15 Gezeitensturm minus acht

Darya Lang tat das, was in dieser Lage das Natürlichste der Welt war: Sie setzte sich auf den Boden und heulte. Doch wie Nennonkel Matra immer gesagt hatte, schon vor langer, langer Zeit: Weinen löst auch keine Probleme. Nach einigen Minuten hörte sie damit auf.

Zuerst war sie nur verwirrt gewesen. Warum sollte Atvar H’sial sich die Mühe machen, sie zu betäuben und dann mitten im Nirgendwo auszusetzen, in einer Gegend von Erdstoß, die sie nur ausgewählt hatten, weil sie wie ein guter Landeplatz gewirkt hatte? Ihr wollte absolut keine Erklärung dafür einfallen, warum die Cecropianerin verschwunden war, während ihre menschliche Reisegefährtin geschlafen hatte.

Darya war Tausende von Kilometern von ›Nabelschnur‹ entfernt. Sie hatte nur eine sehr grobe Vorstellung davon, in welcher Richtung das Artefakt überhaupt lag. Sie hatte keine andere Möglichkeit der Fortbewegung, konnte nur zu Fuß gehen. Die sich daraus ergebende Schlussfolgerung war schlicht: Atvar H’sial hatte die Absicht, sie auf Erdstoß auszusetzen, damit sie, Darya Lang, den Tod fände, wenn der Gezeitensturm richtig einsetzte.

Aber warum sollte die Cecropianerin ihr dann noch Proviant dalassen? Warum eine Maske mit einem Atemfilter und einen einfachen, geradezu primitiven Wasseraufbereiter? Und das Verwirrendste von allem: warum sollte Atvar H’sial der zurückgelassenen Reisegefährtin einen Signalgenerator dalassen, mit dem sie einen Notruf würde absetzen können?

Kaum hatte die Verwirrung nachgelassen, fühlte sich Darya jämmerlich, dann war sie wütend geworden, einfach nur wütend. Eine solche Abfolge von Emotionen zu durchleben, hätte sie sich niemals zugetraut, damals, in jenen ruhigen Tagen, bevor sie Wachposten-Tor verlassen hatte. Sie hatte sich selbst immer für eine sehr vernunftorientierte Person gehalten, eine Wissenschaftlerin, Bürgerin eines geordneten und logischen Universums. Wut war keine vernunftorientierte Reaktion, Wut behinderte den Denkprozess. Doch Danas Welt hatte sich verändert, und sie war gezwungen, sich gemeinsam mit dieser ihrer Welt zu verändern. Die Intensität der Gefühle, von denen sie sich plötzlich übermannt fühlte, versetzte sie in Erstaunen. Wenn sie wirklich würde sterben müssen, dann nicht, ohne zu kämpfen!

Sie kauerte sich neben dem nächstgelegenen Tümpel auf den weichen Boden und begutachtete systematisch sämtliche Gegenstände, die sie noch zur Verfügung hatte — einen nach dem anderen. Beim Wasseraufbereiter handelte es sich um eine kleine Blitzverdampfungseinheit, mit der man selbst noch aus den bittersten Alkalilaugen der schlimmsten dieser Tümpel in kürzester Zeit sauberes, trinkbares Wasser gewinnen konnte. Das Maximum dessen, was eine derartige Einheit pro Tag würde reinigen können, lag bei etwas mehr als einem Liter. Die Lebensmittelpäckchen, die sie noch hatte, waren einfach und geschmacksneutral, aber sie waren selbsterhitzend, nahrhaft und in ausreichend großer Zahl vorhanden — das sollte für Wochen reichen. Der Signalgenerator war, soweit sie das beurteilen konnte, völlig funktionstüchtig. Und die wasserdichte, wattierte Decke, unter der alles lag, würde vor Hitze, Kälte und Regen schützen.

Schlussfolgerung: Wenn sie hier starb, dann weder vor Hunger, noch vor Durst, noch vor Unterkühlung oder Überhitzung.

Das war ein schwacher Trost. Der Tod würde also sehr plötzlich kommen und sehr viel gewaltsamer sein. Die Luft war heiß und wurde spürbar heißer. Im Abstand weniger Minuten spürte sie immer wieder, wie die Erde unter ihr erzitterte, wie ein Schläfer, der einfach keine bequeme Position zu finden schien. Das schlimmste waren diese heftigen böigen Winde, die ein feines, weißes Pulver herbeitrugen, das in den Augen brannte und allem einen unangenehm metallischen Beigeschmack verlieh. Auch die Maske und der Atemfilter boten nur bedingt davor Schutz.

Darya ging zum Ufer des Sees zurück und sah das geisterhafte Spiegelbild von Gargantua auf dem dunklen Wasser. Der Planet wurde von Stunde zu Stunde heller und größer. Er war immer noch weit von der maximalen Annäherung an Mandel entfernt, doch wenn Darya aufblickte, dann konnte sie schon jetzt die drei größten Monde erkennen, die auf sonderbar unregelmäßigen Bahnen den Planeten umrundeten. Sie konnte die Kräfte fast körperlich spüren, mit denen Gargantua, Mandel und Amarant auf diese Satelliten einwirkten und sie in verschiedene Richtungen gleichzeitig zerrten. Und die gleichen Gravitationskräfte wirkten auch auf Erdstoß ein. Der Planet, auf dem sie sich gerade befand, wurde gerade erheblich beansprucht. Die Oberfläche musste kurz davor stehen, überall aufzubrechen.

Also warum hatte Atvar H’sial sie hier gelassen, ihr dann aber Lebensmittel und Schutz gegeben, wenn der Gezeitensturm einen Erdstoß-Besucher wie sie doch sowieso erledigen würde?

Es musste eine Erklärung für das geben, was sich hier ereignet hatte. Darya musste nachdenken.

Sie kauerte sich an das Wasser, suchte einen Platz, an dem sie wenigstens teilweise von dem umherwirbelnden Staub Schutz würde finden können. Wenn Atvar H’sial sie hätte töten wollen, dann hätte sie das sehr einfach tun können, während Darya geschlafen hatte. Stattdessen hatte die Cecropianerin sie am Leben gelassen. Warum?

Weil Atvar H’sial sie brauchte, und zwar lebendig. Die Cecropianerin wollte sie nicht in ihrer Nähe haben, wenn sie irgendeine Intrige spann — worum auch immer es dabei gehen mochte —, doch später würde Atvar H’sial sie brauchen. Vielleicht wegen irgendetwas, das sie über Erdstoß wusste oder über die Baumeister. Aber was könnte das sein? Nichts, was Darya sich vorzustellen vermochte.

