3 Gezeitensturm minus dreiunddreißig

Desorientiert und zornig war Hans Rebka in das Dobelle-System gekommen. Darya Lang, die seinem Subluminalkurs nur drei Tage später gefolgt war, als sie vom letzten Bose-Transit-Punkt zum Raumhafen von Opal reiste, hatte keinen Platz mehr für Zorn.

Sie war nervös, mehr als nervös: Sie war verängstigt.

Mehr als ihr halbes Leben lang war sie nun schon Forscherin, eine Archäologin, deren Verstand sich in der Zeit von vor sieben Millionen Jahren äußerst wohl fühlte. Sie hatte die vollständigste Untersuchung aller bekannten Artefakte der Baumeister vorgenommen, hatte sie lokalisiert, aufgelistet, miteinander verglichen und katalogisiert — alle, die bisher auf dem Terrain der Vierten Allianz entdeckt worden waren —, und auch verzeichnet, wann immer sich eine Veränderung ihrer überlieferten Gestalt oder ihrer mutmaßlichen Funktion ereignet hatte. Doch all das hatte sie passiv getan, aus dem sicheren, ruhigen Hafen ihres Büros auf Wachposten-Tor heraus. Sie mochte ja die Koordinaten sämtlicher Artefakte, insgesamt etwas über zwölfhundert, auswendig wissen, die über den gesamten Spiralarm verteilt waren, und sie konnte auch von jedem einzelnen den aktuellen Forschungsstand herunterbeten. Doch abgesehen von ›Wachposten‹, dessen massiger, schimmernder Rumpf von der Oberfläche ihres Heimatplaneten aus zu erkennen war, hatte sie noch nie eines mit eigenen Augen gesehen.

Und jetzt näherte sie sich Dobelle — und das, wo doch niemand ihre Reise dorthin gewollt hatte.

»Warum soll ich nicht fahren?«, hatte sie gefragt, als das Komitee der Vierten Allianz von Miranda ihre Repräsentantin zu ihr geschickt hatte. Sie zitterte, so angespannt und verärgert war sie. »Diese Anomalie ist allein mein Forschungsbereich; sie gehört mir, wenn sie überhaupt jemandem gehört!«

»Das ist wahr.« Legatin Pereira war eine kleine, sehr geduldig wirkende Frau mit haselnussbrauner Haut und goldenen Augen. Sie wirkte nicht einschüchternd, doch Darya Lang hatte Schwierigkeiten, sich ihr gegenüber zu behaupten. »Und sobald Sie Ihre Forschungsergebnisse publiziert haben, haben wir das auch für jedes einzelne Artefakt bestätigt. Niemand versucht hier, Ihnen die Anerkennung für Ihre Entdeckung in irgendeiner Weise streitig zu machen. Und wir sind alle bereit anzuerkennen, dass Sie unsere Expertin für alle Baumeister-Fragen sind und deren Technologie am besten verstanden haben …«

»Niemand hat die Technologie der Baumeister bisher verstanden!« Selbst in ihrer Verärgerung konnte Darya eine derartige Behauptung nicht einfach stehen lassen.

»Ich wollte mit ›am besten verstanden‹ einfach nur zum Ausdruck bringen, dass niemand in der ganzen Allianz mehr über die Baumeister weiß als Sie. Da Sie, ich wiederhole es also, am besten deren Technologie verstanden haben, sind Sie zweifelsohne die höchst qualifizierte Person, die sich mit der weiteren Erforschung dieser Anomalie befassen kann.« Nun wurde die Stimme der Frau deutlich sanfter. »Aber gleichzeitig, Professorin Lang, müssen Sie auch zugeben, dass Sie bisher nur wenig Erfahrung mit interstellaren Reisen haben.«

»Ich habe gar keine, und das wissen Sie auch! Aber jeder, ob nun Sie oder mein Nennonkel Matra, erzählt mir, dass die Risiken der Interstellarfahrt zu vernachlässigen sind.«

Die Legatin seufzte. »Frau Professor, es ist nicht die Reise selbst, die wir hier in Frage stellen. Schauen Sie sich doch einmal um! Was sehen Sie?«

Darya hob den Kopf und betrachtete den Garten. Blumen, Kletterpflanzen, Bäume, gurrende Vögel, die letzten Strahlen der Abendsonne, die matte Lichtsäulen durch das Gitter der Laube fallen ließen … das alles war ganz normal. Was erwartete man denn von ihr, hier zu sehen?

»Sieht doch alles ganz wunderbar aus.«

»Es ist alles ganz wunderbar. Und genau das ist der springende Punkt: Sie haben Ihr ganzes Leben auf Wachposten-Tor verbracht, und das hier ist eine Gartenwelt. Eine der prächtigsten, reichsten, schönsten Welten, die wir kennen — viel schöner als Miranda, wo ich lebe. Aber Sie möchten Erdstoß besuchen. Irgendwo ins Nichts reisen. Zu einer trostlosen Welt tosender Elemente, einer grausig gefährlichen Welt, in der wahnwitzigen Hoffnung, dort neue Anhaltspunkte für Ihre Forschungen über die Baumeister zu finden. Können Sie mir einen einzigen Grund nennen, warum Sie meinen, Sie würden auf Erdstoß irgendetwas entdecken können?«

»Sie wissen die Antwort auf diese Frage doch schon! Meine Forschungen haben genau diese Begründung doch bereits geliefert.«

