2 Gezeitensturm minus sechsunddreißig

Die zweite Schicht dieses Arbeitstages hatte gerade erst begonnen, und schon jetzt war Birdie Kelly klar, dass diese Schicht ganz mies werden würde. Der neue Fachbereichsleiter mochte noch eine halbe Welt entfernt sein, sich immer noch auf der Sternenseite aufhalten, doch schon jetzt machte der Boss sich Gedanken über dessen unmittelbar bevorstehende Ankunft.

»Wie kann jemand, der dieses System bisher noch nicht einmal besucht hat, die Fachkompetenz besitzen, den Verkehr zwischen Opal und Erdstoß zu überwachen?« Max Perry blickte Birdie aus blassen, unglücklichen Augen an. Birdie erwiderte den Blick, sah das vorspringende Kinn des Mannes — eindeutig Mangelernährung! — und dachte kurz daran, wie gut es ihrem Gegenüber wohl tun würde, einfach mal eine anständige Mahlzeit zu sich zu nehmen und einen oder zwei Tage lang ein wenig auszuspannen.

»Der Verkehr von Erdstoß ist unser Job!«, fuhr Perry fort. »Wir machen das jetzt seit sechs Jahren. Wie viel weiß denn dieser Rebka überhaupt darüber — ein absolut Fremder hier? Gar nichts! Denken die im Hauptquartier des Kreises denn, da sei doch gar nichts dabei, und jeder Vollidiot wäre in der Lage, mit Erdstoß zurechtzukommen?! Wir wissen, warum es so wichtig ist, den Zugang zu Erdstoß zu untersagen. Vor allem jetzt, wo der Gezeitensturm unmittelbar bevorsteht. Aber wissen die das etwa?«

Birdie hörte sich Max Perrys schier endlosen Strom aus Klagen an und nickte mitfühlend. Eines war schon einmal sicher: Perry war ein guter Mann und ein gewissenhafter Boss, aber eine gewisse Besessenheit war ihm nicht abzusprechen. Und dieser Captain Hans Rebka, wer auch immer das sein mochte, würde Birdie das Leben eindeutig noch schwerer machen.

Birdie seufzte und lehnte sich in seinem Korbsessel zurück. Perrys Büro befand sich in der obersten Etage des höchsten Gebäudes auf der Erdstoßseite von Opal, einem Versuchs-Gebäude mit vier Stockwerken, das genau gemäß den Konstruktionsplänen errichtet worden war, die Perry vorgelegt hatte. Und Birdie Kelly fühlte sich darin immer noch nicht so recht wohl. Das Fundament erstreckte sich durch mehrere Schlammschichten und ein Geflecht aus Wurzeln, zum Teil abgestorben, zum Teil nicht, sodann noch durch die Unterseite des Fundamentes dieser Schlinge hindurch bis in das brackige Wasser des Ozeans von Opal. Es wurde von einem Hohlkörper aufrecht gehalten, der knapp unter der Oberfläche trieb, und dessen hydrostatischer Auftrieb übernahm einen Großteil der Last.

Doch selbst ein derart niedriges Gebäude erschien Birdie nicht sicher. Die Schlingen waren schließlich sehr fragil: Waren keine soliden Fundamente vorhanden, beschränkte man sich bei den meisten Gebäuden von Opal auf nur ein oder zwei Stockwerke. In den letzten sechs Monaten war diese Schlinge an ein und der selben Stelle vertäut gewesen, doch nun, da der Gezeitensturm bevorstand, wurde das zu gefährlich. Perry hatte angeordnet, die Schlinge in acht Tagen ganz den Gezeiten auszuliefern — aber war das frühzeitig genug?

Der Kommunikator meldete sich. Max Perry ignorierte ihn. Er hatte sich in seinem Liegesitz zurückgelehnt und starrte die Decke an. Birdie rieb über das Revers seines fadenscheinigen weißen Jacketts, dann beugte er sich ein wenig vor und warf einen Blick auf das schlichte Display.

Er schniefte. Das war keine Nachricht, die Max Perrys Stimmung aufheitern würde.