Also die Frage anders stellen: Was könnte Atvar H’sial wohl über Daryas Wissenstand vermuten?

Eine vernünftige Mutmaßung hatte Darya derzeit nicht zu bieten, aber im Augenblick schien ihr die Beantwortung dieser Frage auch eher zweitrangig. Die neue Darya beharrte darauf, dass der Grund zu handeln nie so wichtig war wie das Handeln selbst. Von Bedeutung war jetzt, dass man sie hier kaltgestellt hatte — oder eigentlich ›warmgestellt‹ —, und das auf unbestimmte Zeit; irgendwann würde vielleicht irgendjemand wieder nach ihr schauen. Und wenn sie nichts unternähme, würde sie sterben.

Aber so sollte, durfte es nicht kommen. Sie würde es nicht zulassen!

Darya stand auf und sah sich ihre Umgebung aufmerksam an. Einmal war sie schon auf Atvar H’sial hereingefallen und hatte die Fahrt auf ›Nabelschnur‹ organisiert. Noch einmal wäre sie bestimmt nicht mehr so dumm!

Der See, neben dem sie stand, war der größte See eines halben Dutzends miteinander verbundener Gewässer. Der kleinste war kaum einhundert Meter im Durchmesser, der größte vielleicht vierhundert. Der Ablauf des nächstgelegenen Sees, keine vierzig Schritte von Darya entfernt, plätscherte einen kleinen Wasserfall hinunter, einen oder zwei Meter hoch, und ergoss sich von dort in den nächsten See.

Darya suchte das Ufer nach irgendeiner Art Schutz ab. Angesichts des Wetters musste es etwas recht Robustes sein. Der Wind nahm immer weiter zu, und feiner Sand drang in jede Ritze, jede Öffnung — sämtliche ihrer Körperöffnungen eingeschlossen: alles andere als angenehm.

Wo? Wo sollte sie sich verstecken, wo sollte sie Unterschlupf finden? Der Überlebenswille — sie wollte, sie würde überleben! — wurde machtvoller und machtvoller.

Sie wischte sich feinen Talk von Armen und Oberkörper. Erdbeben mochten auf lange Sicht eine Gefahr darstellen, aber im Augenblick war das Schlimmste dieser überallhin vordringende, heftig umherwirbelnde Staub. Dem musste Darya unbedingt entkommen. Und nirgendwo schien es einen Ort zu geben, an dem sie davor geschützt sein würde.

Was machen denn die einheimischen Tiere dagegen?

Diese Frage schoss ihr durch den Kopf, während sie zum Ufer des Sees hinüberschaute; am Ufer war der Boden von zahllosen Löchern übersät, als hätten sich dort ebenso viele Tiere aller möglichen Größen eingegraben. Zu dieser Jahreszeit blieben die Lebensformen von Erdstoß nicht einfach an der Oberfläche. Sie gingen unter die Oberfläche oder noch besser: unter Wasser. Darya erinnerte sich an die großen Herden von Tieren mit weißem Rücken, die geradewegs auf die Seen zugestapft waren.

Konnte sie, ein Mensch, es ihnen gleichtun? Auf dem Grund eines hochgradig alkalischen Sees zu sein war nicht gerade eine angenehme Vorstellung, doch wenigstens würde sie so diesem Staub entkommen.

Nur dass sie nicht auf dem Grund eines Sees überleben konnte. Sie musste doch atmen. Es gab keinerlei Möglichkeit, einen Luftvorrat mit nach unten zu nehmen.

Sie watete ins Wasser, bis es ihr zu den Knien reichte. Das Wasser war angenehm warm, und als sie tiefer hineinging, merkte sie, dass die Temperatur sich noch ein wenig steigerte. Wenn der Boden weiterhin in diesem Maße abschüssig war, dann sollte das Wasser in der Mitte dieses Sees ihr über den Kopf reichen. Wenn sie so weit hineinging, dass ihr das Wasser gerade bis zum Kinn reichte, dann würden die Dichtungen ihrer Maske und ihres Atemfilters sich unter der Wasseroberfläche befinden, und nur ihr Kopf würde aus dem Wasser herausragen. Das würde den Staub abhalten.

Aber wie viele Stunden konnte sie so stehen bleiben? Auf jeden Fall nicht lange genug, oder?

Eine Lösung also, die keines ihrer Probleme löste.

Nun begann sie, der Flussrichtung dieser aufgereihten Seen zu folgen, stieg von einer Ebene auf die nächste, die sich wie die Stufen einer Treppe aneinander reihten. Der erste Wasserfall überwand eine Höhe von etwa zwei Metern in Form eines halben Dutzends Stromschnellen, die über glatt geschliffene Steinvorsprünge sprangen und schließlich in den größten der Seen mündeten. Wenn überhaupt, war der Staub hier unten höchstens noch schlimmer als weiter oben.

Darya ging weiter. Der See, zu dem sie gelangt war, hatte in etwa die Form einer Ellipse, mindestens dreihundert Meter breit, dabei vielleicht fünfhundert Meter lang. Dessen Mündung war entsprechend breiter, ein richtiger Wasserfall, den Darya schon hören konnte, als sie noch vierzig Meter entfernt war.

Als sie den tosenden Wasserfall schließlich erreichte, sah sie eine geradezu massive Wasserwand, die drei Meter in die Tiefe, beinahe senkrecht in den nächsten See der aneinandergereihten Seenplatte hinabstürzte. Das Wasser, das vom Fuße des Wasserfalls wieder aufspritzte, schlug sich auf ihrer Maske nieder, doch wenigstens wusch das einen Teil des Staubs aus der Luft. Wenn Dana nichts Besseres finden sollte, mochte dies hier ein Ort sein, an den sie würde zurückkehren können.

Sie hatte sich schon zum nächsten See aufmachen wollen, als sie plötzlich bemerkte, dass der Wasserfall in Wirklichkeit über einen kleinen Vorsprung an dieser Felswand strömte. Dahinter befand sich eine freie Fläche. Wenn sie es schaffte, durch den Wasserfall hindurchzukommen, ohne vom Wasser mitgerissen zu werden, fände sie dort einen geschützten Bereich, an dem der Staub sie nicht mehr erreichen würde: auf der einen Seite eine massive Felswand, auf der anderen das ständig herabströmende Wasser!

