XI

Auch für Erdenbewohner stellt der Mars keine Welt dar, die einen zu Begeisterungsstürmen hinreißen könnte. Er ist zu seinen besten Zeiten viel zu kalt, viel zu trocken, und es mangelt dort an Luft, an atembarer und anderer. Der erste und der letzte dieser Punkte trafen Ken am heftigsten.

Das Gelände vor ihm war völlig eben. Und es war von uneinheitlicher Beschaffenheit. An manchen Stellen trat blanker Fels zutage, doch waren diese Stellen selten und kamen in großen Abständen vor. Der Großteil des Geländes war von dunklem, nacktem Erdreich bedeckt, mit grünen, braunen, roten und gelben Flecken durchsetzt. Ebenso häufig waren die weißen Flecken, die aus dem All wie eine feste Masse ausgesehen hatten. Ken merkte nun, daß sie zur Mitte der weißen Region hin eine zusammenhängende Decke bildeten. Das Schiff war wie geplant am Rande dieser Region gelandet.

Vorsichtig tat er einen Schritt vom Schiff weg, Die Schwerkraft war geringer als auf Sarr, aber eindeutig größer als auf Merkur. Der Raumanzug drückte ihn wie eine schwere Last. Die zwei Tentakel innerhalb des rechten ›Ärmels‹ brachten das Stahlrohr fast bis zum Boden hinunter und bewegten die Greifhaken. Mühsam scharrte er ein wenig von der dunkelbraunen Substanz los, um sie auf Augenhöhe zu heben. Er blockierte die ›Knie‹ seines Anzugs und ließ sich auf die schwanzähnliche Stütze nieder, die rückwärts aus dem Metallrumpf ragte, damit er in aller Ruhe die Probe begutachten konnte.

Das Glas seiner Gesichtsplatte zeigte keine Anzeichen von Differentialschrumpfung, doch vermied er es sorgfältig, die Erde damit in Berührung zu bringen. Fast hätte er seine Vorsicht vergessen, als er die winzigen vielfarbigen Objekte auf der Oberfläche der Probe entdeckte. So ungewöhnlich sie der Form nach waren, so waren es doch fraglos Pflanzen – winzig und seltsam weich, verglichen mit den kristallinen Gewächsen auf Sarr, aber dennoch Pflanzen. Und sie konnten in dieser schrecklichen Kälte existieren! Diejenigen, die dem Metall seiner Greifer am nächsten waren, schrumpften und wellten sich, so kalt mußte die Außenseite seines Anzugs sein. Ken berichtete alles getreulich den Zuhörern im Schiffsinneren.

»Diese Lebensformen müssen etwas mit jenen auf Planet Drei gemeinsam haben«, setzte er hinzu. »Beide müssen auf Grund desselben chemischen Prozesses leben, da der Temperaturunterschied nicht ins Gewicht fällt. Dieser Boden muß alle nötigen Elemente enthalten, auch wenn die Verbindungen nicht ganz das sind, was wir brauchen. Aber die Lebensformen sind ja alle sehr anpassungsfähig.« Er betrachtete wieder die Probe in seinem Greifhaken. »An den Rändern sind Veränderungen festzustellen. Vielleicht ist die Hitzestrahlung meines Anzugs daran schuld. Drai, Sie mögen recht haben… in diesem Boden könnte eine flüchtige Substanz vorkommen, die jetzt verdampft. Hm, wie ich die wohl einfangen könnte?« Gedankenverloren ließ er seine Probe fallen.

»Das können Sie nachher versuchen. Warum untersuchen Sie nicht die weißen Flecken?« rief Drai. »Und auch die Felsen. Vielleicht ist etwas Bekanntes darunter, schließlich entstehen alle Erden letzten Endes aus Stein.« Ken mußte ihm recht geben. Er stemmte sich mit einem Ruck von seiner Rückenstütze ab, löste die Kniesperre und ging los, fort vom Schiff.

Bislang hatte er von der Kälte nichts gemerkt, nicht mal an den Füßen. Der Boden war offenbar kein guter Wärmeleiter. Das war nicht weiter verwunderlich. Ken nahm sich vor, an nackten Felsstellen vorsichtig zu sein.