»Eine statistische Anomalie. Wollen Sie wirklich Mühen auf sich nehmen und Unannehmlichkeiten ertragen — im Dienste der Statistik?«

»Natürlich nicht!« Darya fühlte sich bei dieser anderen Frau von oben herab behandelt, und das war das Einzige, was sie wirklich nicht ausstehen konnte. »Niemand wünscht sich Unannehmlichkeiten. Legatin Pereira, Sie geben zu, dass niemand in der Vierten Allianz mehr über die Baumeister weiß als ich. Angenommen, ich reiste nicht dorthin, und wer auch immer dann an meiner statt dorthin reist, scheitert aufgrund mangelnden Wissens, während ich vielleicht Erfolg gehabt hätte. Glauben Sie, das würde ich mir jemals verzeihen können?«

Statt zu antworten ging Pereira zum Fenster hinüber und bedeutete Darya Lang mit einer Handbewegung, sich zu ihr zu gesellen. ›Wachposten‹ schimmerte nah am Horizont, eine leuchtende, gestreifte Sphäre, zweihundert Millionen Kilometer entfernt und eine Million Kilometer im Durchmesser.

»Angenommen, ich würde Ihnen erzählen, ich kenne eine Möglichkeit, durch den Schutzschild des ›Wachpostens‹ vorzustoßen und die ›Pyramide‹ zu erkunden, die sich in dessen Mittelpunkt befindet. Würden Sie mit mir kommen wollen?«

»Selbstverständlich! Ich interessiere mich für den ›Wachposten‹ schon seit meiner Kindheit. Wenn ich Recht habe, könnte die ›Pyramide‹ eine Bibliothek sämtlicher wissenschaftlichen Errungenschaften der Baumeister enthalten — vielleicht sogar auch noch deren Geschichte! Aber niemand weiß, wie man den Schutzschild würde durchdringen können. Das versuchen wir schon seit eintausend Jahren.«

»Aber angenommen, wir könnten ihn durchdringen?«

»Dann würde ich mitkommen wollen!«

»Und angenommen, es würde Gefahr und Unannehmlichkeiten bedeuten?«

»Ich würde trotzdem mitkommen wollen!«

Die Legatin nickte und saß einige Sekunden schweigend dort, während die Dunkelheit immer mehr zunahm. »Also gut«, sagte sie schließlich. »Professorin Lang, es heißt über Sie, Sie seien eine sehr logisch denkende Person, und ich würde gerne von mir das Gleiche behaupten können. Wenn Sie bereit sind, die Risiken einzugehen, die mit dem Schutzschild des ›Wachpostens‹ zusammenhängen, und das sind nun einmal unbekannte Gefahren, dann haben Sie auch das Recht, die deutlich geringeren Risiken einzugehen, die Sie auf Erdstoß erwarten. Was die Reise in das Dobelle-System betrifft: Wir Menschen haben den Boss-Antrieb entwickelt, und wir wissen genau, wie er funktioniert. Wir wissen, wie man das Bose-Netzwerk nutzen muss. Die Erfahrung einer Reise durch das Bose-Netzwerk ist anfangs recht erschreckend, aber die damit einhergehende Gefahr ist doch recht gering. Und wenn Sie das Netzwerk nutzen können, um diese statistische Anomalie zu erkunden, die Sie entdeckt haben, dann wird Ihnen das vielleicht das Werkzeug liefern, das Sie benötigen, um das Geheimnis von ›Wachposten‹ aufzudecken. Dieser Argumentation kann ich mich nicht verschließen. Sie haben das Recht, diese Reise anzutreten. Ich werde Ihren Reiseantrag genehmigen.«

»Ich danke Ihnen, Legatin Pereira.« Obwohl sie sich durchgesetzt hatte, durchfuhr Darya ein Schauer, der nichts mit der kühlen Brise der Nacht zu tun hatte. Jetzt war der entscheidende Schritt von angenehmer Theorie zu verpflichtendem Handeln getan.

»Aber eines noch!« Pereiras Stimme wurde schärfer. »Ich gehe davon aus, dass Sie niemanden außerhalb der Allianz von Ihrer Entdeckung dieser Anomalie berichtet haben?«

»Nein. Niemandem. Ich habe nur über die üblichen Kanäle darüber berichtet. Hier gibt es niemanden sonst, der sich das würde anhören wollen, und ich dachte mir …«

»Gut. Sorgen Sie dafür, dass es so bleibt! Zu Ihrer Information: Diese Anomalie wird von jetzt an als Staatsgeheimnis der Vierten Allianz behandelt!«

»Als Staatsgeheimnis! Aber jeder könnte die gleiche Analyse durchführen wie ich! Also …« Lang sprach nicht weiter. Wenn sie jetzt argumentierte, jeder könne diese Aufgabe bewältigen, dann mochte sie ihren Anspruch auf Erforschung dieser Anomalie verlieren — und auch die Reise nach Erdstoß würde ihr nicht mehr genehmigt.

