19 Gezeitensturm minus zwo

Lärm bedeutete mangelnde Effizienz. Das Gleiche galt für mechanische Vibrationen. Gut laufende Motoren eines Flugwagens waren fast lautlos, und wenn man mit ihnen flog, lief alles butterweich.

Darya Lang lauschte dem Todesröcheln hinter sich und spürte, wie der Boden unter ihren Füßen bebte. Es gab keine Frage mehr, das Zittern wurde immer schlimmer. Sehr schnell sogar, man spürte es trotz des Windes, der den Wagen hin und her schleuderte.

»Wie weit noch?« Sie musste die Frage fast schreien.

Hans Rebka blickte nicht von den Instrumenten auf, doch er schüttelte den Kopf. »Vierzehn Kilometer. Vielleicht ist das zu weit. Das könnte eng werden.«

Sie taumelten kaum mehr als tausend Meter über dem Boden durch die Luft, gerade hoch genug, um zu verhindern, dass die Ansaugventile sich noch weiter mit Staub zusetzten. Die Landschaft unter ihnen konnte man kaum noch erkennen, geisterhaft und undeutlich schimmerte die Oberfläche von Erdstoß gelegentlich durch den trüben, feinen Staub, der überall umhergewirbelt wurde.

Lang schaute nach oben. Weit vor ihnen war ein dünner, vertikal verlaufender Faden zu erkennen. Sie rief: »Jetzt seh ich es, Hans! Da ist die Basis des Stängels!«, und im gleichen Augenblick rief Rebka: »Gar nicht gut! Wir verlieren an Auftrieb!«

Der Antrieb des Flugwagens begann zu stottern und zu keuchen. Kurze Augenblicke, in denen sie beinahe mit Höchstgeschwindigkeit sanft dahingleiten konnten, wechselten sich mit schleifenden Vibrationen und Sekunden von den Magen umdrehenden Sturzflügen ab. Sie sackten in die Staubschicht hinab. Der silberne Faden, ›Nabelschnur‹, schwand aus Daryas Blickfeld.

»Sechs Kilometer. Vierhundert Meter.« Rebka hatte ein letztes Mal die Entfernung abgemessen, bevor sie in den tosenden Sturm hinabgesunken waren und ihm keine andere Wahl mehr blieb, als blind, nur nach Instrumenten, zu fliegen. »Ich kann nicht genug sehen, um einen Landeanflug einzuleiten. Überprüfen Sie Ihre Haltegurte und achten Sie darauf, dass Ihre Maske und Ihr Atemfilter dicht sind! Kann sein, dass das jetzt richtig übel wird!«

Flugwagen waren eigentlich recht robuste Fahrzeuge. Sie waren darauf ausgelegt, auch unter extremen Umweltbedingungen noch zu funktionieren; doch was man selbst von ihnen wirklich nicht erwarten konnte, das war eine sanfte Landung, nachdem der gesamte Antrieb von Korundstaub völlig zersetzt worden war. Die letzten, schwachen Energieausbrüche des Antriebs kamen, als die Instrumente eine Höhe von zwanzig Metern meldeten. Rebka veränderte die Einstellung der Landeklappen, um einen Strömungsabriss zu verhindern, dann lenkte er das Fahrzeug in Richtung Boden — mit etwa der doppelten Geschwindigkeit als eigentlich üblich war. Im letzten Augenblick schrie er Dana zu, sie solle sich festhalten. Dann schlugen sie auf, heftig, wurden vom Aufprall wieder so weit hochgeschleudert, dass sie in sicherer Entfernung über einen scharfkantigen Felsbrocken hinwegjagten, der groß genug gewesen wäre, um die Unterseite des Wagens vollständig aufzuschlitzen, und kamen dann rutschend zum Stehen.

