohner einer der Welten höherer Dichte des Phemus-Kreises halten können. Im Augenblick schien er ein wenig wackelig auf den Beinen, wahrscheinlich die Folge von einem halben Dutzend Veränderungen der Schwerkraft in den letzten Stunden; doch er bewegte sich energiegeladen, und sein Gang erzählte von reichlich vorhandenem Selbstbewusstsein. Recht selbstherrlich blickte Nenda sich mit blutunterlaufenen Augen um, als er aus dem Exobiologie-Prüfer heraustrat; neben ihm tapste ein pummeliges kleines, fremdartiges Lebewesen und ahmte jede seiner Kopfbewegungen nach. Es blieb stehen, als es die Gruppe wartender Menschen sah.

»Kallik!« Louis Nenda zupfte an dem Geschirr, das den Thorax des Hymenopters umspannte und die Unterseite des Hinterleibs vollständig einhüllte. »Bei Fuß!«

Dann, ohne jemand anderen als Perry auch nur anzusehen, sagte er: »Guten Morgen, Commander. Ich denke, Sie werden feststellen, dass sämtliche Tests bei mir negativ sind. Das Gleiche gilt auch für Kallik. Hier ist mein Zugangsgesuch.«

Die anderen Männer starrten immer noch den Hymenopter an. Bei seinen Reisen durch das Territorium der Zardalu hatte Julius Graves wenigstens schon einmal ein solches Wesen gesehen; doch die anderen kannten nur Bilder und ausgestopfte Exemplare.

Es fiel schwer, dieses Lebewesen, das sie jetzt vor sich sahen, mit den Gerüchten über die Wildheit dieser Spezies in Einklang zu bringen. Es war nicht einmal halb so groß wie Louis Nenda, das Auffallendste an dem kleinen, auffällig schmal geschnittenen Kopf war Mandibeln, offensichtlich so kräftig wie Bärenfallen, und multiple schwarze Augenpaare, die ringförmig um den Perimeter angeordnet waren. Sie waren ständig in Bewegung, verfolgten unabhängig voneinander die Bewegung verschiedener Objekte.

Der Körper des Hymenopters war rundlich, ähnelte ein wenig einem Fass, war mit kurzem, schwarzem Fell bedeckt, kaum länger als einen Zentimeter oder zwei. Daraus wurden die teuren Hymäntel hergestellt, robuste, Wasser abweisende und ausgezeichnet wärmeisolierende Mäntel.

Was nicht sichtbar war, das war der glitzernde gelbe Stachel, den der Hymenopter jetzt in den untersten Teil des Abdomens zurückgezogen hatte. Die Hohlnadel sonderte schwallweise Neurotoxine ab, deren Stärke und Zusammensetzung Hymenoptera nach Gutdünken variieren konnten. Kein bekanntes Standard-Serum war als Gegengift wirksam. Was ebenfalls dem aufmerksamsten Blick verborgen blieb, war das Nervensystem, das einem Hymenopter eine Reaktionsgeschwindigkeit garantierte, die dem zehnfachen der menschlichen entsprach. Auf seinen acht drahtigen Beinen konnte der Hymenopter innerhalb weniger Sekunden Hunderte von Metern zurücklegen oder unter Standardschwerkraft bis zu fünfzehn Meter hoch springen. Ein Hymantel war ein bei Menschen nur sehr selten zu findendes Kleidungsstück, und das war auch schon so gewesen, bevor die Hymenoptera unter Artenschutz gestellt worden waren.