»Captain Rebka ist näher, als wir dachten, Sir«, sagte er. »Tatsächlich ist er schon vor Stunden von der Sternenseite aufgebrochen. Sein Flugwagen sollte in wenigen Minuten landen.«

»Danke, Birdie.« Perry rührte sich nicht. »Bitten Sie den Schlingenfunk, uns auf dem Laufenden zu halten!«

»Mach ich, Commander.« Kelly wusste, dass man ihn gerade zu gehen aufgefordert hatte, doch er ignorierte das. »Bevor Captain Rebka hier eintrifft, sollten Sie sich das hier ansehen, Sir. So bald wie möglich.«

Kelly legte einen Aktenordner auf den Tisch aus geflochtenem Schilf, der zwischen ihnen stand, setzte sich wieder und wartete. In seiner aktuellen Stimmung durfte man Max Perry nicht hetzen.

Die Decke des Raumes war transparent, sodass man freien Blick auf den bewölkten Himmel von Opal hatte. Den Standort für dieses Gebäude hatte man sorgsam ausgewählt. Er befand sich ganz in der Nähe des Mittelpunktes der Erdstoßseite, in einer Region, wo die Zirkulationstypen der Atmosphäre die Chancen auf nicht bewölkte Himmelsabschnitte maximierten. Im Augenblick war die Wolkendecke ein wenig aufgebrochen, wie es kurz vor der Abenddämmerung häufiger vorkam, und man konnte Erdstoß sehen. Weil die Oberfläche des Schwesterplaneten nur zwölftausend Kilometer vom nächstgelegenen Punkt auf Opal entfernt war, füllte die ausgedörrte Kugel mehr als fünfunddreißig Grad des Himmels wie eine riesenhafte, marmorierte Frucht, purpurgrau und überreif, die jederzeit herabzufallen drohte. Auf diese Entfernung wirkte der Planet friedlich, doch schon jetzt waren die Strukturen auf der Oberfläche des Planeten nur noch undeutlich zu erkennen, was verriet, dass sich die ersten Sandstürme zusammenbrauten.

Nur noch sechsunddreißig Tage bis zum Gezeitensturm, weniger als zwei Standardwochen. In zehn Tagen würde Perry die Evakuierung der Oberfläche von Erdstoß anordnen und diese Evakuierung dann persönlich beaufsichtigen. Bei jedem einzelnen Exodus der vergangenen sechs Jahre war Perry der Letzte gewesen, der Erdstoß verlassen hatte, und er war der Erste, der nach dem Gezeitensturm wieder zurückkehrte.

Man konnte es als Perrys Zwangsneurose bezeichnen. Und was auch immer dieser Rebka von ihm wollen mochte, Birdie Kelly wusste, dass Max Perry alles versuchen würde, damit sich an dieser seit sechs Jahren herrschenden Routine nichts änderte.

Schon begann die Nacht über die Oberfläche von Opal zu kriechen. Bald würden die dunklen Schatten für kurze Zeit die vermeintliche Nacht der Mandel-Eklipse auf Erdstoß fallen lassen. Doch Perry und Kelly würden das nicht beobachten können. Die aufgerissene Wolkendecke begann sich wieder zuzuziehen, die helleren Flecken wurden von rasch heranrollenden Wolkenbergen regelrecht aufgefressen. Ein letztes silbernes Aufblitzen in der Höhe, Licht, das vom glitzernden Knoten von ›Mittelstation‹ und dem unteren Teil von ›Nabelschnur‹ reflektiert wurde, dann verschwand Erdstoß nur allzu rasch aus ihrem Blickfeld. Minuten später zeichneten sich auf dem Dach über ihnen schon die sternförmigen Muster der ersten Regentropfen ab.

Perry seufzte, beugte sich vor und griff nach dem Ordner. Kelly wusste, dass sein Gegenüber jedes seiner Worte verstanden hatte, ohne sie richtig gehört zu haben. Doch Perry wusste, dass, wenn seine rechte Hand ihm sagte, er solle sich diese Akten sofort ansehen, es einen guten Grund dafür gab.