»Das war’s!« Noch während der Wagen rutschte, hatte Rebka schon auf die Entriegelung geschlagen, mit der er seine eigenen Haltegurte löste, und streckte nun den Arm aus, um Darya zu Hilfe zu kommen. Er warf einen letzten Blick auf den Mikrowellen-Sensor und warf ihr dann ein triumphierendes Grinsen zu. »Kommen Sie, ich habe eine Peilung! Der Fuß von ›Nabelschnur‹ liegt weniger als einen halben Kilometer vor uns!«

Am Boden waren die Umweltbedingungen deutlich besser, als Darya erwartet hatte. Zugegebenermaßen konnte man nur wenige Dutzend Meter weit sehen, und das Heulen des Windes wurde immer wieder durch dröhnende Explosionen in der Ferne unterbrochen. Doch der Boden war ruhig, reglos und zu Fuß durchaus überwindbar, außer an den Stellen, an denen vereinzelte Felsbrocken, jeder so hoch wie ein Haus, wie geborstene Zähne aus dem Boden ragten. Darya folgte Rebka, nachdem dieser einen Weg zwischen zweien dieser Felsen ausgewählt hatte, und dachte darüber nach, wie viel Glück sie doch gehabt hatten, dass der Antrieb genau zu diesem Zeitpunkt versagt hatte und nicht etwa wenige Sekunden später. Dann wären sie geradewegs in diese Felsbrocken hineingerast.

Darya war immer noch nicht davon überzeugt, dass Erdstoß so gefährlich war, wie Perry das immer behauptet hatte, und sie hatte immer noch dieses drängende, innige Bedürfnis, hierzubleiben und den Planeten zu erkunden. Doch nachdem sie jetzt so weit geflogen waren, um ›Nabelschnur‹ zu erreichen, erschien es ihr durchaus sinnvoll, das Artefakt dann auch zu nutzen. Sie blickte angestrengt nach vorn. Sie waren doch bestimmt schon mindestens einen halben Kilometer weit gegangen.

Darya achtete diesen einen Augenblick lang nicht darauf, wohin sie trat, und glitt prompt auf einer dicken Staubschicht aus, glatt und tückisch wie ein Ölfilm. Rebka, der vor ihr ging, stürzte in einer dichten Staubwolke zu Boden, rollte sich herum und kam taumelnd wieder auf die Beine. Statt dann jedoch langsam weiterzugehen, blieb er stehen und deutete geradewegs zum Himmel hinauf.

Sie waren jetzt in ein Gebiet gekommen, das vor dem Wind geschützt war. Die Sicht hatte sich um das Zehnfache gesteigert. Eine kreisförmige Scheibe, ein wenig unscharf zu erkennen dank des Staubs, der von den höheren Windschichten mitgetragen wurde, hing über ihnen am Himmel. Sie konnten zusehen, wie sie höher stieg und ein wenig kleiner zu werden schien.

In dem Augenblick, da er aufschrie, begriff sie, was sie da gerade sah. »Der Fuß des Stängels. Er geht rauf!«

»Aber wir sind doch früher hier, als wir erwartet hatten!«

»Ich weiß. Das sollte der auch nicht tun. Der geht viel zu früh rauf!«

›Nabelschnur‹ verschwand aus ihrem Blick, die keulenförmige Verankerung zog sich in die Wolken und den umherwirbelnden Staub zurück. Rings um die immer weiter aufsteigende Basis war das Vorfeld zu erkennen, auf dem die Flugwagen standen. Deren Größe kannte Darya und versuchte so, die Entfernung abzuschätzen. Das unterste Ende musste schon mehr als einen Kilometer von der Oberfläche entfernt sein.

Sie wandte sich zu Rebka um. »Hans, unser Wagen! Wenn wir wieder dahin zurücklaufen, und dann damit starten, dann …«

»Das klappt nicht.« Er trat etwas näher an sie heran. »Selbst wenn wir unseren Wagen noch einmal in die Luft bekämen: Es gibt nirgends auf der Basis von ›Nabelschnur‹ einen Platz, auf dem wir würden landen können. Es tut mir leid, Darya. Dieses ganze Schlamassel ist meine Schuld. Ich habe uns hierher gebracht, und jetzt sitzen wir hier fest. Wir sind erledigt.«

Er sprach lauter, als das unbedingt nötig gewesen wäre — denn als wollte der Wind zeigen, dass Rebkas Worte völliger Unsinn seien, hatte er sich gelegt, abrupt und vollständig. Der Staub, der immer noch durch die Luft wirbelte, wurde immer weniger, die Oberfläche war völlig ruhig, und in der Ferne konnte Darya tatsächlich ihren Flugwagen erkennen. Über ihnen war immer noch der Fuß von ›Nabelschnur‹ zu erkennen, schwebte quälend nah über ihnen.