»Willkommen im Dobelle-System.« Perrys Stimme drückte exakt das Gegenteil seiner Worte aus. Er nahm Louis Nenda das Zugangsgesuch ab und überflog dieses kurz. »In Ihrem ursprünglichen Gesuch hatten Sie nur kaum verwertbare Gründe genannt, warum Sie Erdstoß aufsuchen wollen. Sind hier weitere Details angegeben?«

»Aber klar doch!« Nendas Auftreten war ebenso forsch wie sein Gang. »Ich möchte Landgezeiten mit großem Tidenhub beobachten, und welcher Ort wäre dazu geeigneter als Erdstoß? Während des Gezeitensturms natürlich. Es gibt damit doch keine Probleme, oder?«

»Erdstoß ist während des Gezeitensturms gefährlich. Jetzt, wo Amarant sich so weit annähert, noch gefährlicher denn je.«

»Mann, wegen ein paar Gefahren mach ich mir doch keinen Kopf!« Nenda warf sich in die Brust und fuhr fort: »Kallik und ich, wir meistern Gefahren noch vor dem Frühstück! Wir waren unten auf Biskuitrolle, als die da diesen Hyperbrand hatten. Neun Tage haben wir in einem Luftwagen verbracht, sind die ganze Zeit immer durch die Schatten von Biskuitrolle gerast, damit wir nicht geröstet werden, und haben nicht mal ’nen Sonnenbrand abgekriegt. Und davor waren wir auf dem vorletzten Schiff, das in letzter Sekunde von Castlemain weggekommen ist!« Er lachte. »Echt Glück gehabt, wie immer: Das letzte Schiff, das weggekommen ist, hatte keinerlei Vorräte an Bord, und bis zum nächsten Bose-Knoten mussten die vierzig Tage lang kriechen. Die haben einander aufgefressen. Aber wenn Sie ’ne wirklich interessante Story hören wollen, dann sollte ich Ihnen erzählen, was auf Mauseloch passiert ist …«

»Sobald wir die Zeit gefunden haben, uns mit Ihrem Gesuch zu befassen!« Perry warf Nenda einen finsteren Blick zu. Schon nach einer einzigen Minute war ihm klar, dass dieser Neuankömmling nicht gerade begeistert reagieren würde, wenn man sein Gesuch abschlägig beschied. »Wir werden Sie zu Ihrer vorläufigen Unterkunft geleiten, dann haben wir hier eine Besprechung. Gibt es irgendetwas Besonderes, was er …«, er deutete auf den Hymenopter, »zum Essen braucht?«

»Sie. Kallik ist ein Weibchen. Nein, sie frisst alles. Genau wie ich.« Nenda lachte, ohne eine Spur von Belustigung. »He, ich hoffe, Sie meinen nicht das, wonach es klingt. Oder was soll das mit ›dann haben wir hier eine Besprechung‹? Der Weg hierher war verdammt lang. Echt zu weit, um jetzt hier erst noch von einer Dienststelle zur anderen weitergereicht zu werden!«

»Wir werden sehen, was wir tun können.« Perry blickte auf Kallik hinab. Als sie gehört hatte, wie zornig Louis Nendas Stimme klang, hatte sie ihren gelben Stachel ein paar Zoll weit herausgeschoben. »Ich bin mir sicher, dass wir uns zumindest auf eines einigen können: Sie wollen nicht Erdstoß aufsuchen und da umkommen.«

»Machen Sie sich um uns mal keine Sorgen! So leicht bringt uns nichts um. Geben Sie dem Gesuch einfach nur statt und lassen Sie mich da rüber! Es braucht schon ein bisschen mehr als bloß Erdstoß, um mich zu erledigen.«

Möglicherweise stimmte das sogar. Rebka blickte Perry und den Neuankömmlingen hinterher, als der Commander die Gäste wie versprochen zu ihrer Unterkunft geleitete. Erdstoß war gefährlich, daran bestand kein Zweifel; sollte jedoch Selbstbewusstsein Schutzschildcharakter besitzen, dann schwebte dieser Louis Nenda nirgendwo in Gefahr. Möglicherweise war es Erdstoß, der hier Schutz benötigte.


»Ich würde gerne Ihre Empfehlungen dazu hören, Commander.«

Aber anschauen will Perry mich nicht, dachte Rebka. Er glaubt, meine Entscheidung bereits zu kennen. Aber er täuscht sich — weil ich sie selbst noch nicht weiß.