Ernst schaute die Legatin sie an und nickte schließlich. »Denken Sie daran: Sie begeben sich auf eine Reise von mehr als siebenhundert Lichtjahren, jenseits der Grenze der Allianz! In mancherlei Hinsicht beneide ich Sie. Diese Reise wird Sie weiter fortbringen, als mir zu reisen je vergönnt war. Sonst habe ich nichts mehr zu sagen, außer Ihnen alles Gute und eine gefahrlose Reise zu wünschen, und natürlich einen erfolgreichen Einsatz!«

Darya konnte kaum glauben, dass sie wirklich gewonnen haben sollte, nachdem sie wochenlang das vielarmige Monster namens Bürokratie niederzuringen versucht und das schier endlose Hin und Her der Behörden der Vierten Allianz ertragen hatte. Tatsächlich waren die Gefahren, die vom Bose-Antrieb ausgingen, immer geringer geworden, und schon bald war Darya aufgebrochen und hatte ihren ersten Schritt durch das Netzwerk getan. Der erste Transit war durchaus verwirrend, nicht wegen der Gefühle, die er auslöste, sondern genau wegen deren Fehlen. Der Transit geschah ohne Zeitverlust und unmerklich, und das erschien ihr irgendwie falsch. Das menschliche Gehirn brauchte irgendetwas, woran es merken konnte, dass es, zusammen mit dem Schiff, in dem es sich befand, gerade eben einhundert Lichtjahre oder sogar noch weiter transportiert worden war. Vielleicht eine leichte Erschütterung, dachte Darya, oder ein wenig Übelkeit oder wenigstens ein wenig Orientierungslosigkeit!

Dann, nach dem zweiten und dritten Transit, verschwanden ihre Bedenken, genau wie Legatin Pereira das vorhergesagt hatte. Darya konnte jetzt die Geheimnisse des Bose-Antriebs einfach als selbstverständlich hinnehmen.

Doch was nicht abnahm, das war dieses Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit. Sie war eine schlechte Lügnerin; das war schon immer so gewesen. Im Dobelle-System befand sich nur ein einziges Artefakt, das in die Zeit der Baumeister verortet werden konnte: ›Nabelschnur‹. Und das war eines der unbedeutenderen Artefakte, eines, dessen Aufgaben völlig selbsterklärend waren, auch wenn die dahinter stehenden Mechanismen nach wie vor rätselhaft blieben. Darya hätte diese lange Reise niemals angetreten, nur um sich ›Nabelschnur‹ anzuschauen. Niemand hätte das getan. Doch genau das war die offizielle Erklärung der Allianz für ihr Kommen.

Irgendjemand würde sie fragen, warum sie so etwas Sonderbares getan hatte: Das wusste sie jetzt schon! Und nichts, was sie in ihrer Zeit als Wissenschaftlerin — der Hälfte ihres Lebens! — gelernt hatte, half ihr dabei, gekonnt etwas vorzutäuschen. Allein schon ihre Miene würde sie gewiss verraten!

Der Anblick von Dobelle linderte Daryas Unbehagen ein wenig. In einem Universum, das für sie angefüllt war von den Wundern, die die Baumeister hinterlassen hatten, was das, was sie hier sah, ein natürliches Wunder, das den anderen zumindest gleichkam. Vor vierzig oder fünfzig Millionenjahren hatten die Zwillingsplaneten Erdstoß und Opal das Zentralgestirn Mandel auf einer fast kreisförmigen Umlaufbahn umrundet. Diese Umlaufbahn war Milliarden von Jahren stabil geblieben, hatte dem Gravitationszug von Amarant, Mandels kleinem, abgelegenem Partner in diesem Binärsystem, widerstanden, und auch dem der beiden gewaltigen Gasriesen, sie sich auf ihren exzentrischen Umlaufbahnen befanden, fünfhundert und siebenhundert Millionen Kilometer weiter systemauswärts. Auf beiden Planeten dieses Zwillingsgespanns waren die Umweltbedingungen stabil und gleichförmig gewesen, bis auf einmal die beiden Gasriesen einander so nahe kamen, dass einer davon aus seiner Bahn gerissen wurde und nur ganz knapp an Mandel vorbeigeschleudert worden war. Dieser namenlose Fremde wurde dann entlang seiner Bahn, die äußerst eng an der Sonne des Systems entlangführte, weitergeschleudert, wobei die Annäherung an die Sonne die Bahn natürlich veränderte, und so hätte er geradewegs aus dem System in den Tiefenraum geschleudert werden müssen.

Das hätte dann auch das Ende der Geschichte sein sollen — nur lag Dobelle genau auf der Bahn dieses Fremden. Der Gasriese hatte einen komplizierten Tanz um die Zwillingsplaneten aufgeführt, Erdstoß und Opal dabei näher aneinander gedrängt und zugleich deren gemeinsamen Orbit so verändert, dass sie danach ein Periastron besaßen, dass Mandel sehr viel näher lag. Anschließend war der Fremde verschwunden. Nur Dobelle und der Gasriese namens Gargantua blieben zurück, und ihre sich immer noch verändernden Umlaufbahnen gestatteten eine vollständige Rekonstruktion dieser Ereignisse aus undenklichen Zeiten.

Bis zum Gezeitensturm, dem Zeitpunkt, da Dobelle Mandel am nächsten kam, dauerte es nur noch einige Wochen. Diese Zeit sollte, wenn Darya Längs Analysen korrekt waren, für den Spiralarm von äußerster Wichtigkeit sein. Und auch für ihr eigenes Leben. Ihre Theorien würden dann endlich belegt werden.

Oder widerlegt.

Darya ging zu einem der Bullaugen und schaute zu, wie das Schiff sich Dobelle näherte. Opal und Erdstoß taumelten in einem Tanz des Wahnsinns umeinander, und während eines Standardtages drehten sie sich drei Mal um die eigene Achse. Darya konnte die Bewegung der beiden tatsächlich mit bloßem Auge erkennen! Doch Geschwindigkeit war immer relativ. Wie das Schiff das Rollfeld auf der Sternenseite von Opal genau treffen sollte, klang recht knifflig, doch das war ein triviales Problem für die Navigationscomputer, die dieses Rendezvous übernehmen würden.