Es war sicherlich der denkbar ungünstigste Augenblick für einen derartigen Gedanken, doch Darya kam zu dem Schluss, dass dieser Anflug der Qual, der in Hans Rebkas Stimme mitschwang, ihn noch anziehender machte als je zuvor. Selbstbewusstsein und Kompetenz waren wahrlich gute Eigenschaften — aber auch aufeinander angewiesen und sich auf einander verlassen zu können hatte seine Vorzüge.

Sie deutete nach oben. »Höher steigt es nicht, Hans. Wer steuert das denn?«

»Vielleicht niemand.« Jetzt schrie er nicht mehr. »Die Steuersequenz könnte vorprogrammiert gewesen sein. Aber es könnten auch Perry oder Graves sein — vielleicht haben die das hochgezogen, um von der Oberfläche entkommen zu können. Vielleicht halten sie den Stängel dort oben einsatzbereit und warten jetzt darauf, dass wir irgendwann auftauchen. Aber wir können sie nicht erreichen!«

»Wir müssen es versuchen.« Während er weiterhin zu ›Nabelschnur‹ hinaufstarrte, glitt und rutschte Darya bereits über die Talkschicht, auf ihren Flugwagen zu. »Kommen Sie! Wenn wir es schaffen, unseren Wagen auf gleicher Höhe mit dem Vorfeld am Fuß des Stängels schweben zu lassen, dann können wir vielleicht hinüberspringen!«

Erstaunt lauschte sie ihren eigene Worten. War das wirklich Darya Lang, die gerade diesen Vorschlag machte? Zu Hause auf Wachposten-Tor mied sie sämtliche Höhen, und mit einem Schaudern hatte sie allen Freunden und der ganzen Familie erklärt, dass sie davor wirklich Angst habe. Anscheinend war alles im Universum relativ. Im Augenblick machte ihr die Vorstellung, von einem in der Luft schwebenden, beschädigten Flugwagen zu ›Nabelschnur‹ hinüberzuspringen, in einer Höhe von einem Kilometer oder mehr, nicht das Geringste aus.

Hans Rebka folgte ihr, doch nur, um sie am Arm zu packen und herumzuwirbeln. »Warten Sie einen Augenblick, Darya! Schauen Sie!«

Ein weiterer Flugwagen näherte sich von Nordwesten, knapp unterhalb der Wolkendecke. Er hatte gerade zur Landung angesetzt, bis der Pilot anscheinend sah, was gerade mit ›Nabelschnur‹ geschah. Dann ging der Wagen in Querneigung und begann dann langsam und schwerfällig, im Spiralflug wieder aufzusteigen.

Gleichzeitig jedoch stieg auch der Fuß des Stängels weiter hinauf, diesmal schneller. Die beiden Menschen auf der Oberfläche des Planeten starrten hilflos nach oben, während ›Nabelschnur‹ nach und nach in den Wolken verschwand, und der Flugwagen, der sich noch in der Luft befand, mühte sich, dem Artefakt zu folgen. Kurz bevor beide außer Sicht kamen, sah es sehr danach aus, als werde der Flugwagen das Wettrennen verlieren.