Der nächste weiße Fleck war etwa fünfundzwanzig Meter von der Luftschleusentür entfernt. Trotz seines schweren Anzugs war Ken rasch zur Stelle und sah sich die Substanz genau an. Bücken konnte er sich nicht, um das Material zu untersuchen. Ein Stück einfach aufzuheben, war ihm nicht geheuer. Da fiel ihm ein, daß die Handextremitäten seines Anzugs über die Spitzen seiner Tentakel hinausreichten und daß die Bodenprobe vorhin auch harmlos gewesen war. Er langte also hinunter und versuchte ein Stück abzukratzen.

Es ging ganz einfach. Der Greifarm kratzte über die Fläche und hinterließ einen braunen Streifen. Das weiße Material bildete nur eine ganz dünne Schicht auf dem Boden, Ken, der die Probe in Augenhöhe hob, entdeckte, daß an seinen Greifklauen nur dunkler Sand hing.

Kein Wunder, daß er staunte und den Vorgang wiederholte. Diesmal schaffte er es so schnell, daß er noch mitansehen konnte, wie das weiße Material sich von den Sandkörnern verflüchtigte. »Laj, Sie hatten recht«, sagte er über Funk. »Hier haben wir es mit einer überaus flüchtigen Substanz zu tun. Ich habe noch nicht so viel beisammen, daß es für eine gründliche Untersuchung reicht. Na, ich versuche mal, eine ausgiebigere Ablagerung zu finden.«

Wieder setzte er sich in Bewegung, auf das Zentrum des weißen Fleckes zu.

Die weiße Fläche hatte einen Durchmesser von über vierzig Meter. Ken vermutete, daß dieser so leicht verdampfbare Überzug in der Mitte dicker sein würde. Er sollte recht behalten, doch wurde die Schicht nie so dick, daß sie sein Fortkommen behindert hätte. Seine Spur war von blankem Boden gekennzeichnet, da das Zeug sich um jeden Fußabdruck verflüchtigte. Ken, der sich in seinem Anzug sehr wohl hätte umblicken können, ohne den ganzen Körper umdrehen zu müssen, bemerkte dies gar nicht. Die Beobachter an Bord des Schiffes machten ihn darauf aufmerksam, und Ken rief zurück:

»Sagen Sie mir, wenn es aufhört… dann ist die Schicht vielleicht genügend dick, daß ich von der Substanz etwas abkratzen kann. Ich möchte es mir näher ansehen, ehe es verdampft. Im Moment kann ich mir nicht denken, was es ist. Ich brauche dringend einige Unterlagen, damit ich wenigstens eine halbwegs vernünftige Vermutung äußern kann.«

»Die Spur wird jetzt schmäler. Es sind einzelne Flecken von der Form Ihrer Fußabdrücke. Sie verlaufen nicht mehr ineinander. Noch ein Stück, dann dürfte es reichen.«

Es reichte. Ken hatte noch nicht die Mitte des weißen Fleckes erreicht, als Drai meldete, er hinterließe jetzt keine Spur mehr. Prompt blieb er stehen, stützte sich auf wie vorhin und kratzte eine kleine Ladung von der rasch schwindenden Substanz ab. Diesmal war praktisch kein Sandanteil dabei. Das Material war an dieser Stelle dreißig Zentimeter tief. Die Masse schrumpfte auf seinen Greifern sofort zusammen, trotzdem schaffte er es, die Beschaffenheit dieser Substanz näher zu überprüfen.

Sie war kristallin. Millionen winzigster Facetten fingen das matte Sonnenlicht ein und verstrahlten es wieder. Die einzelnen Kristalle waren zu klein, als daß er ihre Form hätte bestimmen können. Die Masse war verschwunden, ehe er seine Neugierde richtig befriedigen konnte, und es war wenig wahrscheinlich, daß ihm ein längerer Blick vergönnt sein würde. Irgendwie mußte er sich eine Probe verschaffen und analysieren. Er glaubte auch schon eine Möglichkeit zu sehen, die allerdings sorgfältige Vorbereitung erforderte. Nachdem er diese Nachricht ans Schiff weitergegeben hatte, machte er sich auf den Rückweg.