Das Problem kam nicht von dort, sondern von den Menschen, die Darya auf Opal bereits erwarten würden. Die Nachricht, in der sie darauf hingewiesen worden war, man sei bereit, ihrem Gesuch stattzugeben, hatte einen durchaus unheilvollen Unterton gehabt. »Die vollständige Identifikation des Schirmherrn Ihrer Unternehmung ist unerlässlich. Geben Sie genaue Daten über die gewünschte Dauer Ihres Aufenthalts an! Legen Sie Details der zu erwartenden Befunde vor! Erklären Sie, warum der Zeitpunkt Ihrer ersuchten Einreise von Bedeutung ist! Legen Sie uns einen Nachweis über Ihre Zahlungsfähigkeit vor oder leisten Sie eine nicht erstattungsfähige Vorauszahlung! Gezeichnet Maxwell Perry, Commander.«

Waren die Mitarbeiter der Einwanderungsbehörden auf Opal allen Besuchern von anderen Welten gegenüber so feindselig? Oder war ihre Paranoia in Wirklichkeit gar keine Paranoia, sondern nur völlig zurecht erlangtes Unbehagen?

Darya stand immer noch an diesem Bullauge, als das Schiff zum Landeanflug ansetzte. Sie näherten sich aus Richtung Mandel, und so konnte Darya das Planeten-Dublett im Licht der Sonne klar und deutlich erkennen. Sie wusste, dass Opal nur geringfügig größer war als Erdstoß — der Durchschnitts-Radius betrug bei Opal 5 600 Kilometer, der von Erdstoß nur 5 100 —, doch das menschliche Auge nahm es andersherum wahr. Die wolkenbedeckte, schillernde Kugel von Opal, nicht ganz eine Kugel, eher eine Art Ovoid — dessen große Achse immer auf seine Schwesterwelt wies — wirkte geradezu bedrohlich groß. Daneben brütete das dunklere, kleinere Ovoid von Erdstoß, ein polierter Heliotrop, der sich vor dem helleren Edelstein, seinem Partnerplaneten, deutlich abhob. Opal war völlig einförmig, während sich auf der Oberfläche von Erdstoß zahllose Texturen abhoben, immer wieder waren dunkelviolette oder dunkelgrüne Farbsprenkel zu erkennen. Darya versuchte, auch das fadenförmige Gebilde von ›Nabelschnur‹ auszumachen, doch auf diese Entfernung war es nicht zu erkennen.

Wenn es darum ging, das Dobelle-System zu betreten, gab es keine Wahlmöglichkeiten. Es gab nur einen einzigen Raumhafen, der fast genau in der Mitte der den Sternen zugewandten Hemisphäre von Opal lag. Laut ihren Nachschlagewerken konnte man nur von Opal aus gefahrlos nach Erdstoß reisen.

Gefahrlos nach Erdstoß reisen?

Eine hübsche Vorstellung, doch Darya erinnerte sich an das, was sie über Erdstoß und den Gezeitensturm gelesen hatte. Vielleicht sollten die entsprechenden Formulierungen in den Nachschlagewerken noch einmal überdacht werden … zumindest für diese Jahreszeit.


Die entsprechenden Datenbanken der Vierten Allianz wussten noch weniger Positives über die Welten zu berichten, die vom Phemus-Kreis regiert wurden, als Legatin Pereira. »Abgelegen … verarmt … rückständig … dünn besiedelt … unzivilisiert.«

Die Sterne des Kreises befanden sich in einer Region, in der alle drei einflussreicheren Claden des Spiralarms zusammentrafen. Doch während ihrer Expansionsbestrebungen hatten sowohl die Vierten Allianz als auch die Zardalu-Gemeinschaft und die Cecropian-Föderation nur äußerst geringes Interesse am Phemus-Kreis gezeigt. Dort gab es nichts, was zu kaufen, darum zu feilschen oder was zu stehlen sich lohnen würde — kaum genug, um auch nur einen Besuch dort zu rechtfertigen.

Es sei denn, man wäre auf Ärger aus. Es hieß, Ärger ließe sich auf jeder einzelnen Welt, die vom Kreis regiert werde, mit Leichtigkeit finden.

Darya Lang stieg aus dem Schiff, betrat den schwammigen Boden des Sternenseiten-Raumhafens von Opal und blickte sich voller düsterer Vorahnungen um. Die Gebäude waren niedrig und schienen sich an den Boden zu schmiegen: Sie sahen aus, als seien sie aus geflochtenen Gräsern und getrocknetem Schlamm gebaut. Niemand erwartete die gerade eingetroffene Besucherin, niemand hieß sie offiziell willkommen. Opal wurde als eine metallarme, holzarme und menschenarme Welt geschildert. Das Einzige, was dieser Planet besaß, war Wasser — das allerdings im Überfluss.

Als Darvas Schuh einen oder zwei Zoll tief in den weichen Boden eindrang, begann sie sich noch weniger wohl zu fühlen. Sie hatte noch nie eine Wasserwelt betreten, und sie wusste, dass sich unter ihren Füßen statt hartem Fels und einem festen Untergrund nur die dünne, nachgiebige Kruste aus Schlingen befand. Darunter gab es nichts außer brackigem Wasser, ein paar Kilometer tief. Die Gebäude schmiegten sich mit gutem Grund an den Boden: Wenn sie zu hoch und zu schwer wären, dann würden sie diesen einfach durchstoßen.