Vorsichtig trat Darya an den Wasserfall heran, presste sich, so eng sie konnte, gegen die Felswand, und machte die ersten Schritte ganz langsam seitwärts in den Wasserfall hinein. Es reichte ihr, diese ersten Schritte erfolgreich hinter sich gebracht zu haben: Sie wusste augenblicklich, dass sie es schaffen konnte, ganz hindurchzukommen. Der weitaus größte Teil des Wassers erwischte sie gar nicht; dank des Felsvorsprungs stürzte er ein Stück weit vor ihr herab, und nur das Tosen und einzelne Wassertropfen erreichten die hinter dem Wasserfall gelegene Felswand. Und genau wie sie gedacht hatte, befand sich dahinter ein größerer Hohlraum.

Das Problem war: Der Vorsprung und der Hohlraum waren nicht groß genug für sie. Sie würde zwar sitzen können, hocken, aber nicht aufstehen, ohne den Kopf in den Wasserfall hineinhalten zu müssen. Sie konnte sich auch nicht ausgestreckt hinlegen. Der Felsboden war zu uneben. Und es gab keinen einzigen Quadratzentimeter, nicht an den Wänden, nicht am Boden, der nicht beständig von Spritzwasser getroffen wurde.

Kurz packte sie Entsetzen, Verzweiflung, doch dann riss sie sich zusammen. Was hatte sie denn erwartet: ein Luxus-Apartment wie in der Allianz? Hier ging es nicht um Bequemlichkeit, hier ging es ums Überleben!

Im Schutze der Decke sollte sie sich zusammengerollt hier aufhalten können, den Rücken gegen die Felswand gepresst. Ein Großteil ihrer Lebensmittel und ihres Getränkevorrats ließ sich gewiss außerhalb verstauen, und wann immer es notwendig werden sollte, konnte sie die Höhle lange genug verlassen, um Lebensmittel zu holen oder sich die Beine zu vertreten. Sie konnte die Maske und den Atemfilter auswaschen, wenn sie sich im Inneren der Höhle befand, um den Staub zu entfernen. Und hier hätte sie es warm genug, selbst wenn sie nie ganz trocken sein würde oder sich wirklich würde ausruhen können. Aber sollte es notwendig sein, konnte sie hier mehrere Tage überleben.

Dreimal ging sie zurück, um alle ihre Vorräte zu holen. Bei den ersten beiden Gängen trug sie alles, was sie hatte, vom Funkfeuer abgesehen, bis zum Wasserfall, und überlegte dann lange Zeit, was sie mit hinein würde nehmen wollen und was besser draußen blieb.

Beim dritten Gang musste sie die schwierigste aller Entscheidungen fällen.

Sie trug den Signalgenerator des Funkfeuers zu einem möglichst hochgelegenen Punkt in der Nähe des Sees. Sie konnte ihn auf einen Steinhaufen stellen, um seine Reichweite noch ein wenig zu vergrößern. Sie konnte sicherstellen, dass er über genügend Energie verfügte. Aber konnte sie sonst noch irgendetwas tun?

Sie dachte darüber nach, und sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte. Wenn oder falls Atvar H’sial zurückkehrte, wäre Darya ihr immer noch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, man konnte sie ausnutzen, retten oder einfach hier lassen, ganz wie die Cecropianerin das für richtig hielt. Vor zwei Monaten noch hätte Darya sich dieser Unausweichlichkeit gefügt; jetzt empfand sie die Situation als in jeder Hinsicht unakzeptabel.

Sie wickelte den Generator in die Decke und trug ihn durch den Wasserfall in die Höhle. Dann schob sie die wasserdichte Decke so zurecht, dass sie und das Funkfeuer vor dem Spritzwasser so gut als möglich geschützt waren. Mandel stand hoch am Himmel, aus seiner Sicht war es jetzt bald Mittag, und genug Licht drang durch den Wasservorhang.

Langsam und vorsichtig deaktivierte sie den Generator und zerlegte ihn dann teilweise. Es wäre ein übler Fehler, jetzt irgendetwas zu überstürzen, und Zeit schien das Einzige zu sein, was sie im Überfluss zur Verfügung hatte. Darya wusste, welche Schaltungen sie benötigte, doch sie musste improvisieren, um die Impedanz zu erreichen, mit der sie das Gewünschte würde erreichen können. Sie nahm die Hochspannungswechselstromleitungen und leitete den Ausgangsstrom parallel zur Frequenzstufe ein, erst durch den Transformator, dann zum Signalgeber. Dann galt es, sich auf das Gedächtnis zu verlassen und sich an Kurse in Neural-Elektronik aus längst vergangenen Zeiten zu erinnern. Der Convolver, den sie brauchte, war kaum mehr als ein nichtlinearer Oszillator, und in den Signalgeneratoren gab es Widerstände und Kondensatoren, die mehr als eine Funktion würden übernehmen können. Das Endergebnis konnte sie nicht überprüfen, doch die Veränderungen, die sie vorgenommen hatte, waren eigentlich nicht sonderlich ausgefallen. Es sollte funktionieren. Die größte Gefahr bestand darin, dass die Modifikationen vielleicht zu mehr Leistung geführt hatten.

Mandel ging bereits unter, als Darya endlich fertig war. Das umgebaute Funkfeuer wurde wieder hinaustransportiert, in das rötliche Licht von Amarant und den unablässigen Sandsturm hinaus, und dann auf dem kleinen Steinhügel positioniert. Darya aktivierte es und nickte zufrieden, als die Betriebsanzeige aufblinkte, um ihr zu verkünden, dass das Funkfeuer wieder arbeitete.

Dann schlängelte sie sich in die Höhle hinter dem Wasserfall zurück, hüllte sich ganz in die Decke und rollte sich auf dem Felsvorsprung zusammen. Kleine Steinchen bohrten sich ihr in die Seite. Vom Wasserfall trafen sie immer und immer wieder Wassertropfen, und die ganze Zeit über war das Tosen des Wassers zu hören. Dazu kam die unruhige Bewegung von Erdstoß selbst; der Planet selbst schien immer lauter aufzustöhnen, als die Streckbank der Gezeitenkräfte immer stärker angezogen wurde.

Niemand konnte erwarten, unter derartigen Bedingungen Schlaf zu finden. Darya knabberte an trockenem Schiffszwieback, schloss die Augen und konzentrierte sich auf einen einzigen Gedanken: Sie wehrte sich. Was sie getan hatte, war wenig genug, aber das war alles, was sie derzeit tun konnte.

Und morgen würde sie eine neue Idee haben, wie sie sich würde retten können.

Mit diesem Gedanken im Kopf, den halb aufgegessenen Zwieback noch in der Hand, driftete sie in den erholsamsten Schlaf, den sie hatte finden können, seit sie von Wachposten-Tor aufgebrochen war.