Nun wandte Darya sich wieder zu Hans Rebka um. »Aber wenn Graves und Perry sich dort auf dem Stängel befinden, wer sitzt dann in dem Flugwagen?«

»Das muss Max Perry sein! Ich habe mich getäuscht, als ich gesagt habe, er und Graves befänden sich auf ›Nabelschnur‹. Der Stängel zieht sich während des Gezeitensturms automatisch zurück, aber diesmal ist das eindeutig vorzeitig geschehen. Also wurde er umprogrammiert.« Dann schüttelte Rebka den Kopf. »Aber das ergibt auch keinen Sinn! Perry ist der Einzige, der die Codes von ›Nabelschnur‹ kennt.« Er sah, wie betroffen Darya plötzlich dreinblickte. »Oder nicht?«

»Nein.« Sie wandte den Blick ab. »Atvar H’sial kennt sie auch. Alle. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass wir auf diese Weise nach Opal gekommen sind. Das ist alles meine Schuld! Ich hätte mich niemals bereit erklären dürfen, mit ihr zusammenzuarbeiten! Jetzt sitzen wir hier fest, und die ist auf ›Nabelschnur‹ in Sicherheit!«

Hans Rebka blickte zum wolkenverhangenen Himmel hinauf. »Das ist bestimmt so. Diese verdammte Cecropianerin! Während wir hierher geflogen sind, habe ich mich schon gefragt, ob die wohl immer noch auf Erdstoß ist. Und J’merlia wird bei ihr sein. Dann müssen in dem Flugwagen da oben also Perry und Graves sitzen.«

»Oder vielleicht diese Carmel-Zwillinge.«

»Nein. Die konnten nirgends an einen Flugwagen herankommen. Außerdem können wir jetzt aufhören zu spekulieren. Da kommt er zurück, der Flugwagen.«

Im Spiralflug tauchte der Flugwagen aus der Wolkendecke hinunter, suchte offensichtlich nach einem guten Landeplatz. Darya lief darauf zu und wedelte hektisch mit den Armen. Der Pilot sah sie und steuerte sein Gefährt vorsichtig näher an sie heran. Schließlich sackte der Flugwagen schwerfällig in kaum fünfzig Metern Entfernung auf den Boden, und mit seinen bodenwärts gerichteten Düsen erzeugte er einen kleinen Sandsturm.

Sodann öffnete sich die Luke des Wagens. Hans Rebka und Darya Lang schauten erstaunt zu, als zwei völlig identisch aussehende, völlig identisch gekleidete Menschen ausstiegen, gefolgt von einem Lo’tfianer und einem sehr staubig aussehenden Hymenopter. Als Letztes kamen dann Julius Graves und Max Perry.

»Wir haben gedacht, Sie wären tot!« — »Wir haben gedacht, Sie wären auf ›Nabelschnur‹.« — »Wo haben Sie die gefunden?« — »Wie sind Sie hierher gekommen?«

Perry, Rebka, Lang und Graves sprachen gleichzeitig aufeinander ein, sie standen in einem kleinen Kreis vor der Einstiegsluke des Flugwagens. Die beiden Nichtmenschen und die Carmel-Zwillinge hielten sich abseits, sie blickten sich in der trostlosen Umgebung um.

»Keine aktiven Radio-Funkfeuer — wir haben die ganze Strecke hierher darauf geachtet«, fuhr Graves fort. Er starrte Darya Lang an. »Haben Sie eine Ahnung, was mit Atvar H’sial geschehen ist?«

»Ich weiß es nicht, aber ich glaube, sie ist dort auf ›Nabelschnur‹.«

»Nein, das ist sie nicht. Niemand ist dort. Wir haben ›Nabelschnur‹ nicht mehr einholen können, aber wir haben gesehen, dass keine einzige Kapsel gerade in Gebrauch ist. Und jetzt ist ›Nabelschnur‹ auch außerhalb der Reichweite von Flugwagen. Aber was ist mit Ihnen? Ich dachte, Atvar H’sial hätte Sie irgendwo auf der Oberfläche ausgesetzt?«

»Hat sie auch. Hans Rebka hat mich gerettet. Aber Atvar H’sial muss die Absicht gehabt haben, wieder zurückzukommen und mich zu holen, schließlich hat sie mir Vorräte und eine Notbake dagelassen.«