In seiner halbsitzenden Haltung hatten seine Füße womöglich den Kontakt mit dem Anzug verloren. Auch war er in seine Überlegungen so versunken gewesen, daß er nicht bemerkt hatte, was passierte. Was immer der Grund sein mochte, erst als er aufstand, durchschnitt ihn eine schneidende Kälte von Kopf bis Fuß. Augenblicklich ließ er sich zurückfallen und versuchte die Füße von der eiskalten Isolierschicht wegzubekommen. Als ihm klar wurde, daß er mit seinem Zögern die Sache nur noch verschlimmerte, zwang er sich zum Handeln. Nur mühsam einen Schmerzensschrei unterdrückend, kämpfte er sich zur Luftschleuse zurück, wobei jeder einzelne Muskel durch die Metallmasse des Anzugs bis aufs äußerste beansprucht wurde. Trotz seiner Qualen drängte sich ihm der Gedanke auf: Kein Wunder, daß die Spur schmäler geworden war. Die Füße seines Anzugs mußten die Temperatur ihrer Umgebung fast angenommen haben. Von fünfhundert Grad über Null auf fünfzig unter Null – für eine dünne zehn Zentimeter dicke Schicht aus Stahl, Vakuum, Heizrohren und Isoliermaterial ein zu großes Temperaturgefälle. Die hohe Temperatur im Inneren hatte sich trotz der gut funktionierenden Heizanlage nicht aufrechterhalten lassen.

Die Beschwerden ließen nach, während er sich zur Schleuse durchkämpfte, doch machte ihn dieser Umstand nicht froher. Er jagte ihm vielmehr Angst ein. Sollte er die Herrschaft über seine Füße verlieren, dann würde er in Sichtweite der Besatzung der Karella sterben, denn es gab an Bord keinen zweiten Spezialanzug, den jemand zur Rettung Kens hätte anziehen können.

Jetzt war auch sein Gesicht eiskalt – sicher trat auch durch das Spezialglas seiner Gesichtsplatte ein Strahlungsverlust auf. Seine Tentakelspitzen spürten die Kälte, aber längst nicht so schlimm. Die Tatsache, daß die todbringende weiße Masse nur die Greifer berührt hatte, war in diesem Punkt ein großer Vorteil. Er hatte jetzt den Rand des tödlichen Gebietes erreicht. Zwischen ihm und der Schleuse lagen nur mehr fünfundzwanzig Meter. Der Boden fühlte sich noch immer sehr kalt an. Er mußte hier so kalt sein wie die weiße Fläche. Die Schleusentür stand offen, eine metallgefaßte Höhle, die immer weiter zurückzuweichen schien, je angestrengter er sich vorwärtskämpfte. Jetzt spürte er die Kälte bis zu seinen unteren Knien. Zum erstenmal empfand er die unbeholfene Steifheit der Anzugbeine als Vorteil. Er hatte das Gefühl, auf Stelzen zu gehen, ohnehin die einzige Möglichkeit, seine Füße zu bewegen. Einmal stolperte er. Dabei schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, ob er es schaffen würde, mit diesem Ungetüm von Anzug je wieder in die Höhe zu kommen. Irgendwie fing er sich – wie, das wußte er nicht, und die beiden im Schiff konnten es ihm auch nicht sagen. Wieder ging es stockend weiter. Zehn Meter… fünf… und er stieß dumpf gegen den Rumpf der Karella. Nur noch ein Schritt, und er stand in der Schleuse. Zwei Schritte, und er befand sich außer Reichweite der massiven Tür. Mit verzweifelter Hast drückte er den Ärmel gegen den Schließ-Schalter. So heftig drückte er dagegen, daß die Vorrichtung fast zerstört wurde, aber die Schaltung funktionierte, und die Tür fiel dumpf hinter ihm zu. Er hörte das Geräusch durch den Anzug hindurch. Dann kam automatisch die Luft in die Schleuse, kondensierte auf seinem Anzug, fror an den Extremitäten zu einer gelben Kruste. Nach entsprechendem Druckanstieg ging die Innentür auf. Drai und Ordon Lee standen im Gang dahinter. Drai wich vor der entsetzlichen Kälte zurück, die aus der Kammer strömte. Der Pilot reagierte geistesgegenwärtiger und war mit einem Satz bei einem Schrank, aus dem er einen Lötkolben holte. Die Flamme vor sich hertragend näherte er sich Ken vorsichtig.