Hans Rebka hatte einen weiteren Grund, warum er sich wünschte, allein zu sein. Kurz bevor sie von Opal aufgebrochen waren, hatte ihn eine weitere verschlüsselte Nachricht aus dem Hauptquartier des Phemus-Kreises erreicht. Angesichts der Eile ihres Aufbruchs hatte er nicht die Zeit gehabt, sich darum zu kümmern, was man ihm so dringend mitteilen wollte; doch während die Kapsel entlang ›Nabelschnur‹ auf Erdstoß hinabsank, hatte er wenigstens einen ersten Blick auf die Nachricht werfen können. Er hatte gerade genug entziffern können, um zum Zeitpunkt ihrer Landung ziemlich beunruhigt zu sein. Während der Flugwagen ihn dann nach Norden trug, fort von der Opalseite und auf die Sternenseite von Erdstoß zu, schien diese Nachricht ihm geradezu ein Loch in die Tasche seines Jacketts zu brennen. Er stellte den Wagen auf Autopilot, ignorierte die bedrohliche Landschaft unter sich und machte sich nun ernstlich daran, die Nachricht endlich zu entschlüsseln.

Das Hauptquartier hatte von Primzahlen und cyclischen Gruppen als Basis ihres Codes auf eine Methode verketteter Invarianten umgestellt. Das machte es Unbefugten fast unmöglich, diese Nachrichten zu knacken — und für Befugte wurde sie so deutlich schwerer zu entziffern, selbst wenn man den betreffenden Schlüssel kannte. Rebka wies einen Großteil der Rechenkapazität des Bordcomputers dieser Aufgabe zu und machte sich daran, die Nachricht Symbol um Symbol zu entschlüsseln. Es war nicht gerade hilfreich, dass es bei Übertragungen während des Bose-Transits gelegentlich zu Datenverlusten kam, sodass es neben der eigentlichen Verschlüsselung auch noch zu rein statistischen Verstümmelungen kam.

Das erste Signal, das er empfangen hatte, enthielt drei voneinander unabhängige Nachrichten. Die erste davon, die er nach einer Dreiviertelstunde geduldiger Kleinstarbeit endlich entschlüsselt hatte, hätte ihn beinahe dazu gebracht, die ganze Aufzeichnung einfach aus dem Fenster seines Flugwagens zu werfen.


… DAS RATSMITGLIED DER ALLIANZ, DAS SICH AUF DEM WEG IN DAS DOBELLE-SYSTEM BEFINDET, REIST UNTER DEM NAMEN JULIUS GRAVES, ANSCHEINEND GELEGENTLICH AUCH UNTER DEM NAMEN STEVEN GRAVES. DER ALLIANZRAT IST UM EINEN KÖRPERINTERNEN MNEMOTECHNIK-ZWILLING ERWEITERT WORDEN, DER ALS AUSGELAGERTER SPEICHERORT HÄTTE FUNGIEREN SOLLEN; DOCH DIE RESULTIERENDE ENTWICKLUNG NAHM NICHT DEN ZU ERWARTENDEN VERLAUF. UNSERE EXPERTEN HALTEN EINE UNVOLLSTÄNDIGE INTEGRATION FÜR DENKBAR. DAS KANN ZU LAUNISCHEM ODER UNSTETEM VERHALTEN FÜHREN. SOLLTE GRAVES DOBELLE ERREICHEN UND SOLLTE ER VERHALTENSAUFFÄLLIGKEITEN AN DEN TAG LEGEN, HABEN SIE DIESEN TENDENZEN ENTGEGENZUWIRKEN UND JEGLICHE UNLOGISCHE ENTSCHEIDUNG, DIE ER ZU FÄLLEN BEABSICHTIGT, AUSSER KRAFT ZU SETZEN. BITTE BEDENKEN SIE, DASS EIN MITGLIED DES RATES ÜBER EINE ENTSCHEIDUNGSGEWALT VERFÜGT, DIE JEGLICHE MÖGLICHKEIT DER KONTROLLE DURCH PIANETARE REGIERUNGEN AUSSCHLIESST! DIESER ASPEKT IST ZU BERÜCKSICHTIGEN …


»Na vielen Dank, Jungs!« Rebka zerknüllte die Nachricht zu einer kleinen Kugel und warf sie hinter sich über seine Schulter. »Er ist verrückt, und er kann alles tun, was er will — aber es ist mein Job, ihn im Zaum zu halten, ihn aufzuhalten. Und wenn ich das nicht schaffe, dann wird mein Kopf rollen! Ganz prima!«

Das war ein weiteres Beispiel für ›Handeln aus weiter Ferne‹: Eine Regierung versuchte hier über eine Distanz von Hunderten von Lichtjahren hinweg in die Ereignisse einzugreifen. Rebka machte sich daran, die nächste Nachricht zu entschlüsseln.

Damit verbrachte er eine weitere Stunde. Als er fertig war, schien die Nachricht nicht sonderlich hilfreich zu sein, doch wenigstens lieferte sie Informationen, statt einfach nur das Unmögliche zu fordern.


… FÜR IHRE DERZEITIGE LAGE VIELLEICHT NICHT VON UNMITTELBARER BEDEUTUNG, DOCH ES GIBT ZAHLREICHE, VONEINANDER UNABHÄNGIGE MELDUNGEN ÜBER VERÄNDERUNGEN AN ARTEFAKTEN DER BAUMEISTER AUS ALLEN BEREICHEN DES SPIRAIARMS. STRUKTUREN, DIE SEIT MENSCHEN- UND CECROPIANER-GEDENKEN UND LAUT ALLEN VERBLIEBENEN AUFZEICHNUNGEN DER ZARDALU-GEMEINSCHAFT KONSLANT UND UNVERÄNDERLICH WAREN, ZEIGEN FUNKTIONELLE ABSONDERLICHKEITEN UND VERÄNDERTE PHYSIKALISCHE EIGENSCHAFTEN. DIES ERMUTIGT ZAHLREICHE FORSCHUNGSGRUPPEN, ERNEUT DIE MÖGLICHKEIT ZU ERUIEREN, DAS BISHER UNERFORSCHTE INNERE ZAHLREICHER ARTEFAKTE ZU UNTERSUCHEN …


»Ist ja was ganz Neues!« Rebka bedachte den Computer, der diese unverschämte Nachricht auf seinem Display erscheinen ließ, mit einem finsteren Blick. »Und natürlich erinnert ihr euch nicht mehr daran, dass ich bereits auf dem Weg war, ›Paradox‹ zu erkunden, als ihr mir diesen idiotischen Auftrag erteilt habt? Ihr Idioten habt mich doch dort weggeholt!«


… WÄHREND DER AUSÜBUNG IHRER ANDEREN PFLICHTEN BITTE AUCH DAS ARTEFAKT DES DOBELLE-SYSTEMS, ALS ›NABELSCHNUR‹ BEZEICHNET, ZU BEOBACHTEN UND ZU ERMITTELN, OB SICH IN DESSEN FUNKTION ODER ERSCHEINUNGSBILD SIGNIFIKANTE VERÄNDERUNGEN ERGEBEN HABEN. BISHER WURDE DERGLEICHEN NICHT GEMELDET …


Rebka wandte den Kopf und schaute in die Richtung, aus der er gekommen war. ›Nabelschnur‹ war schon lange nicht mehr zu erkennen. Rebka sah nur die unterbrochene Linie des Terminators dieses Planeten, wie zahllose aufgereihte, orange-glühende Perlen am geschwungenen Horizont. Dort hatte sich eine gewaltige Eruption ereignet. Er schaute zur Oberfläche hinunter, über die er hinwegraste — da unten war alles ruhig — und rief die dritte Nachricht auf.