»Nein, hat sie nicht. Das war J’merlia.« Graves deutete auf den Lo’tfianer. »Er hat gesagt, dass Atvar H’sial ihm nicht verboten habe, Ihnen zu helfen; also hat er genau das getan. Er hat sich große Sorgen um Ihre Sicherheit gemacht, nachdem die beiden Sie zurückgelassen hatten. Er meinte, Sie schienen für ein Überleben auf Erdstoß nur sehr unzureichend ausgestattet. Aber dann hat er gedacht, Sie müssten ohnehin schon tot sein, weil wir, als wir danach suchten, keinerlei Spur Ihres Funkfeuers mehr entdecken konnten. Ich bin mir sicher, dass Atvar H’sial nicht die Absicht hatte, jemals wieder nach Ihnen zu schauen. Sie sollten auf Erdstoß den Tod finden.«

»Aber wo ist Atvar H’sial jetzt?«, fragte Rebka.

»Genau diese Frage haben wir gerade Ihnen gestellt!«, bemerkte Perry. »Sie muss bei Louis Nenda sein.«

»Nenda!«

»Der ist mit seinem eigenen Schiff hierher gekommen«, sagte Graves. »Und wussten Sie, dass er mit einem Cecropianer auch direkt sprechen kann, ohne Übersetzer? Kallik hat J’merlia erzählt, dass Nenda über eine Zardalu-Erweiterung verfügt, die es ihm ermöglicht, Pheromon-Kommunikation zu betreiben. Atvar H’sial und er haben J’merlia und Kallik zurückgelassen und sind dann allein irgendwohin aufgebrochen.«

»Wir glauben, dass sie wegen ›Nabelschnur‹ gekommen sind. Atvar H’sial hatte Hilfe. Irgendwie ist es ihr gelungen, an die Steuersequenzen zu kommen, und dann hat sie ›Nabelschnur‹ so eingestellt, dass sie sich diesmal früher von der Oberfläche zurückzieht.« Hans Rebka warf Darya Lang einen ›Sag-jetzt-nichts‹-Blick zu und sprach dann weiter. »Sie will, dass wir alle hier sterben, während des Gezeitensturms auf Erdstoß gestrandet. Deswegen hat sie auch J’merlia und Kallik zurückgelassen — sie wollte keine Zeugen.«

»Aber wir haben deren Notsignal aufgefangen und die beiden an Bord genommen.« Perry nickte in Richtung der beiden Nichtmenschen, die sich immer noch schweigend umblickten. »Ich glaube, Nenda und H’sial mochten vielleicht die Absicht gehabt haben, die beiden später noch abzuholen, doch sie wären auf jeden Fall zu spät gekommen. Das gesamte Gebiet, in dem man hätte landen können, bestand nur noch aus geschmolzener Lava. Wir mussten J’merlia und Kallik bei uns behalten.«

»Aber wenn Nenda es geschafft hat, zu seinem eigenen Schiff zurückzukommen«, merkte Graves an, »dann können Atvar H’sial und er diesen Planeten immer noch verlassen.«

»Und damit geht es denen deutlich besser als uns.« Nach seiner ersten Niedergeschlagenheit war Rebka jetzt wieder ganz der Alte, voller Energie. »›Nabelschnur‹ ist fort und kommt auch erst nach dem Gezeitensturm zurück. Wir haben nur einen einzigen Flugwagen für uns alle — unserer hat den Geist aufgegeben, endgültig, kaum dass wir hier angekommen sind. Außerdem können Flugwagen sowieso nicht bis in den Orbit aufsteigen, also helfen die uns auch nicht weiter. Commander Perry, wir benötigen langsam einen Plan, wie man hier überleben kann! Wir sitzen hier auf Erdstoß fest, bis ›Nabelschnur‹ wieder zurückkehrt.«