Ein völlig belangloser Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Sie konnte nicht einmal schwimmen.

Die Mannschaft des Schiffes, das Darya hierher gebracht hatte, war immer noch mit der Abwicklung der letzten Schritte, die bei einer Landung vorgeschrieben waren, beschäftigt. Ihr Passagier Darya jedoch konnte sich schon zum nächstgelegenen Gebäude aufmachen. Von dort kamen ihr endlich doch zwei Männer entgegen, die sie begrüßen wollten.

Das war nicht gerade ein vielversprechender erster Eindruck von Opal. Beide Männer waren klein und hager — Darya Lang überragte beide um gut zehn Zentimeter. Beide Männer trugen die gleichen schäbigen Uniformen, die Kleidungsstücke sahen aus, als seien sie schon oft ausgebessert und viel zu oft getragen worden, und auf die Entfernung hätte man die beiden für Brüder halten können, einer etwa zehn Jahre älter als der andere. Erst als Darya näher kam, erkannte sie mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten.

Der ältere Mann wirkte freundlich und sehr sachlich, er ging mit erkennbarem Selbstbewusstsein. Das fadenscheinige Abzeichen eines Captains auf seiner Schulter wies ihn als denjenigen aus, der den höheren Dienstgrad bekleidete. »Darya Lang?«, fragte er, sobald sich der Abstand zwischen ihnen in einem solchen Maß verringert hatte, um sich mit normaler Lautstärke zu unterhalten. Er lächelte und streckte ihr die Hand entgegen, aber nicht zur Begrüßung. »Ich nehme Ihr Anmeldeformular entgegen. Ich bin Captain Rebka.«

Man sollte noch ›schroff‹ in die Liste der Worte aufnehmen, mit denen die Bewohner des Phemus-Kreises beschrieben werden, dachte Darya. Und ›ungepflegt‹ und ›ganz schön mitgenommen‹ in die Beschreibung von Rebkas Äußerem. Der Mann hatte ein Dutzend Narben im Gesicht, die auffälligste verlief in einer Doppellinie von seiner linken Schläfe bis zum Unterkiefer. Und dennoch machte das sein Gesicht nicht unansehnlicher — eher im Gegenteil. Zu ihrer eigenen Überraschung verspürte Darya dieses undefinierbare Kitzeln gegenseitiger Anziehung.

Sie reichte ihm die Papiere und schalt sich selbst für ihre Gedanken über die Narbe und die ungewaschene und ungebügelte Uniform. Schmutz war etwas rein Oberflächliches, und vielleicht war Rebka einfach von einem Unglück ins nächste geschlittert.

Nur dass der jüngere Mann ebenso schmutzig aussah, und auch er hatte Narben. Vor langer Zeit hatte er sich schwere Verbrennungen am Nacken und auf einer Gesichtshälfte zugezogen, und anschließend war ein so stümperhafter Versuch in rekonstruktiver Chirurgie unternommen worden, wie man ihn auf Wachposten-Tor niemals akzeptiert hätte.

Vielleicht hatten die Brandnarben auch dazu geführt, dass sein gesamtes Gesicht deutlich weniger beweglich war. Auf jeden Fall hatte er einen ganz anderen Gesichtsausdruck als Rebka. Während der Captain recht unbeschwert und sympathisch auftrat, all seiner Schmuddeligkeit und seinem Mangel an Finesse zum Trotz, wirkte der andere Mann verschlossen und distanziert. Sein Gesicht war steif und ausdruckslos, und er schien Darya kaum wahrzunehmen, obwohl sie in kaum zwei Metern Entfernung vor ihm stand. Und während sich Rebka ganz offensichtlich körperlich bester Gesundheit erfreute, wirkte der andere im Gegensatz zu ihm mitgenommen und eher kränklich, ganz als würde er nicht regelmäßig Nahrung zu sich nehmen und sich nicht im Geringsten um seine Gesundheit scheren.

Seine Augen passten ganz und gar nicht zu seinem noch jungen Gesicht. Sie wirkten tot und desinteressiert, waren matte Glasperlen, die Augen eines Mannes, der sich aus dem gesamten Universum zurückgezogen hatte. Es schien unwahrscheinlich, dass er Darya irgendwelche Schwierigkeiten würde machen wollen.

Gerade als sie zu diesem beruhigenden Schluss gekommen war, erwachte das Gesicht des Mannes zum Leben, und er bellte: »Mein Name ist Perry. Commander Max Perry. Warum wollen Sie Erdstoß aufsuchen?«

Diese Frage brachte Darya völlig aus dem Gleichgewicht. Nichts von all dem, was Darya aus entsprechenden Gesprächen innerhalb der Allianz kannte: keine einleitenden Höflichkeitsfloskeln, keine traditionelle Eröffnung des Gesprächs. Sofort war Darya davon überzeugt, dass diese Leute Bescheid wussten — sie wussten von der Anomalie, wussten, welche Rolle sie, Darya Lang, bei deren Entdeckung gespielt hatte, und sie wussten auch, was sie hier suchte. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.