Auf dem grünen Aktendeckel waren drei lange Zusammenfassungen von Nachrichten befestigt, jede davon ein Gesuch, die Oberfläche von Erdstoß aufsuchen zu dürfen. Daran war nichts Ungewöhnliches. Birdie war schon bereit gewesen, die routinemäßige Genehmigung zu erteilen, wobei diese letztendlich immer von der geplanten Reiseroute abhing — bis er gesehen hatte, von wem diese Gesuche gekommen waren. Sofort hatte er gewusst, dass Perry sich das würde ansehen müssen — und wollen.

Wieder summte der Kommunikator, gerade als Perry sich auf den Inhalt des Aktenordners zu konzentrieren begann. Birdie Kelly warf einen kurzen Blick auf die neue Nachricht und verließ dann leise den Raum. Rebka traf eben jetzt ein, doch Perry musste ihn nicht persönlich auf dem Rollfeld willkommen heißen. Das konnte genauso gut Birdie übernehmen. Perry hatte mit den Anträgen, das System aufsuchen zu dürfen, schon mehr als genug zu tun. Jedes einzelne dieser Schreiben stammte von außerhalb des Dobelle-Systems — sogar von außerhalb der Planeten des Phemus-Kreises. Eines kam aus der Vierten Allianz, eines aus einer abgelegenen Gegend der Zardalu-Gemeinschaft- so weit abgelegen, dass Birdie Kelly von dieser Gegend noch nie auch nur gehört hatte —, und eines, das war das Sonderbarste, kam aus der Cecropia-Föderation.

So etwas hatte es bisher noch nie gegeben. Soweit Birdie wusste, hatte sich noch kein einziger Cecropianer jemals auch nur mehrere Lichtjahre an Dobelle herangewagt.

Und was noch sonderbarer war: Jeder einzelne Besucher wollte die Oberfläche von Erdstoß während des Gezeitensturms aufsuchen.


Als Birdie Kelly wieder zurückkehrte, tat er etwas, was er sich ansonsten nur für Notfallsituationen aufbewahrte: Er klopfte an die Tür, bevor er eintrat. Das garantierte Perrys sofortige Aufmerksamkeit.

Kelly hielt einen weiteren Aktenordner in der Hand, und er war nicht allein. Ihm folgte ein hagerer, ärmlich gekleideter Mann, der sich mit strahlenden, dunkelbraunen Augen eifrig umschaute und anscheinend an dem spärlichen, ramponierten Mobiliar des Raumes größeres Interesse hatte als an Perry selbst.

Seine ersten Worte schienen diesen Eindruck nur noch zu bestätigen. »Commander Perry, ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Ich bin Hans Rebka. Ich weiß, dass Opal kein reicher Planet ist. Aber Ihre Position hier müsste doch etwas rechtfertigen, was ein wenig luxuriöser ist als das hier!«

Perry legte den Order auf den Schreibtisch und folgte den neugierigen Blicken des anderen, der immer noch den Raum begutachtete. Der Raum diente ebenso als Schlafraum wie als Büro. Darin befanden sich nur ein Bett, drei Stühle, ein Tisch und ein Schreibtisch, allesamt abgenutzt, fast schon ramponiert.

Perry zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine großen Ansprüche. Das hier reicht mir voll und ganz.«

Sein Besucher lächelte. »Das verstehe ich sofort. Aber vielen anderen würde es wohl nicht so gehen.«

Was für Gefühle sein Lächeln verbergen mochte, Rebkas Zustimmung war durchaus echt. Während der ersten zehn Sekunden, seit er Max Perry gegenübergetreten war, hatte er bereits die erste Arbeitshypothese über dessen Motivation verworfen, die ihm in den Sinn gekommen war, nachdem er dessen Lebenslauf gelesen hatte. Selbst der ärmste Planet mochte Einzelnen sogar gewaltigen Luxus bieten, und manche Menschen würden wohl auf einem Planeten bleiben wollen, weil sie dort Reichtum und auch in jeder anderen Hinsicht ein schönes Leben hatten und keinerlei Möglichkeit sahen, dies auf einen anderen Planeten mitzunehmen. Doch was auch immer Max Perrys Geheimnis sein mochte: Das war es auf jeden Fall nicht. Er lebte ebenso schlicht und bescheiden wie Rebka selbst.