»Darf ich es noch einmal wiederholen, ja? Das ist unmöglich!« Perry sprach sehr leise, doch seine Stimme klang so erbittert, dass sie mehr Wucht besaß, als wenn er gebrüllt hätte. »Ich habe das jedem Einzelnen von Ihnen klarzumachen versucht, seit Sie in das Dobelle-System gekommen sind: Menschen können einen Gezeitensturm auf der Oberfläche von Erdstoß nicht überleben! Nicht einmal einen ganz normalen Gezeitensturm. Ganz gewiss nicht diesen Gezeitensturm! Egal, wie Sie darüber denken mögen, es gibt keinen ›Plan, wie man überleben kann‹ — nichts kann uns mehr retten, wenn wir auf Erdstoß bleiben. Hier ist es im Augenblick ziemlich ruhig, und ich weiß nicht, warum das so ist. Aber das kann nicht mehr lange so weitergehen. Und dann wird jeder, der sich noch auf der Oberfläche von Erdstoß befindet, den Tod finden.«

Als hätte der Planet ihn gehört, folgten auf seine Worte ein Dröhnen in der Ferne und das Stöhnen emporgeschleuderten Erdreichs und berstender Felsen. Wenige Augenblicke später ließ eine ganze Reihe heranbrandender Schockwellen die Luft selbst flirren und den Boden unter ihren Füßen erzittern. Alle blickten sich um, dann liefen sie instinktiv zum Flugwagen hinüber und krochen in den Fahrgastraum, um wenigstens die Illusion von Sicherheit zu finden.

Darya Lang, die Letzte, die einstieg, betrachtete die sieben, die vor ihr an Bord geklettert waren.

Das war nicht gerade die vielversprechende Mischung von Individuen, die einen hoffen ließ, noch in letzter Sekunde einen Plan schmieden zu können, der sie alle doch noch würde überleben lassen. Die beiden Carmel-Schwestern wirkten wie Menschen, die bereits jetzt aufgegeben hatten und innerlich gebrochen waren. Sie hatten auf Erdstoß schon zuviel durchgemacht; von jetzt an würden sie nur noch genau das tun, was man ihnen auftrug. Graves und Perry waren verdreckt und wirkten im Ganzen recht mitgenommen, ihre Kleidung war zerfetzt und zerknautscht und mit Schmutz, Staub und Schweiß bedeckt. Beide hatten blutige, offensichtlich entzündete Wunden an den Waden, Graves hatte dazu auch noch eine Reihe schorfiger Verletzungen auf seinem kahlen Schädel. Und was noch schlimmer war: Er war viel zu fröhlich, grinste alle anderen an, als hätte er kein einziges persönliches Problem mehr. Vielleicht war das ja auch so. Falls es irgendjemanden gab, der sie vielleicht noch würde retten können, war das Max Perry, Julius Graves fiel als Retter in der Not völlig aus. Doch nach dieser düsteren Prognose, die Perry gerade eben gemacht hatte, war er jetzt in brütendes, introvertiertes Schweigen verfallen; er schien irgendetwas zu sehen, was allen anderen hier verborgen blieb.

J’merlia und Kallik wirkten recht normal — das aber auch nur, weil Darya nicht wusste, wie man in der Körpersprache derart fremdartiger Wesen Anzeichen von Stress oder von Verletzungen würde lesen können. Sorgsam entfernte J’merlia mithilfe der weichen Pfoten seiner vorderen Gliedmaßen den weißen Staub, der seine Beine bedeckte. Er schien sich über wenig Gedanken zu machen, von persönlicher Hygiene einmal abgesehen. Nachdem Kallik sich einmal schnell geschüttelt und auf diese Weise eine beträchtliche Menge Staub von ihrem Körper entfernt und mit Schwung auf die restlichen, lautstark protestierenden Insassen des Flugwagens verteilt hatte, richtete sie sich zu ihrer ganzen Körpergröße auf und betrachtete alles und jeden mit ihrer leuchtend roten Augen. Wenn es noch irgendjemanden gab, der eine Spur von Optimismus empfand, dann vielleicht das kleine Hymenopter-Weibchen. Bedauerlicherweise vermochte nur J’merlia mit ihr zu kommunizieren.