Die Schwefelkruste verdampfte unter der Flamme sofort und war sofort wieder da, wenn die Flamme auf eine andere Stelle gerichtet wurde. Lange Sekunden vergingen, ehe das Metall sich so erwärmt hatte, daß sich kein Niederschlag mehr darauf bildete. Noch länger dauerte es, ehe man es anfassen und den halb bewußtlosen Ken herausholen konnte. Minuten vergingen, bis der bohrende Schmerz aus seinen Gliedern gewichen war und er wieder zusammenhängend sprechen konnte. Ken war heilfroh, daß er keinen bleibenden Schaden davongetragen hatte: Richtige Erfrierungen hatte er nicht abbekommen, seiner Hautfarbe nach zu schließen, war er jedoch nah daran gewesen.

Als Drai und Lee hörten, daß Ken einen zweiten Ausflug plante, wuchsen bei ihnen Verwunderung und Entsetzen. Sogar Drai, der natürlich größtes Interesse hatte, nützliche Informationen zu bekommen, unternahm einen halbherzigen Versuch, ihn von seinem Plan abzubringen. Ken ließ sich nicht beirren, und sein Chef tröstete sich damit, daß es ja seine Gesundheit war, die aufs Spiel gesetzt wurde.

Ken hatte sich auf Merkur mit verschiedenen Apparaten und Bestandteilen reichlich eingedeckt. Er verbrachte nun einige Zeit damit, unter dem Vorhandenen das Richtige herauszukramen. Was er fand, schien ihn zu befriedigen. Er traf nun einige sehr sorgfältige Vorbereitungen, unter anderem bestimmte er das genaue Gewicht bestimmter Dinge. Dann schleppte er bestimmte Ausrüstungsgegenstände zur Schleuse und kletterte schließlich wieder in seinen Panzeranzug, was bei Ordon Lee unverhohlene Bewunderung hervorrief.

Vom Fenster des Kontrollraumes aus sahen Drai und der Pilot Ken nach, der wieder zum Schauplatz seiner Schwierigkeiten zurückstapfte. Er folgte dabei seiner eigenen Spur, die noch immer deutlich zu sehen war, und vermied es peinlich, das weiße Zeug mit irgendeinem Teil seines Anzugs zu berühren. An der Stelle angekommen, wo seine abgekühlten Beine das Zeug nicht mehr bis zum Boden durchgeschmolzen hatten, blieb er stehen. Die Beobachter konnten nicht in allen Einzelheiten erkennen, was er machte. Man sah nur, daß er etwas auf dem Boden hin und her rollte und daß die weiße Substanz um dieses Etwas herum verdampfte. Das Verdampfen hörte auf, als die Temperatur dieses Gegenstands auf die seiner Umgebung herunterging. Jetzt hob Ken es hoch und teilte es entzwei. In jeden dieser Teile drückte er eine gewisse Menge des geheimnisvollen Stoffes. Dazu benutzte er einen gewöhnlichen Löffel. Dann wurden die zwei Hälften wieder miteinander verbunden, und Ken trat schnell den Rückweg zur Luftschleuse an.

Drai lief eilig zur inneren Tür der Schleuse, doch die Tür blieb geschlossen. Er hörte das Zischen von Luft, während der Druck erhöht wurde, dann nichts mehr. Er wartete eine Zeitlang, während seine Verwunderung immer mehr stieg. Schließlich ging er langsam zum Kontrollraum zurück. Immer wieder blickte er sich um, doch die Schleuse blieb geschlossen.

Als er den Kontrollraum betrat, hatte Lee ihm etwas zu melden.

»Er läßt den Druck in der Kammer wieder raus«, sagte der Pilot und deutete auf das aufleuchtende violette Lämpchen am Instrumentenbrett. Beide Sarrianer traten an die Sichtscheibe, die der Schleuse zugewandt war, wobei Lee ein Auge immer auf das Gerät gerichtet hielt, das anzeigen würde, wenn die Außentür geöffnet wurde. Es leuchtete in Sekundenschnelle auf, und die zwei Beobachter drängten sich vor der Scheibe. Ken mußte gleich auftauchen. Wieder tat sich gar nichts.