Die glich die beiden anderen Meldungen aus. Es war endlich die Antwort auf die Frage, die Rebka übermittelt hatte.


… EINE CECROPIANERIN, AUF DIE IHRE BESCHREIBUNG PASST. SIE IST AN DER EVOLUTION VON LEBENSFORMEN UNTER UMWELTSTRESS INTERESSIERT, GENAU WIE SIE DAS ERWÄHNT HATTEN, ABER ZUDEM IST SIE AUCH EINE ANERKANNTE EXPERTIN FÜR DIE TECHNOLOGIE DER BAUMEISTER …

… SIE BEDIENT SICH ZAHLREICHER VERSCHIEDENER NAMEN (AGTIN H’RIF, ARIOJ H’MINEA, ATVAT H’SIAR, AGHARH’SIMI) UND VERÄNDERT HÄUFIG IHR ÄUSSERES. ES LIEGT IM BEREICH DES MÖGLICHEN, SIE ANHAND IHRES BEGLEITERS ZU IDENTIFIZIEREN, EINES ÜBERSETZER-SKLAVEN AUS DER FAMILIE DER LO’TFIANER. SIE STELLT EINE GEFAHR FÜR MENSCHEN UND CECROPIANER GLEICHERMASSEN DAR, IST FÜR DEN TOD VON MINDESTENS ZWÖLF VERNUNFTBEGABTEN LEBEWESEN VERANTWORTLICH SOWIE FÜR DEN TOD VON SIEBENUNDZWANZIG POTENZIELL VERNUNFTBEGABTEN LEBEWESEN.

NACHTRÄGLICHE ANMERKUNG: LOUIS NENDA (MENSCH, VERMUTLICH BIOTECHNISCH ERWEITERT), VOM PLANETEN KARELIA AUS DER ZARD ALU-GEMEINSCHAFT BEFINDET SICH EBENFALLS AUF DEM WEG IN DAS DOBELLE-SYSTEM. ER WIRD VON EINEM HYMENOPTER-SKLAVEN BEGLEITET. WEITERE DETAILS LIEGEN NICHT VOR, DOCH DAS KARELIANETZ LÄSST VERMUTEN, DASS NENDA EBENFALLS GEFÄHRLICH SEIN KÖNNTE.

WEDER DER CECROPIANERIN NOCH DEM KARELIANER SOLLTE DER ZUGANG ZUM DOBELLE-SYSTEM GEWÄHRT WERDEN …


Rebka warf die Druckversion der Nachricht nicht aus dem fahrenden Wagen — dafür war dieser zu hoch und zu schnell. Doch er zerknüllte den Ausdruck und warf diesen über seine Schulter hinweg hinter sich, zu den beiden anderen. Er hatte mehr als drei Stunden damit verbracht, diese Schreiben aus dem Hauptquartier des Kreises zu entziffern, und sie boten ihm nichts als schlechte Nachrichten. Er hob den Kopf und starrte aus dem Fenster, in Fahrtrichtung. Amarant lag hinter ihm, und das Dach des Wagens filterte dessen Licht. Er schaute in Richtung Westen, sah gerade noch die letzten Lichtstrahlen von Mandel, als der Hauptstern des Systems hinter der dunklen Sichel von Erdstoß verschwand. Dann versank der Rand der Sonne hinter dem Horizont.

Seine Augen passten sich den veränderten Lichtverhältnissen an. Nachdem das geschehen war, nahm er ein schwaches Blinken wahr, ein winziger roter Lichtpunkt, der neben der Instrumententafel flackerte. Im gleichen Augenblick wurde die ganze Kabine von einem grellen Piepton erfüllt.

Die Notfrequenz.

Die Haut in seinem Nacken kribbelte vor Anspannung. Noch sechzig Stunden bis zum Gezeitensturm. Und irgendjemand oder irgendetwas, dort unten, auf der bedrohlichen, düsteren Oberfläche von Erdstoß vor ihm, war in gewaltigen Schwierigkeiten.


Das Funkfeuer lotste ihn an die Grenze des Gebietes der Eintausend Seen, nicht allzu weit von der Region entfernt, die Max Perry für den wahrscheinlichsten Aufenthaltsort der Carmel-Zwillinge hielt. Rebka überprüfte den Energievorrat seines Flugwagens. Energie hatte der Wagen noch reichlich — jeder Flugwagen konnte Erdstoß einmal vollständig umrunden und hätte danach immer noch eine vernünftige Reserve. In der Hinsicht gab es gar keinen Grund zur Beunruhigung. Rebka setzt eine kurze Meldung an Perry und Graves ab, dann beschleunigte er den Wagen und gab den neuen Kurs ein, ohne auf Bestätigung oder Zustimmung seiner Gefährten zu warten.

Mandel war immer noch nicht zu sehen; doch Gargantua stand hoch am Himmel und spendete genug Licht, sodass Rebka problemlos zur Landung ansetzen konnte. Nun starrte er geradeaus. Er jagte über eine ganze Reihe fast kreisrunder Seen hinweg; das Wasser dampfte und wallte. Die unruhige Oberfläche passte sehr gut zu Rebkas eigener Stimmung. Nirgends, vom einen düsteren Horizont zum anderen, gab es hier Anzeichen von Leben. Dafür hätte er wohl in die Wasser der Eintausend Seen selbst hineinblicken müssen oder in die tiefsten Stellen der Pentacline-Senke. Oder noch tiefer — die hartnäckigsten Lebensformen mussten sich tief unter der unruhigen Oberfläche von Erdstoß verkrochen haben. Ob die Carmel-Zwillinge geistesgegenwärtig genug gewesen waren, es ebenso zu halten?