»Ich bin dagegen, Besuchern während des Gezeitensturms Zugang zu Erdstoß zu gewähren, wie Sie wissen.« Perrys Stimme war kaum hörbar, sein Gesicht noch bleicher als sonst.

»Sie wollen keinen Zugang zu Erdstoß — für niemanden?«

»Für niemanden!«

»Ihnen ist klar, dass Graves sich einfach über uns hinwegsetzen wird, egal wie wir hier entscheiden? Er hat die entsprechende Befugnis, jederzeit, wann immer er will, auf Erdstoß nach diesen Carmel-Zwillingen zu suchen.«

»Er hat diese Befugnis, und wir beide gehen davon aus, dass er auch dorthin aufbrechen wird. Aber diese Befugnis wird ihn nicht schützen. Während des Gezeitensturms ist es auf Erdstoß wirklich lebensgefährlich.« Das letzte Wort betonte Perry noch zusätzlich.

»Also gut. Was ist mit den anderen? Die sind bereit, an das Dobelle-System nicht unbeträchtliche Summen zu zahlen, um das Privileg zu erhalten, Erdstoß aufzusuchen.«

»Ich würde ihren Anträgen sofort zustimmen — nach dem Ende des Gezeitensturms selbstverständlich. Darya Lang kann ›Nabelschnur‹ studieren, ohne sich auf der Oberfläche des Planeten aufhalten zu müssen; Atvar H’sial hat das ganze restliche Jahr Zeit, sich verschiedene Spezies unter Umweltstress anzuschauen.«

»Keiner der Antragsteller wird Ihrer Argumentation folgen wollen. Verwehren wir denen also den Zugang zu Erdstoß, verlieren wir sie als Besucher und das Geld, das sie an das Dobelle-System zahlen würden. Was ist mit Louis Nenda?«

Endlich blickte Perry Rebka doch in die Augen, und auf einmal klang seine Stimme völlig anders. Er brachte sogar ein Lächeln zustande. »Der lügt, oder nicht?«

»Davon bin ich zumindest überzeugt.«

»Und er ist nicht sonderlich gut dabei.«

»Das ist dem völlig egal. Schließlich hätte er sich eine etwas glaubwürdigere Story ausdenken können. Ich habe das Gefühl, dass er so ziemlich der letzte Mensch im ganzen Spiralarm ist, der sich für Landgezeiten interessiert — ich bin wirklich versucht, Steven Graves zu bitten, diesem Nenda ein paar Fachfragen zu diesem Thema zu stellen. Aber damit würden wir auch nichts erreichen. Er hat einen weiten Weg hierher zurückgelegt, beinahe neunhundert Lichtjahre — es sei denn, auch das wäre eine Lüge. Aber er kommt auf jeden Fall aus der Zardalu-Gemeinschaft, und die ist mindestens vier Bose-Knoten von hier entfernt. Irgendwelche Ideen, was er wirklich hier sucht?«

»Ich habe keine Ahnung.« Nun wurde Perry wieder schweigsam und blickte irgendwo in die Ferne. »Aber ich glaube nicht, dass er der Einzige ist, der hier lügt. Der Antwort auf die Anfrage über Dana Lang nach, die Sie an den Nachrichtendienst des Kreises geschickt haben, ist sie die Expertin für Baumeister-Artefakte, für die sie sich ausgibt. Damit kennen wir aber immer noch keinen glaubwürdigen Grund, warum sie die Oberfläche von Erdstoß unbedingt aufsuchen will. Sie könnte ihre gesamte Arbeit hier machen oder auf ›Nabelschnur‹ selbst! Aber ob sie uns nun die Wahrheit erzählt oder nicht, macht meines Erachtens überhaupt keinen Unterschied. Sie haben nach meiner Empfehlung gefragt. Hier ist sie: kein Zugang für Lang, kein Zugang für Atvar H’sial, kein Zugang für irgendwen, bis der Gezeitensturm vorbei ist. Und wenn Graves meint, sich über uns hinwegsetzen zu müssen, dann ist das ganz allein seine Sache.«