Darya blickte zu Hans Rebka hinüber. Er war offensichtlich erschöpft, doch er war immer noch ihr größter Hoffnungsträger. Er hatte tiefe, rote Male im Gesicht — Abdrücke, die seine Maske und sein Atemfilter hinterlassen hatten —, und rings um die Augen hatte er eulenartige, bleiche Staubkreise. Doch als er bemerkte, dass sie ihn anschaute, brachte er immer noch ein Grinsen und ein Augenzwinkern zustande.

Darya quetschte sich in das Innere des Flugwagens und hatte gerade noch genügend Platz, hinter sich die Luke zuzuschieben. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, so viele Personen, ob nun Menschen oder Nichtmenschen, in einem kleinen Flugwagen zusammengedrängt zu sehen. Offiziell war ein Flugwagen für nicht mehr als vier Passagiere zugelassen. Die Carmel-Zwillinge hatten es geschafft, sich gemeinsam in einen Sitz zu zwängen, doch J’merlia kauerte auf dem Boden, wo er nur wenig sehen oder hören konnte, und Darya Lang und Max Perry hatten nicht einmal einen Sitzplatz ergattert.

»Wie viel Uhr ist es?«, fragte Rebka unerwarteterweise. »Ich meine, wie viele Stunden noch bis zum Gezeitensturm?«

»Fünfzehn.« Perrys Stimme war absolut ausdruckslos.

»So, und was kommt jetzt als Nächstes? Wir können nicht einfach nur hier herumsitzen und darauf warten, dass wir sterben. Alles ist besser als das! Gehen wir doch einmal unsere Möglichkeiten durch: Wir können ›Nabelschnur‹ nicht erreichen, selbst wenn diese sich nicht noch weiter ins All zurückzieht. Und es gibt keinen Ort auf Erdstoß, an dem wir sicher wären. Angenommen, wir steigen mit dem Wagen hier so hoch auf, wie es nur irgend geht, und versuchen, den ganzen Gezeitensturm in der Luft auszusitzen?«

Kallik stieß eine Reihe schnaubender Pfeiflaute aus, die sich für Darya Lang deutlich nach Spott anhörten, während Perry sich aus seinen Träumereien riss und langsam den Kopf schüttelte. »Ich bin all diese Ideen auch schon durchgegangen, vor langer, langer Zeit«, erklärte er düster. »Der Flugwagen hat noch genug Energie für acht Stunden, und das gilt nur für normale Last. Wenn wir abheben — und es ist noch nicht einmal klar, dass wir das überhaupt schaffen, so überladen wie wir sind — werden wir wieder runtergehen müssen, bevor der Gezeitensturm überhaupt seinen Höhepunkt erreicht.«

»Und wenn wir jetzt hier bleiben und warten, bis es zum Gezeitensturm-Höhepunkt nur noch vier oder fünf Stunden sind«, schlug Perry vor, »und erst dann abheben? Dann wären wir zumindest von der Oberfläche fort, solange es am schlimmsten ist.«

»Tut mir leid, das wird auch nicht funktionieren.« Perry starrte Kallik an, die jetzt unruhig auf und ab sprang und dabei Klick- und Pfeiflaute ausstieß. »Wir werden es niemals schaffen, uns in der Luft zu halten. Die Vulkane und die Erdbeben verwandeln die ganze Atmosphäre in eine einzige, gewaltige Turbulenz.« Er wandte sich dem Lo’tfianer zu. »J’merlia, sag Kallik, sie soll still sein! Auch ohne diesen zusätzlichen Lärm fällt es mir so schon schwer genug nachzudenken.«

Der Hymenopter sprang noch höher und pfiff: »Sch-sch-Schief!«

»Kallik hat mich gebeten, Sie bei allem Respekt darauf hinzuweisen«, sagte J’merlia, »dass Sie alle das Schiff vergessen.«

»Louis Nendas Schiff?«, fragte Rebka. »Das, mit dem Kallik hierher gekommen ist? Wir wissen nicht, wo es sich befindet. Und außerdem werden das Nenda und Atvar H’sial haben.«

Kallik stieß eine noch lautere Folge schriller Pfeiflaute aus und wand den Leib, als erlitte sie körperliche Schmerzen.