War es dann vielleicht die Macht?

Wohl kaum. Perry überwachte, wer Erdstoß betreten durfte, und sonst kaum etwas anderes. Über seinen Schreibtisch gingen die Besuchergenehmigungen, doch jeder, der über ein Mindestmaß an Einfluss verfügte, konnte sich jederzeit an eine höhere Autorität im Rat des Dobelle-Systems wenden.

Was also war seine Motivation? Es musste doch eine geben; es gab immer eine! Aber welche war es?

Während der offiziellen Vorstellung und des Austauschs bedeutungsloser Höflichkeitsfloskeln im Namen der Regierung von Opal und der Dienststelle des Generalkoordinators für den Phemus-Kreis richtete Rebka seine Aufmerksamkeit ganz auf Perrys Person.

Und das tat er mit echtem Interesse. Er hätte lieber ›Paradox‹ erkundet, doch trotz aller Verachtung, mit der er diese Aufgabe angegangen war, konnte er doch seine Neugier nicht einfach unterdrücken. Die Diskrepanz zwischen Perrys bisherigen Lebenslauf und seiner derzeitigen Position war einfach zu eklatant. Mit zwanzig Jahren hatte er es bereits zum Sektionskoordinator in einer der härtesten Gegenden gebracht, die der Kreis zu bieten hatte. Mit äußerstem Scharfsinn war er alle Probleme angegangen, doch zugleich auch mit der notwendigen Härte. Diese letzte Aufgabe — eine Dienstzeit von einem Jahr hier auf Opal — war fast nur noch eine Formalität gewesen, ein letztes Härten des Stahls, bevor Perry als geeignet für einen Posten in der Planetaradministration erachtet werden sollte.

Er hatte sich dieser Aufgabe gestellt. Er war nach Opal gekommen. Und dort war er auch geblieben. All die Jahre auf einem Posten ohne jegliche Aufstiegschance: Perry weigerte sich, diesen Posten wieder aufzugeben, und all der Ehrgeiz, den er früher stets an den Tag gelegt hatte, war wie weggeblasen. Warum?

Der Mann selbst gab keinerlei Hinweise, die eine Antwort auf diese Frage zugelassen hätten. Er war blass und wirkte sehr angespannt; doch Rebka konnte eine ähnliche Blässe und eine ebensolche Anspannung auch entdecken, wenn er selbst in den Spiegel blickte. Sie beide hatten ihre ersten Lebensjahre auf Planeten verbracht, auf denen das Überleben an sich bereits eine Leistung darstellte und es unmöglich war, es sich einfach gut gehen zu lassen. Perrys deutlich hervortretender Kropf sprach Bände davon, dass auf seiner Heimatwelt kontinuierlicher Jodmangel herrschte, und seine dünnen, etwas gekrümmten Beine ließen darauf schließen, dass er als Kind an Rachitis erkrankt war. Brühwelt machte es jeglicher Flora alles andere als einfach. Gleichzeitig jedoch wirkte Perry momentan, als sei sein Gesundheitszustand ausgezeichnet — das war etwas, das Rebka zu gegebener Zeit überprüfen wollte und auch würde. Doch Perrys körperliche Verfassung machte nur um so augenfälliger, dass die Lösung des Rätsels eher in der psychischen Verfassung des Mannes zu finden sein musste. Hier fündig zu werden würde sehr viel schwieriger werden.

Rebka war beileibe nicht der Einzige, der sein Gegen- über so genau musterte. Während Perry und er also die förmlichen Grüße ihrer jeweiligen vorgesetzten Behörden austauschten, zog Perry, das wusste Rebka sofort, seine eigenen Schlüsse.