»Sie würden ihn also allein nach Erdstoß lassen?«

»Großer Gott, nein!« Perry war ernstlich entsetzt. »Dann können Sie ihn genauso gut gleich hier umbringen! Ich werde ihn begleiten.«

»Das habe ich mir gedacht.« Rebka hatte sich entschieden. »Ich werde auch mitkommen!«

Wenn auch aus ganz anderen Gründen, dachte er. Wenn ich nämlich den anderen den Zugang zu Erdstoß gestatte, dann erfahre ich vielleicht den Grund, warum die alle so scharf darauf sind. Aber wenn ich ihnen den Zugang verwehre, dann erfahre, wie scharf sie wirklich darauf sind! Und wahrscheinlich zwinge ich so den einen oder anderen dazu zu handeln. Und wie man mit einer solchen Situation umgeht, das weiß ich.

»Commander Perry«, fuhr er dann fort, »ich habe mich entschieden: Ich stimme Ihrer Empfehlung zu.« Er lächelte innerlich, als er die Überraschung auf Perrys Gesicht sah. »Wir werden sämtlichen Antragstellern den Zugang zu Erdstoß verweigern, bis der Gezeitensturm vorbei ist.«

»Ich bin mir sicher, dass das die richtige Entscheidung ist!« Perrys Selbstbeherrschung war beeindruckend, aber dennoch ließ sich seine Erleichterung nicht verhehlen.

»Womit nun eine weitere Entscheidung ansteht«, sagte Rebka. »Vielleicht sollte wir einfach eine Münze werfen. Also: Wer wird die schlechten Nachrichten Darya Lang und Atvar H’sial überbringen? Und schlimmer noch: Wer sagt es Louis Nenda?«


ARTEFAKT: LINSE.

UKA-Nr.: 1023

Galaktische Koordinaten: 29.334,229 / 1 8.339,895 / –831,22

Name: ›Linse‹

Sternen-/Planetenassoziation: keine, Element im freien Raum

Bose-Zugangsknoten: 108

Geschätztes Alter: 9,138 ± 0,56 Megajahre


Erforschungsgeschichte: Wahrscheinlich dürfte die gesamte Geschichte von ›Linse‹ für immer verborgen bleiben. Da sich dieses Artefakt in der Clade der Zardalu-Gemeinschaft befindet, gingen sämtliche früheren Aufzeichnungen im Zuge des Zusammenbruchs des Zardalu-Reiches verloren. Angesichts der Tatsache, dass die Zardalu ihr Hauptaugenmerk den Biowissenschaften widmen und rein physikalischen Phänomenen nur sehr begrenzte Bedeutung beimessen, ist es allerdings als höchst unwahrscheinlich anzusehen, dass von ihnen jemals eine systematische Erforschung von ›Linse‹ in Angriff genommen wurde.

Die belegte Geschichte von ›Linse‹ beginnt im Jahr 122 E. doch es wurde lange Zeit davon ausgegangen, dass das Artefakt extragalaktischen Ursprungs ist. Diese lokale Besonderheit des Spiralarms wurde 388 E. aufgrund von Parallaxen-Effekten entdeckt. Der Versuch einer direkten Annäherung wurde im Jahr 2101 E. durch Kusra unternommen (ohne Rückreise), doch es konnten keinerlei physikalische Hinweise auf materielle Existenz gleich welcher Art gefunden werden. Paperl und Ula H’sagta (2377 E.) haben eine Polarisationsveränderung bei Laserstrahlen beobachtet, die durch die Region von ›Linse‹ geschickt wurden, auf diese Weise dessen genaue Position bestätigt und deren Ausmaße kartographiert.