Doch vielleicht war er ja bereits zu spät gekommen. Die Zwillinge waren keine Fachleute auf dem Gebiet, in rauem, gefährlichem Terrain zu überleben, und von Sekunde zu Sekunde nahm das Ausmaß der Gezeitenkräfte, die auf den Planeten unter ihm einwirkten, zu.

Rebka steigerte die Geschwindigkeit seines Flugwagens noch weiter, trieb sein Gefährt bis zum Äußersten an. Es gab nichts, was er sonst hätte tun können. Seine Gedanken machten sich auf in die Welt der Spekulationen.

Die Schwerkraft ist die schwächste aller Wechselwirkungen in der Natur. Die ›starke Wechselwirkung‹, die ›elektromagnetische Wechselwirkung‹, selbst die ›schwache Wechselwirkung‹, die den Verlauf des Beta-Zerfalls bestimmt, sind noch um mehrere Größenordnungen stärker. Zwei Elektronen, einhundert Lichtjahre voneinander entfernt, stoßen einander mit einer Feldstärke ab, die genauso groß ist wie die gravitative Anziehung zweier Elektronen, die einen halben Millimeter voneinander entfernt sind.

Aber nun betrachte man die Auswirkung gravitativer Gezeitenkräfte. Die sind noch schwächer. Sie kommen lediglich durch die Unterschiede der Gravitationskräfte zustande, die Unterschiede, die sich daraus ergeben, dass auf der einen Seite eines Objektes stärker an diesem gezogen wird als auf der anderen. Während die Schwerkraft selbst dem inversen Quadratgesetz unterliegt — doppelte Entfernung bedeutet ein Viertel der resultierenden Kraft —, unterliegen gravitative Gezeiten der inversen dritten Potenz. Doppelte Entfernung bedeutet ein Achtel der resultierenden Kraft, dreifache Entfernung ein Siebenundzwanzigstel.

Also sollten gravitative Gezeiten eigentlich zu vernachlässigen sein.

Sind sie aber nicht. Sie halten eine Milliarde Monde in der ganzen Galaxis fest, zwingen sie dazu, ihrem Mutterplaneten stets die gleiche Seite zuzuwenden; Gezeiten wirken sich endlos auf Druck oder Zug, der im Inneren einer Welt herrscht, aus, sie bewirken geologische Belastungen und verändern die Form eines Planeten bei jedem einzelnen Gezeitenzyklus, und sie zerreißen und zerfetzen jedes Objekt, das in ein Schwarzes Loch gerät, sodass die Gezeitenkräfte jeden Eindringling unabhängig von dessen eigener Kraft in die kleinsten subatomaren Komponenten zerlegen.

Denn diese Abhängigkeit der resultierenden Kraft von der dritten Potenz der Distanz gilt natürlich ebenso in umgekehrter Richtung: Halbe Entfernung bedeutet das Achtfache der Gezeitenkräfte, ein Drittel der Entfernung das Siebenundzwanzigfache der Gezeitenkräfte, ein Zehntel der Entfernung …

Bei größtmöglicher Annäherung an Mandel betrug die Entfernung des Dobelle-Systems nur ein Elftel der durchschnittlichen Distanz zu seinem Hauptstern. Das bedeutete, dass das 1131fache der durchschnittlichen Gezeitenkräfte sich auf die einzelnen Planeten des Systems auswirkte.

Das war der Gezeitensturm.

Max Perry hatte Hans Rebka diese grundlegenden Fakten dargelegt, und gerade jetzt, während er, Rebka, über die Oberfläche von Erdstoß hinwegjagte, kamen ihm Perrys Worte in den Sinn. Alle vier Stunden packten die gewaltigen, unsichtbaren Hände der Gravitationskräfte von Mandel und Amarant die Planeten Opal und Erdstoß, zerrten an ihnen und drückten auf sie ein und versuchten die ganze Zeit über, die nahezu kugelförmige Gestalt der Himmelskörper in lang gezogene Ellipsoiden zu verwandeln. Und kurz vor dem Gezeitensturm wurde die Energie der Gezeiten in das System gepumpt, und das nicht nur einmal, sondern zweimal an jedem Dobelle-Tag: bei jedem Mal in etwa die Energie von einem guten Dutzend ausgewachsener Atomkriege!

Rebka hatte bereits Welten aufgesucht, auf denen kurz zuvor ein Atomkrieg stattgefunden hatte. Basierend auf diesen Erinnerungen hatte er erwartet, einen Planeten zu erleben, dessen ganze Oberfläche in Aufruhr war, ein siedendes Chaos, in dem jegliches Leben völlig unmöglich war.

Doch dem war nicht so. Und Rebka war immens erstaunt.

Es gab vereinzelte, lokale Eruptionen — das war unvermeidlich. Aber wenn er sich den Boden anschaute, über den er immer noch hinwegraste, dann sah er nichts, was auch nur ansatzweise in der Größenordnung dessen war, was er sich vorgestellt hatte.

Was stimmte hier nicht?

Rebka und Perry hatten ein Faktum übersehen, dass eigentlich seit Newton bekannt war: Die Schwerkraft ist eine Kraft der Masse. Es ist kein Material bekannt, das die Schwerkraft würde abhalten können, das dagegen zu schützen vermochte; jedes Partikel, wo auch immer im Universum es sich befinden mochte, spürte die Gravitationskraft eines jeden anderen Partikels.

Und während so ein mit Kernwaffen geführter Krieg all seine Urgewalt auf die Atmosphäre, die Ozeane und in etwa das oberste Dutzend Meter der Oberfläche eines Planeten losließ, erfassten die Gezeitenkräfte jeden einzelnen Kubikzentimeter der ganzen Welt und drückten, zerrten und verdrehten diesen. Es sind verteilte Kräfte, die sich von der obersten Atmosphärenschicht bis zum innersten Atom des überhitzen Kerns mit seinem immensen Druck auswirken.

Rebka begutachtete die Oberfläche, doch er sah wenig, was auf ein nahendes Armageddon schließen ließ. Dieser Fehler war ebenso natürlich wie grundlegend. Er hätte viel, viel tiefer blicken müssen, dann hätte er vielleicht eine erste Vorstellung davon entwickeln können, was der Gezeitensturm wirklich war.