Hoffte er, der neue Fachbereichsleiter sei jemand, der von bisherigen Aufgaben oder privaten Exzessen ausgebrannt wäre oder vielleicht ein träger Pensionär? Die Regierung des Kreises hatte mehr als genug an Leuten, die sich ihre Pfründe gesichert hatten, Faulpelze, die zuließen, dass Perry und Menschen wie Perry ihre Arbeit ganz nach Gutdünken erledigten — vorausgesetzt, der ›Boss‹ war nicht gezwungen, selbst irgendwelche Pflichten zu übernehmen.

Anscheinend wollte Perry herausfinden, mit wem er es zu tun hatte und dabei keine Zeit verlieren, denn sobald die notwendigen Höflichkeiten ausgetauscht waren, bat er Kelly zu gehen und bedeutete Rebka mit einer Handbewegung Platz zu nehmen. »Ich nehme an, dass Sie schon bald Ihre Arbeit hier aufnehmen werden, Captain?«

»Mehr als das, Commander. Meine Arbeit auf Opal und Erdstoß hat bereits begonnen. Mir wurde gesagt, dass meine Pflichten in dem Augenblick begonnen haben, da unser Schiff auf dem Sternenseiten-Raumhafen aufgesetzt hat.«

»Gut.« Perry hielt ihm den grünen Ordner entgegen, und dazu auch noch das vierte und letzte Dokument, das Kelly ihm ausgehändigt hatte. »Ich war gerade damit beschäftigt, die hier durchzugehen. Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie sich das kurz ansehen und mir Ihre Meinung dazu mitteilen würden.«

Mit anderen Worten: Schauen wir doch mal, was du draufhast! Rebka nahm die Dokumente an sich und blätterte sie eine oder zwei Minuten lang schweigend durch. Er war sich nicht sicher, wie der eigentliche Test nun aussah, aber er wollte auf keinen Fall durchfallen. »Sie scheinen alle in der korrekten offiziellen Art und Weise vorgelegt worden zu sein«, meinte er schließlich.

»Und Ihnen fällt daran nichts Ungewöhnliches auf?«

»Na ja, vielleicht die Vielfalt der unterschiedlichen Bewerber. Erhalten Sie häufig Anfragen, die von außerhalb des Dobelle-Systems kommen?«

»Sehr selten.« Perry nickte, in einer Art unwilligen Respekts. »Jetzt haben wir vier Anfragen erhalten, Captain, alle am selben Tag! Alle Antragsteller wollen Opal und Erdstoß aufsuchen. Personen aus den drei Hauptgruppierungen, und dazu noch ein Mitglied des Rates der Allianz! Wissen Sie, wie viele Besucher des Dobelle-Systems wir normalerweise pro Jahr haben? Vielleicht fünfzig — und das sind alles unsere eigenen Leute, kommen alle von Welten aus dem Phemus-Kreis. Und nie will irgendjemand nach Erdstoß!«

Max Perry nahm den Ordner wieder an sich. Anscheinend hatte Rebka eine Art erstes Akzeptanzkriterium erfüllt, denn jetzt war Perrys Auftreten längst nicht mehr so förmlich und steif. »Schauen Sie sich das hier an! Das kommt von einer Cecropianerin, um Himmels willen! Niemand im ganzen Dobelle-System hat jemals einen lebenden Cecropianer auch nur zu Gesicht bekommen, mich selbst eingeschlossen. Niemand hier weiß, wie man mit denen überhaupt kommunizieren soll.«

»Machen Sie sich darum keine Sorgen!« Wieder konzentrierte Rebka sich auf das Blatt, das vor ihm lag. »Sie wird ihren eigenen Übersetzer mitbringen. Aber Sie haben recht. Wenn Sie sonst fünfzig Besucher pro Jahr haben, dann liegt ›vier an einem Tag‹ außerhalb der üblichen statistischen Schwankungen.« Und auch wenn Sie mir das so nicht gesagt haben, dachte er, aber für Sie läuft es auf ›fünf an einem Tag‹ hinaus, nicht wahr? Diese Anfragen sind zeitgleich mit mir eingetroffen. Und für Sie bin ich nur ein weiterer ›Besucher‹. »Und was wollen die alle hier, Commander? Die Begründungen für die Anträge habe ich noch nicht gelesen.«