»Was um alles in der Galaxis, treibt denn der Kerl?« fragte Drai nach einer Weile die Welt im allgemeinen. Lee betrachtete die Frage als rhetorisch. Er ließ das Instrumentenbrett nicht aus den Augen. Fünf Minuten vergingen, ohne daß sich etwas getan hätte. Dann schloß sich wieder die äußere Tür. Er machte Drai darauf aufmerksam. Er selbst beobachtete den Druckanzeiger, der gehorsam den Druckanstieg meldete. Jetzt hatte das Warten ein Ende, sie liefen Seite an Seite den Gang entlang.

Ken schien mit seiner Arbeit fertig. Die Innentür stand offen, als sie ankamen. Diesmal war sein Anzug nicht so enorm abgekühlt worden. Nur eine leichte Tauschicht dämpfte den Glanz. Es dauerte nicht lange, und Lee konnte ihm heraushelfen. Kens Miene drückte Befriedigung aus, was den anderen nicht entging.

»Sie haben festgestellt, was es ist!« Das war eine Feststellung und keine Frage.

»Ich habe etwas herausgefunden, was mir helfen wird, festzustellen, was es ist.«

»Was haben Sie gemacht? Warum sind Sie zweimal hinaus?«

»Sicher haben Sie gesehen, wie ich eine Probe in die Druckbombe tat. Ich verschloß sie und brachte sie herein, damit sie verdampfen konnte und der Druckmesser an der Bombe eine Temperatur erreichte, der ich trauen konnte. Ich las den Druck bei verschiedenen Temperaturen ab und wog die Bombe mit der Probe. Leer hatte ich sie bereits gewogen, oder vielmehr mit dem annähernden Vakuum, das auf diesem Planeten im Inneren herrscht. Das zweite Mal öffnete ich die Tür, um die Probe abzulassen und bei gleicher Temperatur die Luft des Planeten zu untersuchen – schließlich muß sie beim erstenmal den Druck ein wenig hochgetrieben haben.«

»Aber wozu das alles?«

»Ich will mich jetzt nicht in Einzelheiten verlieren. Ich konnte damit das Molekulargewicht der Substanz feststellen. Ich erwartete eigentlich nicht, daß sich daraus etwas ableiten ließ, doch es hat geklappt. Das Molekulargewicht ist so gering, daß nicht viele Elemente daran beteiligt sein können. Sicher nichts, was schwerer ist als Fluor, und meiner Meinung nach nichts, was über Sauerstoff hinausgeht. Ich gebe zu, daß ich mich bei meiner Berechnung geringfügig irren kann, weil die Arbeitsbedingungen nicht ideal waren. Aber groß kann mein Fehler nicht sein.«

»Und wie groß ist es?«

»Das Molekulargewicht? Zwischen achtzehn und neunzehn, bekam ich heraus.«

»Und was hat dieses Gewicht?«

»Nichts Alltägliches. Wie ich schon sagte, muß ich die einschlägigen Unterlagen durchsehen. Nur ganz wenige Elemente sind so leicht.«

»Na, wenn sie so selten sind, ist das Zeug vielleicht gar nicht lebenswichtig.«

Ken sah Drai an, um sich zu vergewissern, daß dieser es ernst meinte.

»Erstens«, setzte Ken an, als er sah, daß der andere nicht gescherzt hatte, »erstens bedeutete seltenes Vorkommen noch lange nicht, daß es nicht lebenswichtig ist. Unser Körper verbraucht ansehnliche Mengen von Fluor, ganz zu schweigen von Zink, Arsen und Kupfer. Bei dieser anderen Lebensform könnte es ähnlich sein. Zweitens: Bloß weil ein Element auf Sarr selten vorkommt, muß es nicht auch auf Planet Drei selten vorkommen. Drei ist viel größer und könnte während seiner Entstehung beträchtliche Mengen leichtere Elemente enthalten haben, auch wenn sie als ungebundene Gase vorkamen.«

Die (Gruppe war unterdessen vor Kens Kabine angelangt, wo er die meisten seiner Apparate aufgestellt hatte. An diesem Punkt des Gesprächs angelangt, traten sie ohne weiteres mit ein. Ken hängte sich ohne ein weiteres Wort auf den einzigen Ständer und fing an, das chemische Handbuch durchzublättern. Er suchte den Abschnitt, der sich mit anorganischen Verbindungen befaßte. Daß diese geheimnisvolle Substanz Kohlenstoff enthalten konnte, war ihm klar, doch konnte es nicht mehr als ein Atom per Molekül enthalten. Es bestand daher nicht die Gefahr, daß es sich um ein wirklich komplexes organisches Material handelte.