»Nab… ›Nabelschnur‹.« Sie musste sich regelrecht anstrengen, um überhaupt Worte zu finden. »Ich … ich habe eine Gesamtstudie aller bekannten Artefakte der Baumeister erstellt; das ist die Arbeit meines gesamten Lebens.« Sie machte eine Pause und räusperte sich. »Ich habe alles über ›Nabelschnur‹ gelesen, was ich bekommen konnte. Aber ich wollte dieses Artefakt mit eigenen Augen sehen und in Erfahrung bringen, wie die Vertäuungen auf Opal und Erdstoß funktionieren. Und ich möchte herausfinden, wie ›Mittelstation‹ die ›Nabelschnur‹ steuert, sodass sie sich während des Gezeitensturms ins All zurückzieht.«

Perrys Miene blieb ausdruckslos, doch Captain Rebka lächelte jetzt ein wenig. Sie war sich sicher, dass er ihre Lügengeschichte sofort als solche erkannt hatte.

»Professorin Lang.« Er las den Namen aus ihren Anmeldepapieren ab. »Wir wollen Besucher nicht entmutigen. Dobelle braucht alle Einnahmen, die es kriegen kann. Aber um diese Jahreszeit ist es gefährlich, sich auf Opal oder Erdstoß aufzuhalten.«

»Das weiß ich. Ich habe alles Verfügbare über die Meeresgezeiten auf Opal gelesen, und auch über die Landgezeiten auf Erdstoß.« Wieder räusperte sie sich. »Es liegt mir fern, mich in Gefahr zu begeben.« Letzteres stimmt sogar, dachte sie und grinste innerlich. »Ich habe vor, sehr vorsichtig vorzugehen und alle erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.«

»Also haben Sie über den Gezeitensturm gelesen.« Perry wandte sich Rebka zu, und Darya Lang spürte, dass zwischen den beiden Männern eine deutliche Spannung in der Luft lag. »Und Gleiches gilt auch für Sie, Captain Rebka. Aber etwas zu lesen und etwas selbst mitzuerleben, das sind zwei unterschiedliche Dinge. Und keinem von Ihnen scheint klar zu sein, dass der Gezeitensturm dieses Mal anders als je zuvor sein wird, ein Gezeitensturm, wie wir ihn noch nie miterlebt haben!«

»Es muss jedes Mal anders sein«, erwiderte Rebka ruhig. Er lächelte, doch Darya Lang spürte seinen inneren Widerstreit. Rebka war älter und hatte von den Männern den höheren Dienstgrad inne, doch was den Gezeitensturm betraf, akzeptierte Commander Perry die Autorität seines Vorgesetzten eben nicht.

»Dieses Mal ist es außergewöhnlich«, beharrte Perry. »Wir werden außerordentliche Vorsichtsmaßnahmen treffen, selbst hier auf Opal. Und was auf Erdstoß passieren mag, das kann ich noch nicht einmal erahnen!«

»Auch wenn Sie selbst schon ein halbes Dutzend Gezeitenstürme miterlebt haben?«

Rebkas Lächeln war verschwunden. Schweigend blickten die beiden Männer einander an, während Darya nur noch eine Zuschauerin war. Sie fühlte, dass das Schicksal ihrer eigenen Erkundungsreise von dem Ausgang des Streits abhing, den die beiden gerade ausfochten.

»Die Große Konjunktion«, erklärte Perry nach einigen Sekunden des Schweigens. Und endlich hatte Darya eine Aussage zu hören bekommen, die ihr als Wissenschaftlerin etwas sagte.

Sie hatte die Orbitalgeometrie des Mandel-Systems genauestens studiert, während sie an Langs Universal-Katalog der Ariefakte gearbeitet hatte. Sie wusste, dass Amarant, der Zwergstern-Begleiter von Mandel, sich normalerweise so weit von seinem Primärstern entfernte, dass er dem Dobelle-System kaum mehr Licht spendete als irgendein anderer Stern am Firmament. Doch alle paar Tausend Jahre einmal brachte ihn seine Bahn deutlich näher, bis er nur noch weniger als eine Milliarde Kilometer von Mandel entfernt war. Gargantua, der Gasriese, der im System verblieben war, bewegte sich auf der gleichen Orbitalebene, und auch für ihn gab es einen Punkt größter Annäherung an Mandel.

Die kritische Zeit des Gezeitensturms für Dobelle ergab sich normalerweise, wenn Gargantua und Amarant beide weit von Mandel entfernt waren. Doch alle drei Umlaufbahnen befanden sich in einer gebundenen Resonanz. Sehr selten kam es vor, dass Amarant und Gargantua sich gleichzeitig Mandel näherten, und manchmal fiel das dann genau mit der Zeit des Gezeitensturms auf Opal und Erdstoß zusammen. Und dann …

»Die Große Konjunktion«, wiederholte Perry. »Wenn alle sich im Periastron aufreihen und die Meeres- und die Landgezeiten so stark werden wie nur irgend möglich. Wir haben keine Ahnung, wie stark das sein wird. Die Große Konjunktion ergibt sich nur einmal alle 350.000 Jahre. Das letzte Mal war das also lange bevor die ersten Menschen Dobelle besiedelt haben. Aber das nächste Mal wird das in dreiunddreißig Tagen geschehen, von jetzt an gezählt — in weniger als zwei Standardwochen! Niemand weiß, was der Gezeitensturm Opal und Erdstoß dann antun wird, aber ich weiß, dass die Gezeitenkräfte ungeheuerlich sein werden!«

Darya schaute auf den weichen Boden unter ihren Füßen hinab. Sie hatte das entsetzliche Gefühl, als breche dieses zerbrechliche Schlammfloß aus lebenden und toten Pflanzen schon jetzt unter dem Ansturm dieser gewaltigen Gezeiten auseinander. Wie auch immer die Gefahren auf Erdstoß aussehen mochten, gewiss waren sie immer noch einem weiteren Aufenthalt auf Opal vorzuziehen.