»Unterschiedliches. Das hier …« — mit einem mageren Finger deutete Perry auf das lose Blatt — »… ist gerade erst eingetroffen. Haben Sie jemals von einem Julius Graves gehört? Er vertritt den Ethik-Rat der Vierten Allianz, und diesen Unterlagen hier zufolge möchte er Opal aufsuchen, um einen mehrfachen Mord aufzuklären, der irgendetwas mit Zwillingen von Shasta zu tun hat.«

»Shasta ist eine reiche Welt. Ganz schön weit von Dobelle entfernt, sogar in mehr als nur einer Hinsicht.«

»Aber wenn er das will, kann er, so wie ich die Vorschriften verstehe, alles, was wir hier entscheiden, vor Ort außer Kraft setzen.«

»Das, was wir anordnen, und das, was jeder andere auf Dobelle anordnet.« Rebka nahm Perry das Schriftstück aus der Hand. »Ich habe noch nie von diesem Julius Graves gehört, aber der Ethikrat hat von allen Gruppierungen am meisten Gewicht. Es wird schwer werden, mit diesem Mann zu diskutieren.«

»Und er sagt nichts darüber, warum er hierher kommt!«

»Das muss er auch nicht.« Wieder blickte Rebka auf das Antragsformular. »In diesem Falle ist sein Gesuch eine reine Formalität. Wenn er hierher kommen will, dann kann ihn niemand davon abhalten. Aber was ist mit den anderen? Warum wollen die Erdstoß aufsuchen?«

»Atvar H’sial — das ist die Cecropianerin — sagt, ihr Fachgebiet sei die Evolution von Organismen unter extremem Umweltstress. Das beschreibt Erdstoß natürlich sehr gut. Sie sagt, sie möchte dorthin und sich ansehen, wie sich die dortigen Lebensformen während des Gezeitensturms anpassen.«

»Reist sie allein?«

»Nein. Sie bringt jemanden mit, der J’merlia heißt. Ein Lo’tfianer.«

»Okay, das wird ihr Übersetzer sein. Die Lo’tfianer sind eine weitere Lebensform aus der Territorium der Cecropia-Föderation. Wer noch?«

»Eine weitere Frau, eine Darya Lang aus der Vierten Allianz.«

»Ein Mensch?«

»Davon gehe ich aus. Sie behauptet, an den Artefakten der Baumeister interessiert zu sein.«

»Ich dachte, im Dobelle-System gäbe es nur ein einziges?«

»Das ist auch so. ›Nabelschnur‹. Darya Lang will es sich ansehen.«

»Dafür muss sie doch nicht Erdstoß betreten.«

»Sie sagt, sie möchte sehen, wie die Vertäuung von ›Nabelschnur‹ auf Erdstoß aussieht. Und diese Anfrage ist auch durchaus sinnvoll. Bisher hat noch niemand herausgefunden, wie die Baumeister dafür gesorgt haben, dass sich Nabelschnur während des Gezeitensturms ins All zurückzieht. Langs Geschichte ist also plausibel. Meinetwegen glauben Sie’s also, wenn Sie’s unbedingt möchten!«

Perrys Wortwahl ließ keinen Zweifel daran, dass er selbst Langs Begründung keine Sekunde Glauben zu schenken bereit war. Rebka begriff, dass sie wenigstens eines gemeinsam hatten: ihren Zynismus.

