9

»Wie ist es zu dem Unfall gekommen?« fragte ich.

»Zu welchem Unfall?«

Auf dem Brett lagen vierzehn Steine, sechs gelbe und acht rote. Ich spielte Rot.

Ich war nun bereits seit einigen Wochen Mitglied von Boots Tarskstücks reisender Theatertruppe. In dieser Zeit waren wir in zahllosen Dörfern und Städten aufgetreten, manchmal auch vor ihren Mauern, wenn man uns den Zutritt verwehrt hatte. Wir hatten unsere Bühne vor Mühlen, Gasthäusern, Zollstellen und Handelsposten aufgestellt, eben dort, wo sich ein Publikum einfand; selbst an den Kreuzungen vielbereister Straßen und an bestimmten Tagen in der Nähe ländlicher Märkte. Ich war unter dem Namen Kamchak, Ubar-San der Wagenleute, als Messerwerfer aufgetreten; ich war sicher, daß mein alter Freund Kamchak nichts gegen die Verwendung seines Namens einzuwenden gehabt hatte. Lady Yanina hatte zu ihrem blanken Entsetzen und Unwillen und zur allgemeinen Freude der Zuschauer als Zielobjekt meiner Wurfkünste herhalten müssen. Die ganze Zeit über waren wir stetig nach Nordwesten gereist, immer auf die Küste und das Thassa – das Meer – zu.

»Wenn ich es recht verstanden habe, war es ein Feuer«, sagte ich.

Er sah mich an.

»Du trägst eine Maske.«

»Ja, und?« sagte er.

»Der Unfall, der dein Gesicht zerstört oder entstellt hat, der es, wie ich gehört habe, so gezeichnet hat, daß Frauen schreiend vor dir die Flucht ergreifen und Männer angewidert aufschreien und dich mit Stöcken und Keulen wie eine gefürchtete, widerwärtige Bestie aus ihrem Revier vertreiben.«

»Versuchst du, mich von meinem Spiel abzulenken?« fragte er.

»Nein.«

»Du bist am Zug.«

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Brett zu. »Ich glaube nicht, daß das Spiel noch lange dauert.«

»Da hast du recht.«

»Bei keiner unserer verschiedenen Partien habe ich einen so großen Vorsprung genossen, was die Spielsteine angeht.«

»Du hast einen Vorsprung?« fragte der Spieler.

»Offensichtlich«, erwiderte ich. »Was aber noch viel wichtiger ist, ich genieße einen immensen Vorteil hinsichtlich der Position.«

»Wie denn das?«

»Sieh her.« Ich schob meinen Tharlarionreiter auf Ubars-Wissender acht. »Wenn du dich nicht verteidigst, wird beim nächsten Zug dein Heimstein fallen.«

»So sieht es aus«, sagte er.

Sein Heimstein stand auf Ubars-Wissender eins, flankiert von einem Hausbauer auf Ubars-Hausbauer eins. Es war zu spät, um den Hausbauer defensiv einzusetzen. Kein Hausbauerzug konnte jetzt noch den Heimstein beschützen. Er konnte nicht einmal mehr einen Fluchtweg schaffen. Der Spieler mußte etwas mit seiner Ubara tun, die auf Ubaras-Tarnkämpfer fünf stand.

Die Spielsteine auf dem Brett standen in der folgenden Anordnung: Mein Heimstein befand sich in der ersten Reihe auf Ubars-Wissender eins; auf Ubars-Schriftgelehrter eins stand ein Hausbauer. In meiner zweiten Reihe waren ein Speerträger auf Ubars-Hausbauer zwei, ein Schriftgelehrter auf Ubara zwei und ein weiterer Tharlarionreiter auf Ubaras-Schriftgelehrter zwei. Meine dritte Reihe bestand aus einem Speerträger auf Ubaras-Wissender drei und einem weiteren Speerträger auf Ubars-Schriftgelehrter drei. Wie bereits gesagt stand einer meiner Tharlarionreiter jetzt auf Ubars-Wissender acht und drohte beim nächsten Zug den gegnerischen Heimstein gefangenzunehmen.

Der Spieler hatte in seiner achten Reihe einen Speerträger auf Ubars-Hausbauer acht der von meinen beiden Speerträgern in der dritten Reihe beidseits flankiert wurde. Sein Speerträger wurde von einem weiteren Speerträger auf Ubars-Schriftgelehrter sieben gedeckt. Seine Ubara stand wie bereits gesagt auf Ubaras-Tarnkämpfer fünf und wurde von einem Schriftgelehrten auf Ubaras-Schriftgelehrter vier gedeckt. Diese Anordnung von Ubara und Schriftgelehrter jagte mir keine Angst ein. Sollte der Spieler so dumm sein, mit seiner Ubara auf meine Bretthälfte nach Ubars-Hausbauer eins zu ziehen – aus der Sicht des Spielers war es das Feld Ubars-Hausbauer zehn –, würde sie dem Hausbauer auf Ubars-Schriftgelehrter eins zum Opfer fallen. Sein Schriftgelehrter konnte das Feld zwar zurückerobern, aber er hatte seine Ubara an einen Hausbauer verschwendet. Seine letzten beiden Spielsteine standen in seiner ersten Reihe, der Heimstein auf Ubars-Wissender eins und ein Ubars-Hausbauer auf Ubars-Hausbauer eins.