»Wären wir denn dann nicht auf Erdstoß alle sicherer?«, fragte sie.

Perry schüttelte den Kopf. »Insgesamt leben dauerhaft etwa eine Million Menschen auf Opal. Das mag jemandem wie Ihnen, der von einer Welt der Allianz stammt, nicht gerade viel erscheinen, aber für eine Welt aus dem Kreis ist das recht viel. Die Bevölkerungsdichte auf dem Planeten, auf dem ich geboren wurde, macht gerade mal ein Viertel davon aus.«

»Und auf meinem weniger als ein Achtel«, ergänzte Rebka sanft. Niemand blieb auf Teufel, wenn er irgendeine Möglichkeit hatte, den Planeten zu verlassen.

»Aber wissen Sie, wie viel die permanente Gesamtbevölkerung auf Erdstoß beträgt?« Perry bedachte beide mit finsteren Blicken, während Lang sich fragte, wie sie nur auf die Idee hatte kommen können, er sei ruhig und leidenschaftslos.

»Sie beträgt null«, erklärte er nach einer kurzen Pause. »Null! Was verrät Ihnen das über das Leben auf Erdstoß?«

»Aber es gibt doch Leben auf Erdstoß!« Sie hatten den Planetenindex studiert. »Permanent ansässiges Leben.«

»Das stimmt. Aber das sind keine Menschen, und es könnten auch keine sein. Das sind native Lebensformen. Kein Mensch würde auf Erdstoß den Gezeitensturm überstehen — nicht einmal einen normalen Gezeitensturm!«

Perry sprach mit immer mehr Nachdruck. Darya wusste, dass ihr Versuch, Erdstoß einen Besuch abzustatten, gescheitert war. Der Commander würde ihr den Zutritt verweigern, und sie würde Erdstoß nicht näher kommen als bis zum Raumhafen auf der Sternenseite. Und als sie so weit in ihren Überlegungen gekommen war, kam ihr von unerwarteter Seite jemand zu Hilfe.

Rebka wandte sich an Max Perry und deutete mit einem hageren Finger zum wolkenbedeckten Himmel von Opal hinauf. »Wahrscheinlich haben Sie recht, Commander Perry«, meinte er leise. »Aber einmal angenommen, die Fremden würden das Dobelle-System aufsuchen, gerade weil die Große Konjunktion unmittelbar bevorsteht? Wir haben diese Möglichkeit gar nicht in Erwägung gezogen, als wir uns die Antragsformulare angeschaut haben.« Nun wandte er sich um und blickte Darya Lang fest an. »Ist das der wahre Grund für Ihr Kommen?«

»Nein! Definitiv nicht!« Sie war erleichtert, endlich einmal eine ehrliche Antwort geben zu können. »Ich habe an diese Große Konjunktion überhaupt nicht gedacht, bis Commander Perry sie erwähnt hat.«

»Ich glaube Ihnen.« Rebka lächelte, und plötzlich war Darya sich sicher, dass er diese Worte wirklich ernst meinte. Doch dann gingen ihr wieder Pereiras Worte durch den Kopf: ›Vertrauen Sie niemanden aus dem Phemus-Kreis! Die wenden Überlebenstaktiken an, die wir in der Allianz niemals haben entwickeln müssen.‹

»Natürlich sind die Gründe für das Kommen unserer Besucher nicht sonderlich relevant«, fuhr er fort. »Davon wird Erdstoß auch nicht weniger gefährlich.« Er wandte sich wieder Perry zu. »Und ich bin mir sicher, dass Sie recht haben, was die Gefahren auf Erdstoß während des Gezeitensturms betrifft. Andererseits liegt es in meiner Verantwortung, die Einnahmen von Dobelle zu maximieren. Genau deswegen bin ich hier. Wir sind nicht verantwortlich für die Sicherheit unserer Besucher, von der Verpflichtung, sie zu warnen, einmal abgesehen. Wenn sie sich dennoch dafür entscheiden, ihre Reise anzutreten, dann steht ihnen das frei. Die sind ja schließlich keine Kinder mehr.«

»Die haben keine Ahnung, wie es auf Erdstoß während des Gezeitensturms zugeht!« Auf Perrys Gesicht zeigten sich weiße und rote Flecke. Seine Gefühle waren offenbar stark genug, ihn völlig zu überwältigen. »Sie haben keine Ahnung!«

»Noch nicht. Aber bald.« Wieder veränderte sich Rebkas Auftreten. Er verwandelte sich in einen Vorgesetzten, der ganz eindeutig Befehle erteilte. »Ich gebe Ihnen Recht, Commander: Es wäre unverantwortlich, wenn Professorin Lang Erdstoß aufsuchen würde — solange wir die drohenden Gefahren nicht begutachtet haben. Aber sobald das geschehen ist — und ich sie hinreichend erläutern kann —, haben wir nicht die Pflicht, übermäßige Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Also werden wir beide, Sie und ich, Erdstoß aufsuchen, während Professorin Lang hier auf Opal bleibt.«

Er wandte sich Darya zu. »Und wenn wir zurückgekehrt sind … nun ja, dann, Frau Professor, dann werde ich meine Entscheidung treffen.«


ARTEFAKT: WACHPOSTEN.