Ein dichte Wolke erstickenden Staubs raste kreischend über die Oberfläche, als der Flugwagen schließlich zur Landung ansetzte. Rebka steuerte den Wagen unmittelbar in den Sturm hinein, verließ sich darauf, dass die Mikrowellen-Sensoren ihm schon melden würden, falls ernst zu nehmend große Felsbrocken im Weg sein sollten. Die Landung selbst war auch weich genug, doch es gab ein anderes unmittelbares Problem. Das Such- und Rettungssystem meldete ihm, die Notbake befände sich unmittelbar vor ihm, weniger als dreißig Meter entfernt. Doch der Massendetektor beharrte darauf, nichts von der Größe eines Flugwagens sei ihm näher als dreihundert Meter. Die Welt vor dem Wagen endete mit einem Schleier umherwirbelnden Staubs und Sandes, kaum mehr als ein Dutzend Schritte vor dem Bug des Flugwagens.

Erneut warf Rebka einen Blick auf das Such- und Rettungssystem. Es gab keinen Zweifel an der Position der Notbake. Er maß Richtung und Entfernung von der Luke des Wagens aus ab. Dann zwang er sich dazu, sitzen zu bleiben und fünf Minuten zu warten, lauschte dem Sandsturm, der heulend den Wagen durchschüttelte, und hoffte, das Wetter werde sich wenigstens ein bisschen beruhigen. Doch der Wind heulte immer weiter, mit ungebrochener Wucht. Auch die Sicht verbesserte sich nicht. Schließlich streifte Rebka eine Schutzbrille über, eine Atemmaske und Hitzeschutzkleidung, dann öffnete er die Luke. Wenigstens war die Kombination der Widrigkeiten ihm durchaus vertraut. Heulender Wind, eine überhitzte Atmosphäre, übel riechende, fast giftige Luft — fast wie zu Hause. Damit hatte er sich seine ganze Kindheit auf Teufel abplagen müssen.

Er trat hinaus.

Der Sand, den der Wind hier durch die Gegend peitschte, war unglaublich: so feinkörnig, dass er seinen Weg selbst noch durch die feinsten Nähte des Schutzanzugs fand. Der Sand schabte über Rebkas Haut, blieb kleben. Schon nach wenigen Sekunden schmeckte Rebka das pulvrige Talk auf den Lippen, irgendwie war es sogar durch seinen Atemfilter gedrungen. Millionen winziger, kratzender Finger berührten ihn, zerrten an seinem Schutzanzug, und jeder einzelne versuchte, ihm den Anzug abzureißen. Ihm sank der Mut. Das war schlimmer als Teufel. Wie sollte jemand, ohne in einem Wagen Schutz zu suchen, solche Bedingungen auch nur eine einzige Stunde lang überstehen können? Das war ein Aspekt von Erdstoß, den Perry vor lauter Sorgen über Vulkanausbrüche und Erdbeben gar nicht erwähnt hatte. Doch bei hinreichend starken Störungen in der Atmosphäre war gar keine Aktivität im Planeteninneren erforderlich, um ihn für Lebensformen ungeeignet zu machen. Sand, der so fein umhergeweht wurde, dass man weder atmen noch entkommen konnte, reichte da wahrlich schon voll und ganz aus.

Rebka überprüfte, dass die Sicherungsleine, mit der er die Rückkehr zum Wagen zu garantieren gedachte, auch wirklich fest am Rumpf des Flugwagens befestigt war, dann lehnte er sich gegen den Wind und kämpfte sich Schritt für Schritt vorwärts. Schließlich sah er die Notbake auch — nachdem er keine vier Meter mehr davon entfernt war. Kein Wunder, dass der Massendetektor sie nicht entdeckt hatte! Sie war winzig — ein eigenständiges Gerät, und dann auch noch das kleinste seiner Art, dass Rebka je gesehen hatte! Die Grundfläche mochte vielleicht dreißig mal dreißig Zentimeter betragen, und dabei war es nur wenige Zentimeter dick; in der Mitte ragte eine kleine, gedrungene Antenne empor. Der Hügel aus Steinen, auf dessen Spitze die Bake aufgestellt war, war auf der Kuppe einer kleinen natürlichen Anhöhe aufgeschichtet worden. Irgendjemand hatte sich die Mühe gemacht, dafür zu sorgen, dass dieses Funkfeuer, so klein und schwach es auch sein mochte, über maximale Reichweite zu empfangen gewesen war.

Irgendjemand. Aber wer und wo steckte dieser Jemand jetzt? Wenn derjenige — oder diejenige, oder vielleicht auch diejenigen, Rebka konnte es nicht wissen — dieses Funkfeuer hier zurückgelassen und dann zu Fuß nach Hilfe gesucht hatte, dann standen dessen Chancen sehr schlecht. Ein ungeschützter Mensch würde hier keine hundert Meter weit kommen. Er müsste ersticken: Es war unmöglich, diesem dichten Staub, der allem und jedem den Atem nahm, zu entkommen.

Aber vielleicht hatte derjenige ja eine Aufzeichnung darüber hinterlassen, was er oder sie als Nächstes unternehmen würde. Jede Notbake hatte einen Nachrichtenspeicher in ihrem Standfuß. Wenn er oder sie erst ein paar Minuten fort war …

Das ist doch Wunschdenken!, herrschte Rebka sich selbst an, während er einen Handschuh auszog und nach dem Schubverschluss an der Unterseite der Bake griff. Er hatte dieses Notsignal seit mehr als einer Stunde empfangen. Und wer konnte schon wissen, wie lange diese Notbake ihren Hilferuf schon in die Welt geschrien hatte, bevor er sie empfangen hatte?

Er schob die Hand in die schmale Öffnung. Als seine Fingerspitzen dann die Unterseite des Geräts abtasteten, zuckte ihm gewaltiger Schmerz die Hand, den Arm hinauf und dann durch den ganzen Körper. Seine Muskeln verkrampften sich und zuckten unkontrollierbar, zu schnell und zu heftig, als dass Rebka auch nur hätte schreien können. Er konnte die Hand nicht befreien. Völlig hilflos brach er über der Notbake zusammen.

Ein Neuralconvolver, schoss es ihm noch durch den Kopf, bevor der nächste Schock ihn traf, schlimmer als der erste. Er konnte nicht mehr nach Luft schnappen. In den wenigen Sekunden, bevor er das Bewusstsein verlor, füllte sich Rebkas ganzer Verstand mit unermesslicher Wut. Wut auf diese ganze dämliche Aufgabe, Wut auf Erdstoß — aber vor allem Wut auf sich selbst.

Er hatte etwas unsagbar Dummes getan, und das würde ihn jetzt das Leben kosten. Atvar H’sial war gefährlich, und sie lief frei auf der Oberfläche von Erdstoß herum. Das hatte er gewusst, bevor er zur Landung angesetzt hatte. Und dennoch war er sorglos losgestapft wie ein Kind bei einem Picknick, ohne sich auch nur um die grundlegendsten Vorsichtsmaßnahmen zu kümmern …

Aber ich wollte doch nur helfen!