»Nein, Nein. Kallik merkt ergebenst an, dass sie von der Sommer-Traumschiff spricht, dem Schiff, mit dem die Carmel-Zwillinge nach Erdstoß kamen. Wir wissen genau, wo dies sich befindet.«

»Aber die Energiezelle für den Antrieb ist leer«, entgegnete Perry. »Vergiss nicht, Kallik hat ihn sich doch angeschaut, gleich als wir es gefunden hatten!«

»Einen Augenblick bitte.« J’merlia drängte sich an Julius Graves und den Carmel-Zwillingen vorbei und kauerte sich dann neben das Hymenopter-Weibchen. Eine halbe Minute lang grunzten und pfiffen die beiden einander an. Schließlich nickte J’merlia heftig und richtete sich wieder auf.

»Kallik entschuldigt sich bei allen Anwesenden für ihre außerordentliche Dummheit; aber sie drückte sich nicht deutlich genug aus, als sie das Schiff untersuchte. Die Energiezelle des Bose-Antriebs ist gewiss aufgebraucht, und für interstellare Flüge ist das Schiff nicht einsetzbar. Aber es mag noch genügend Energie für eine kurze Fahrt übrig sein — vielleicht für einen Sprung in den Orbit.«

Rebka drängte sich an Julius Graves vorbei zum Pilotensitz, bevor J’merlia auch nur seinen Satz zu Ende gebracht hatte. »Wie weit ist es bis zu diesem Raumschiff, und wo ist es?« Er überprüfte bereits die Statusanzeigen des Flugwagens.

»Siebentausend Kilometer, auf einer Großkreisroute zur Pentacline-Senke.« Perry hatte seinen Trübsinn abgeschüttelt, drängte sich jetzt ebenfalls an den Carmel-Zwillingen vorbei und stellte sich neben Rebka. »Aber so kurz vor dem Gezeitensturm müssen wir die ganze Zeit über mit Seitenwinden rechnen, sehr stark und immer weiter zunehmend. Das dürfte uns mindestens eintausend weitere Kilometer Flug kosten!«

»Also bleibt kein bisschen Spielraum.« Schnell führte Rebka einige Berechnungen durch. »Wir haben genug Energie für etwa achttausend Kilometer, aber nicht, wenn wir mit Höchstgeschwindigkeit fliegen. Und wenn wir langsamer fliegen, dann kommen wir dem Höhepunkt des Gezeitensturms noch näher, und die Bedingungen verschlechtern sich immer weiter.«

»Das ist die beste Chance, die wir haben.« Zum ersten Mal, seit er an Bord des Flugwagens gekommen war, hatte Graves das Wort ergriffen. »Aber können wir mit einer derartigen Last überhaupt abheben? Wir hatten schon Schwierigkeiten, überhaupt hierher zu kommen, und da waren noch zwei Personen weniger an Bord.«

»Und können wir uns überhaupt in der Luft halten, so kurz vor dem Gezeitensturm?«, fügte Perry hinzu. »Der Wind wird unglaublich sein!«

»Und selbst wenn Kallik recht haben sollte«, fuhr Graves fort, »und das Schiff wirklich noch ein wenig Energie hat, kann es die Sommer-Traumschiff denn bis zum Orbit schaffen?«

Doch Rebka aktivierte bereits den Antrieb. »Das ist nicht die beste Chance, die wir haben, Allianzrat«, sagte er, während die Vertikaldüsen eine weiße Staubwolke aufwirbelten, die sämtliche Fenster verdüsterte. »Das ist die einzige Chance, die wir haben. Was wollen Sie denn, einen Garantieschein? Setzen Sie sich hin und halten Sie die Luft an! Wenn mir nicht jemand innerhalb der nächsten fünf Sekunden einen besseren Vorschlag macht, werde ich aus diesem Wagen das Letzte herausholen. Alle festhalten, und dann hoffen, dass der Antrieb mitspielt!«

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