UKA-Nr.: 863

Galaktische Koordinaten: 27.712,863 / 16.31 1,031 / 761,157

Name: ›Wachposten‹

Sternen-/Planetenassoziation: Ryders-M/Wachposten-Tor

Bose-Zugangsknoten: G-232

Geschätztes Alter: 5,63 ± 0,07 Megajahre


Erforschungsgeschichte: ›Wachposten‹ wurde im Jahr 2649 der Expansion durch menschliche Kolonisten der Trans-Orion-Region entdeckt. Erster Zutrittsversuch 2.674 E. durch Bernardo Gullemas und die Besatzung des Forschungsschiffes D-33 der Cyclops-Klasse. Keine Überlebenden. Nachfolgende Versuche einer Annäherung 2.682 E. 2.695 E. 2.755 E. 2.803 E. 2.991 E. Keine Überlebenden.

›Wachposten‹-Warnfunkfeuer in Betrieb genommen 2739E.; Überwachungsstation auf dem nächstgelegenen Planeten (Wachposten-Tor) errichtet im Jahr 2.762 E.


Physisch-technische Eckdaten: ›Wachposten‹ ist eine nahezu sphärische, unzugängliche Region von etwas weniger als einer Million Kilometern im Durchmesser. Keine visuell erkennbaren Energiequellen, doch ›Wachposten‹ leuchtet schwach mit eigenem Licht (absolute Helligkeit +25) und ist von jedem Punkt des Ryders-M-System aus deutlich zu erkennen. Die undurchdringliche Oberfläche von ›Wachposten‹ gestattet beiderseitigen Durchtritt von Licht und anderer Strahlungen jedweder Wellenlänge, doch sämtliche stofflichen Objekte werden reflektiert, einschließlich Partikeln atomarer oder subatomarer Dimension. Aus dem Inneren dringt nur ein Photonenflux hervor, keinerlei Partikel-Emission. Laser-Beleuchtung des Inneren ist möglich, dabei wurde eine Vielzahl unterschiedlicher Strukturen im Inneren von ›Wachposten‹ detektiert. Das auffallendste Objekt im Inneren ist die ›Pyramide‹, eine Struktur mit regelmäßig tetraedrischer Form, die sämtliches darauf fallendes Licht absorbiert.

Wenn Abstandsangaben im Inneren von ›Wachposten‹ sinnvoll sind (es gibt Hinweise darauf, dass dem nicht so ist — siehe unten), dann müsste diese ›Pyramide‹ eine Kantenlänge von etwa neunzig Kilometern aufweisen. Im Inneren der ›Pyramide‹ ist keine erhöhte Temperatur messbar, auch wenn die einfallende Strahlung im Gigawatt-Bereich liegt.

Weglängenmessungen unter Einsatz von Lasern zeigen, dass das Innere von ›Wachposten‹ nicht linear verknüpft ist; die Minimalzeit, die Licht benötigt, um ›Wachposten‹ zu durchqueren, beträgt 4,221 Minuten; verglichen mit einer geodätischen Reisezeit von 3,274 Sekunden für eine äquivalente Strecke durch den leeren Raum, ohne Einfluss von Gravitationstrichtern. Die Reisezeit für Licht, das orthogonal auf den ›Äquator‹ von ›Wachposten‹ fällt, ist unendlich, oder sie beträgt zumindest mehr als eintausend Jahre. Die beobachtete Rotverschiebung und seitlich einfallende Laserstrahlen lassen darauf schließen, dass sich im Inneren von ›Wachposten‹ kein Massenzentrum befindet: ein Ergebnis, das im direkten Widerspruch zu der bereits detektieren internen Struktur steht.

›Wachposten‹ hält konstant einen Abstand von 22,34 A. E. zum Primärstern von Ryders-M, befindet sich aber nicht in einer entsprechenden Umlaufbahn. Entweder werden Gravitationskräfte und Strahlungsdruck durch einen bisher unbekannten Mechanismus im Inneren von ›Wachposten‹ exakt kompensiert, oder sie besitzen keinerlei Einfluss auf die Struktur im Ganzen.


Physikalische Eigenschaften: Laut Wollaski’i und Drews wurde ›Wachposten‹ in der Nähe einer natürlichen Raum-Zeit-Anomalie errichtet und nutzt deren besonderen Eigenschaften, während er mit dem Rest des Universums nur in schwachen physikalischen Wechselwirkungen steht. Sollte das zutreffend sein, dann wäre ›Wachposten‹ eines von nur zweiunddreißig bekannten Artefakten der Baumeister, die in Zusammenhang mit bereits existierenden, natürlichen Gegebenheiten konstruiert wurden.

Die Topologie von ›Wachposten‹ scheint der eines Ricci-Cartan-Penrose-Knotens im 7-dimensionalen Raum zu entsprechen.


Mutmaßlicher Zweck: Unbekannt. Es wurde allerdings die Vermutung angestellt (in Analogie zu anderen Artefakten der Baumeister, vgl. Einträge 311, 465 und 1.223), dass die ›Pyramide‹ über nahezu unendliche Kapazität zur Informationsspeicherung und eine nahezu unendliche Lebensdauer verfügen könnte. Daher wurde die Vermutung geäußert (Lang, 41 30 E.), dass die ›Pyramide‹ und möglicherweise der gesamte ›Wachposten‹ eine Bibliothek der Baumeister darstellt.


— Aus Langs Universal-Katalog der Artefakte, Vierte Auflage.

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