Es gab tatsächlich bloß acht Elemente, die darin vorhanden sein konnten. Und die Gesetze der Chemie verminderten die Verbindung dieser acht beträchtlich. Das leichteste war Wasserstoff. Und den Wasserstoffverbindungen wandte Ken sich nun zu, da sie als erste behandelt wurden.

Drai stand so, daß er die Seiten, die Ken studierte, einsehen konnte. Der weniger interessierte und auch weniger erregbare Lee stand an der Tür und wartete. Mehr als sein Chef war er auf eine längere Wartezeit eingerichtet, während Ken das Buch durchsuchte. Um so mehr war er erstaunt, als Ken, der kaum begonnen hatte zu lesen, auffuhr. Drai war diese Reaktion nicht entgangen.

»Was ist es?« fragten beide gleichzeitig. Drai nahm es als selbstverständlichen, daß Ken das Gesuchte gefunden hatte.

»Moment! Da ist ein Punkt, der nicht ganz hineinpaßt… alles andere haut perfekt hin. Einen Augenblick.« Ken überlegte. »Natürlich. Hier wird von normalem Druck ausgegangen.« Er sah vom Buch auf. »Ja, es scheint dieses Zeug zu sein. Auf Sarr ist es gänzlich unbekannt wegen seines geringen Molekulargewichtes… es muß vor Urzeiten schon aus der Atmosphäre entwichen sein falls es je vorhanden war. Nach diesem Handbuch tritt es in einem breiten Temperaturbereich als Flüssigkeit auf, allerdings unter dem bei uns herrschenden atmosphärischen Druck. Ganz klar, daß es sich in diesem Vakuum so verflüchtigte.«

»Und was ist es?«

»Ein Wasserstoffoxid – H2O, wenn ich nicht irre. Wenn es für die Wachstumsform, an der sie so interessiert sind, wichtig sein sollte, dann steht uns eine interessante Zeit bevor.«

»Wir verfügen über Frachtbehälter, die man unter Außenbedingungen halten kann und an das Schiff antaut«, hob Drai hervor.

»Das dachte ich mir«, antwortete Ken. »Normale ›Außenbedingungen‹ im All nahe Planet Eins würden auf diesen Stoff so wirken, daß er sich verflüchtigt, so wie er sich unter der verhältnismäßig geringen Wärmeausstrahlung meines Anzugs verflüchtigte. Ihre Lastbehälter müßten luftdicht verschlossen werden. Der Transport zu einer dieser Höhlen wird sich hochinteressant gestalten.«

Laj Drai machte ein erschrockenes Gesicht. Da fiel ihm etwas ein, und seine Miene drückte Befriedigung aus.

»Ich bin sicher, Sie werden das alles berechnen können. Dazu sind Naturwissenschaftler schließlich da, nicht?«

Jetzt war es an Ken, erschrocken zu sein, obwohl er Drai schon lange genug kannte, um etwas in dieser Richtung zu gewärtigen.

»Machen Sie sich denn nie selbst an die Lösung Ihrer Probleme?« fragte er ein bißchen sauer.

Drai nickte bedächtig. »Ja, manchmal. Ich lasse sie mir gern durch den Kopf gehen. Für naturwissenschaftliche Probleme fehlt es mir an Wissen. Deswegen heuere ich Typen wie Sie und Feth an. Vielen Dank, daß Sie mich daran erinnern – ich habe tatsächlich ein Problem, an das ich schon viel Überlegung gewandt habe. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, möchte ich letzte Hand anlegen. Sie können bleiben und hier weitermachen.«

»Im Augenblick gibt es für uns auf diesem Planeten nichts mehr zu tun.«

»Das glaube ich. Also, dann nichts wie zurück auf Planet Eins und zu Ihren Laboreinrichtungen. Kommen Sie, Lee, wir überlassen den Forscher seiner Wissenschaft.«

Der von Natur aus arglose Ken sah nicht einmal auf, als die zwei hinausgingen. Er hatte eben Ammoniak in der Aufstellung gefunden und fragte sich, ob er sich so verrechnet hatte und das wirkliche Molekulargewicht nur siebzehn betrug. Die Schmelzpunktwerte beruhigten ihn. Um sicherzugehen, ging er noch alle Verbindungen von Wasserstoff, Lithium, Beryllium, Bor, Stickstoff und Sauerstoff durch, die in seinem Buch angegeben waren. Der Start des Schiffs störte ihn nicht im mindesten. Auch die stille Öffnung seiner Tür machte weiter keinen Eindruck auf ihn.