Physisch-technische Eckdaten: Bei ›Linse‹ handelt es sich um eine fokussierend wirkende Raumregion von 0,23 Lichtjahren im Durchmesser und einer Dicke von anscheinend Null (sukzessive Einfallswinkel-Messungen wurden bis zu einer angenommene Dicke von einem Mikrometer durchgeführt). Die beschriebene Fokussierung erfolgt nur im Wellenlängenbereich von 0,110 bis 2,335 Mikrometer, bei einer Annäherung an einen Einfallswinkels von bis zu 0,077 Grad zur von der ›Linse‹ aufgespannten Ebene. Es gibt jedoch schwache Hinweise auf Wechselwirkung mit Strahlen einer Wellenlänge, die oberhalb von 0,1 Lichtjahren liegt (die geringe Energie derartiger Strahlung gestattet keine klare Differenzierung von der kosmischen Hintergrundstrahlung und lässt die entsprechenden Befunde zweifelhaft erscheinen). Alle anderen Formen des Lichts, sämtliche Partikel oder massive Objekte und sämtliche Gravitationswellen passieren die ›Linse‹ anscheinend ohne jede Einflussnahme. Die Fokussierung der Strahlung erfolgt anscheinend perfekt achromatisch, und zwar für sämtliche Wellenlängen des genannten Bereiches. Innerhalb dieses Bereiches fungiert ›Linse‹ wie ein beugungsbegrenztes Fokussierungswerkzeug mit einer effektiven Apertur von 0,22 Lichtjahren und einer Brennweite von 427 Lichtjahren. Mit dessen Hilfe konnten planetare Details in Galaxien beobachtet werden, die sich in mehr als einer Million Parsec Entfernung befinden.


Physikalische Eigenschaften: In diesem Abschnitt muss bedauerlicherweise eine ausschließende Liste all der Dinge vorgelegt werden, die ›Linse‹ nicht ist. Die derzeitige Wissenschaft und Technik vermögen keine haltbare Ansätze vorzulegen, was ›Linse‹ ist.

Die ›Linse‹ ist nicht aus Partikeln zusammengesetzt, die den heutigen Bewohnern des Spiralarms bekannt wären. Es handelt sich nicht um eine Raum-Zeit-Singularität, da eine derartige Singularität nicht nur Licht gewisser Wellenlängen beeinflussen kann, ohne sich auf andere Formen der Materie und der Strahlung auszuwirken. Aus dem gleichen Grund kann es sich auch nicht um ein Konstrukt aus gebundenen Gravitonen handeln. Es kann keine Superstring- oder Superschleifenstruktur besitzen, da keinerlei Strahlung, weder spontan noch induziert, beobachtet werden kann.


Mutmaßlicher Zweck: Unbekannt. Die ›Linse‹ stellt ein Paradebeispiel für das Makroingenieurswesen der Baumeister dar, sowohl was das Ausmaß der Leistung als auch das des hinter diesem Phänomen stehenden Geheimnisses betrifft. Der spezifizierte Wellenlängenbereich hat allerdings einige Forscher, die sich intensiv mit diesem Artefakt befasst haben, zu der Spekulation angeregt, es könne Aufschluss über den Spektral-Sensitivitätsbereich der Augen der Baumeister selbst geben. Da es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass die Baumeister über irgendetwas verfügt haben, was dem Analogon der Augen eines Menschen oder eines Hymenopters entspricht, ist diese Vermutung nur von marginalem Interesse.

Weiterhin wurde die Vermutung aufgestellt, diese ›Linse‹ moduliere das durch sie hindurchfallende Licht in einer bisher nicht bekannten Art und Weise. Sollte dem so sein, dann wäre die Funktion dieses Artefaktes, die Tatsache, dass es als fokussierende Linse fungiert, nicht mehr als nur ein zufälliger Nebeneffekt des eigentlichen Zwecks der Struktur.


— Aus Langs Universal-Katalog der Artefakte, Vierte Auflage.

Загрузка...