»Und dann ist da noch ein Louis Nenda«, fuhr Perry fort. »Aus der Zardalu-Gemeinschaft. Wann haben Sie das letzte Mal was von denen gehört?«

»Als sie ihr letztes Scharmützel gegen die Allianz geführt haben. Hat er gesagt, was er hier will?«

»Er macht sich nicht die Mühe, es uns detailliert zu erläutern; aber es hat etwas damit zu tun, dass er irgendwelche neuen physikalischen Kräfte untersuchen will. Er möchte die Landgezeiten auf Erdstoß beobachten, die sich während des Gezeitensturms ergeben. Und dann ist da noch eine Fußnote, in der es um irgendeine Theorie zur Stabilität der Biosphären geht, die speziell für Erdstoß und Opal aufgestellt wurde. Ach ja, und Nenda bringt einen Hymenopter mit — als Haustier. Das ist ein weiteres Novum. Die einzigen Hymenoptera, die man bisher auf Opal zu sehen bekommen hat, befinden sich ausgestopft im ›Museum der Spezies‹. Wenn man das alles zusammenzählt, Captain, was bekommen wir dann raus?«

Rebka beantwortete diese Frage nicht. Falls nicht alle Akteneinträge über Perry falsch waren, verbarg sich hinter diesen blassen, traurigen Augen ein subtiler, äußerst anpassungsfähiger Intellekt. Rebka glaubte nicht einen Augenblick lang, dass Perry ihn um Rat fragte, weil er diesen wirklich benötigte. Nein, er sondierte hier Rebka, lotete die Intuition und den Sinn für Verhältnismäßigkeit seines Gegenübers aus.

»Für welche Ankunftsdaten sind diese Anträge ausgestellt?«

»Diesen Einträgen zufolge hat Darya Lang den letzten Bose-Knoten vor drei Tagen hinter sich gelassen. Das bedeutet, sie nähert sich mit Subluminalgeschwindigkeit dem Raumhafen auf der Sternenseite. Ihr Gesuch um Landeerlaubnis könnte jederzeit eintreffen. Die anderen sind alle circa noch ein paar Tage entfernt.«

»Was zu tun würden Sie empfehlen?«

»Ich werde Ihnen sagen, was ich auf keinen Fall zu tun empfehle!« Zum ersten Mal war auf Max Perrys hageren Gesicht eine echte Emotion zu erkennen. »Wir können sie Opal aufsuchen lassen — auch wenn das während des Gezeitensturms wahrhaftig kein Zuckerschlecken ist —, aber wir werden nicht, unter keinen Umständen, zulassen, dass sie Erdstoß betreten!«

Was heißt, dachte Rebka, dass mein instinktiver Impuls auf Sternenseite den Nagel auf den Kopf getroffen hat! Wenn ich herausfinden will, was Max Perry im Dobelle-System hält, dann werde ich wahrscheinlich genau das tun müssen: Erdstoß aufsuchen, und das während des Gezeitensturms. Na ja, was soll’s! Das kann ja auch nicht gefährlicher sein, als in das Innere von ›Paradox‹ vorzudringen. Aber wir wollen doch erst einmal noch ein paar andere Dinge abklopfen, bevor wir uns hier zu weit aus dem Fenster lehnen!

»Ich bin mit Ihrer Einschätzung nicht ganz einverstanden«, erwiderte er und sah sofort die Besorgnis in Perrys blassen Augen aufblitzen. »Diese Leute haben einen langen Weg zurückgelegt, um Erdstoß untersuchen zu können. Die werden bereit sein, das Dobelle-System für dieses Privileg ordentlich zu entlohnen, und das System kann jeden Credit gebrauchen, den es kriegen kann. Bevor wir ihnen den Zutritt verweigern, möchte ich auf jeden Fall erst mit dieser Darva Lang sprechen. Und ich denke, ich werde mir die Oberfläche von Erdstoß kurz vor dem Gezeitensturm persönlich ansehen müssen — und das bald.«

Erdstoß kurz vor dem Gezeitensturm. Als er diese Worte ausgesprochen hatte, war kurz noch ein anderer Ausdruck über Max Perrys Gesicht gehuscht. Trauer. Schuldgefühl. Vielleicht sogar Sehnsucht? Jede dieser Emotionen hätte es sein können. Rebka wünschte sich, den anderen Mann besser zu kennen. Perrys Gesichtsausdruck lieferte gewiss die Antwort auf Hunderte von Fragen — für jemanden, der dieses Gesicht auch zu deuten wusste.

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