Die Tür hatte sich mit einem deutlichen Schnappen geschlossen, ehe ihm außer den bedruckten Seiten überhaupt etwas bewußt wurde. Gleichzeitig mit dem Schließen der Tür durchbrach eine Stimme die Stille.

»Sallman Ken!« Der Lautsprecher dröhnte die Worte heraus. Die Stimme gehörte Laj Drai. »Als wir uns eben trennten, sagte ich, daß ich gelegentlich selbst zur Lösung meiner Probleme schreite. Leider stellen Sie eines dieser Probleme dar. Und es scheint mir nur eine Lösung zu geben, die Ihre Nützlichkeit nicht beeinträchtigt. In gewisser Hinsicht tut es mir leid, sie anwenden zu müssen, aber das haben Sie wirklich nur Ihrer eigenen unangebrachten Neugierde zu verdanken. Wenn Sie aufwachen, werden wir uns weiter unterhalten – Sie können mir dann sagen, was Sie von unserem Handelsprodukt halten!« Die Stimme verstummte. Ein Klicken zeigte an, daß das Mikrophon ausgeschaltet worden war.

Ken, der nun ganz bei sich war und das Buch weggelegt hatte, stand auf, oder vielmehr verließ seinen Ständer und schwebte über dem Boden dahin, da man sich ja im Zustand der Schwerelosigkeit befand.

Sein Blick tastete den Raum angestrengt ab. Er suchte etwas, das Drais ziemlich rätselhaften Worten Sinn verliehen hätte. Es dauerte einige Sekunden, ehe er es sah… einen rechteckigen gelben Ziegel, der nahe der Tür in der Luft schwebte. Zunächst erkannte er das Ding gar nicht und stieß sich von einer Wand ab, um näher heranzukommen. Als er dann die Kälte spürte, die von dem Ding ausging, versuchte er vergeblich, schnell Abstand zu gewinnen.

Der Ziegel verlor bereits seine Form. Die Ecken rundeten sich unter dem Einfluß der Wärme und verpufften als Dunst. Gefrorener Schwefel – ganz harmlos, wenn man nicht damit in Berührung kam, aber schrecklich, wenn man wie Ken darüber Bescheid wußte. Mit verzweifeltem Umsichschlagen der Tentakel versuchte er einen Luftzug zu erzeugen, der das Ding aus dem Weg trieb. Ein ähnlich verzweifelter Blick, mit dem er sich im Raum nach einem Gegenstand umsah, der ihm hätte als Gasmaske dienen können, war ebenso fruchtlos.

Er konnte den Blick nur schwer von dem kleiner werdenden Ding abwenden, das nun einem länglichen Ellipsoid ähnelte. Es schrumpfte immer weiter, bis in dem Gelb der Umhüllung etwas anderes sichtbar wurde… das Ende eines kleinen weißen Zylinders. Schließlich war die schützende Verpackung verschwunden, der weiße Zylinder wurde erst braun und dann schwarz und wurde von einer kugelförmigen Rauchwolke eingehüllt. Einen Augenblick lang flammte wilde Hoffnung in Ken auf. Das Ding mußte brennen, und im Zustand der Schwerelosigkeit kann sich kein Feuer halten. Dazu ist ein gewisser Luftzug erforderlich. Vielleicht würde das hier einfach ersticken, doch die Rauchwolke qualmte weiter. Offensichtlich war das Ding in Erwartung dieser Situation mit gefrorenen Luftteilchen imprägniert worden.

Die Rauchwolke wurde an den Rändern fransig und verschwommen, da durch Diffusion die Teilchen im Raum verteilt wurden. Ken roch jetzt den süßlichen Duft. Er versuchte den Atem anzuhalten. Zu spät. Dieser Versuch sollte sein letzter klarer Gedanke sein.

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