Na und? Sein Gehirn ließ diese Entschuldigung einfach nicht gelten, während der Strom ein drittes und letztes Mal seinen Körper durchschüttelte und sein Gehirn durcheinanderbrachte. Das hast du doch oft genug selbst gesagt: Menschen, die dumm genug sind, sich umbringen zu lassen, haben noch nie jemandem geholfen …

Und jetzt, verdammt noch mal, würde er niemals erfahren, wie Erdstoß denn nun während des Gezeitensturms aussah. Der Planet hatte gewonnen, Hans Rebka hatte verloren …

Der staubdurchtoste Wind heulte triumphierend und hämmerte auf seinen bewusstlosen Körper ein.


ARTEFAKT: ELEFANT.

UKA-Nr.:859

Galaktische Koordinaten: 27.548,762 / 16.297,442 / –201,33

Name: ›Elefant‹

Sternen-/Planetenassoziation: Cam H’ptiar/Emserin

Bose-Zugangsknoten: 1121

Geschätztes Alter; 9,223 ± 0,31 Megajahre


Erforschungsgeschichte: Entdeckt durch unbemannte Forschungssonden im Jahr –4.553 E. zum ersten Mal durch eine Erkundungsflotte der Cecropianer aufgesucht und vermessen im Jahr –3.227 E. Mitglieder ebendieser Flotte waren auch die Ersten, die in das Innere von ›Elefant‹ vorgedrungen sind und die physikalischen Parameter untersucht haben (s. u.). Nachfolgende Erkundungsteams haben die erste vollständige Durchquerung von ›Elefant‹ unternommen (–2.068 E.), Versuche eingeleitet, mit ›Elefant‹ zu kommunizieren (–1.997 E. –1.920 E. –1.883 E. allesamt erfolglos) und größere Proben des Körpers genommen und untersucht (–1.882 E. –1.551 E.). Langsame Veränderungen der physikalischen Parameter und des äußeren Erscheinungsbild wurden bei jedem nachfolgenden Besuch vermerkt, und eine dauerhafte Beobachtungsstation der Cecropianer, als ›Station Elefant‹ bezeichnet, wurde im Jahr –1.220 E. auf Emserin eingerichtet, in einer Entfernung von vier Lichtminuten. Menschliche Forschergruppen wurden erstmals 2.900 Jahre später auf ›Station Elefant‹ vorgelassen, im Jahr 1.668 E. Dieses Artefakt wurde mehr als fünftausend Jahre lang ununterbrochen beobachtet.


Physisch-technische Eckdaten: ›Elefant‹ wirkt wie eine lang gestreckte, amorphe Gaswolke von etwa viertausend Kilometern Länge, die nirgends breiter als neunhundert Kilometer ist. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch nicht um ein echtes Gas, sondern vielmehr um ein vollständig vernetztes Geflecht aus stabilen Polymerfasern und Transferkanälen. Das Innere ist hochgradig leitend (vor allem Supraleitung), sowohl gegenüber Wärme als auch gegenüber elektrischem Strom.

Nach dem Einsatz künstlicher Stimuli lässt sich vermuten, dass das gesamte Objekt auf jeglichen externen Einfluss reagiert; doch nach einer Ansprechzeit von etwa zwanzig Jahren langsam wieder in seine natürlichen, ursprünglichen Zustand zurückkehrt. Physikalische Reparaturen erfolgen durch Replikation von Unterabschnitten, und sämtliche Materialien, die in das Innere von ›Elefant‹ vordringen, werden katabolisch und anabolisch genutzt, um erforderliche Komponenten zu synthetisieren. Lokale Temperaturschwankungen werden zur Durchschnittstemperatur von 1,63 Kelvin korrigiert, was in Einklang steht mit dem Einsatz von flüssigem Helium(ll) als Wärmetransport-Agens. Der Kühlmechanismus, der erforderlich ist, um Untereinheiten von ›Elefant‹ auf unter 2 Kelvin zu bringen, ist bisher nicht bekannt.

Löcher in ›Elefant‹ (einschließlich künstlich entfernter Fragmente von bis zu zwanzig Kilometern Länge und vollständigen Longitudinal-Schnitten) werden aus dem Inneren ersetzt, wobei die Gesamtausmaße des Artefaktes entsprechend minimal verringert werden. Die räumliche Gestalt im Ganzen wird dabei konstant gehalten, und der Eindruck, das Artefakt sei amorph, ist offensichtlich falsch. Solange kein Material hinzugefügt oder entfernt wird, bleiben sowohl die Größe als auch die dreidimensionale Form von ›Elefant‹ auf Millimeterbruchteile genau invariant.


Mutmaßlicher Zweck: Ist ›Elefant‹ lebendig? Ist ›Elefant‹ vernunftbegabt? Diese Debatte wird unvermindert geführt. Der allgemeine Konsens heutzutage ist, dass ›Elefant‹ ein eigenständiges, aktives Artefakt ist, das über eine eingeschränkte Kapazität der Selbsterneuerung verfügt. Sämtliche daraus entfernten Abschnitte werden über längeren Zeitraum hinweg inert, die Leitfähigkeit nimmt ab und das System verliert seinen homöostatischen Charakter. Sollte ›Elefant‹ tatsächlich lebendig sein, dann ist die gesamte Reaktionszeit gegenüber externen Stimuli extrem lang (mehrere hundert Jahre), und die mutmaßliche Stoffwechselrate entsprechend langsam.

Ungeachtet des allgemeinen Selbst-Bewusstseins, das dieses Artefakt zeigt, ist es gewiss als gesichert anzunehmen, dass ›Elefant‹ in der Lage ist, eine Funktion als allgemeine Rechnereinheit zu übernehmen, ob nun im Ganzen oder nur teilweise. Den bahnbrechenden Arbeiten von Demerle und T’russig gemäß wurde ›Elefant‹ ausgiebigst bei Aufgaben eingesetzt, bei denen enorme Speicherkapazität und eine gemäßigte Rechengeschwindigkeit erforderlich waren.

Wenn es sich bei ›Elefant‹ tatsächlich um eine intelligente, selbst-bewusste Wesenheit handelt, dann ist die Frage nach dem Sinn und der möglichen Nutzbarkeit in jeder Hinsicht unangemessen. Es ist offenkundig dringend erforderlich, ausgefeiltere Untersuchungsmethoden zu entwickeln, anhand derer das Vorhandensein eines ›Selbst-Bewusstseins‹ klarer überprüft werden kann.


— Aus Langs Universal-Katalog der Artefakte, Vierte Auflage.

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