»Wie würdest du dich verteidigen?« fragte der Spieler.

»Du könntest deine Ubara hinüber auf Ubars-Wissender fünf bringen und den Tharlarionreiter bedrohen«, sagte ich.

»Aber du zögst dich dann auf deinen Ubars-Wissender sieben zurück, und der Tharlarionreiter wäre dann von deinem Schriftgelehrten auf Ubara zwei gedeckt«, sagte er. »Dieser Zug könnte die Ubara blockieren und dir erlauben, deinen Druck auf die Linie von Ubars-Wissender aufrechtzuerhalten. Außerdem könnte er dir Zeit verschaffen, einen noch stärkeren Angriff aufzubauen.«

»Natürlich«, sagte ich.

Er schob seine Ubara auf Ubaras-Tarnkämpfer zwei.

»Das ist der bessere Zug«, sagte ich,

»Das glaube ich auch.«

Ubars-Wissender neun, das Feld, von dem aus ich die Gefangennahme des Heimsteins hätte durchführen können, wurde nun von seiner Ubara geschützt.

»Sieh her«, sagte ich.

»Ja?«

Ich schob den Schriftgelehrten von Ubara zwei nach Ubaras-Tarnkämpfer drei. Das brachte ihn in die Diagonale, auf deren Linie das entscheidende Feld Ubars-Wissender neun lag. Der Spieler konnte ihn nicht mit seiner Ubara schlagen, indem er seine Ubaras-Tarnkämpfer-Linie entlangzog, denn der Schriftgelehrte wurde nun durch den zweiten Tharlarionreiter gedeckt, der bis zu diesem Augenblick ganz unschuldig und unverdächtig scheinbar völlig nutzlos auf Ubaras-Schriftgelehrter zwei gestanden hatte. Jetzt zeigte sich der wahre Grund, warum er auf diesem Feld lauerte, und zwar auf dramatische Weise. Ich hatte meine Züge gut geplant.

»Du magst nun deinen Heimstein schützen, aber das wird dich deine Ubara kosten.« Ich würde meinen Tharlarionreiter nach Ubars-Wissender neun schieben und seinen Heimstein bedrohen. Seine einzige Verteidigungsmöglichkeit wäre die Gefangennahme des Tharlarionreiters durch seine Ubara, die ich im Gegenzug mit dem Schriftgelehrten schlagen würde. Ein Tharlarionreiter gegen eine Ubara, ein Tausch zu meinen Gunsten. Danach wäre es bei meinem überwältigenden Vorsprung in der zahlenmäßigen Überlegenheit ein leichtes, das Spiel in kurzer Zeit zu beenden.

»Ich verstehe«, sagte er.

»Und ich hatte Rot«, erinnerte ich ihn. Gelb eröffnet. Das erlaubt ihm, die ersten Züge zu diktieren, was natürlich die Offensive zur Folge hat. Viele Kaissa-Spieler – nicht nur Mitglieder der Kaste der Spieler – kennen verschiedene Eröffnungen mit zahlreichen Varianten, die etliche Spielzüge vorausbestimmen. Das ist einer der Gründe, warum die Spieler, die Rot haben, sich gelegentlich gewisser ungewöhnlicher oder exzentrischer Verteidigungszüge bedienen, die zumindest theoretisch von schwacher Natur sind. Auf diese Weise wird das Spiel aufgelockert, und man ist gezwungen, sich neue Züge einfallen zu lassen, selbst wenn sie zweifelhaft sind. Haben diese ungewöhnlichen oder exzentrischen Verteidigungen dann Erfolg, halten sie natürlich bald Einzug in die allgemeine Spiellehre. Übrigens ist es auf der Meisterebene nicht ungewöhnlich, daß Rot wegen der mit dem zweiten Zug einhergehenden Nachteile auf ein Unentschieden spielt.

»Du hast noch immer Rot«, bemerkte mein Gegner.

»Ich habe lange auf diesen Augenblick der Vergeltung gewartet«, sagte ich. »Mein Triumph wird um so süßer sein, da ich so viele schnelle, überaus demütigende Niederlagen von deiner Hand hinnehmen mußte.«

»Deine Einstellung ist bemerkenswert«, sagte er. »Ich bezweifle, daß mir ein Sieg einen befriedigenden Ausgleich für hundert irgendwie peinliche Niederlagen bringen würde.«

»Es ist nicht so, daß ich so schlecht bin«, sagte ich bescheiden. »Du bist nur ziemlich gut.«

»Vielen Dank.«

Um ehrlich zu sein, ich war noch nie gegen einen besseren Gegner angetreten. Viele Goreaner sind in diesem Spiel recht geschickt, und ich hatte mit ihnen gespielt. Ich hatte sogar gelegentlich mit Mitgliedern der Spielerkaste gespielt, aber ich hatte noch nie jemandem gegenübergesessen, der auch nur annähernd die Klasse meines Gegners gehabt hatte. Sein Spiel war normalerweise genau, fast pedantisch, der geringste Fehler oder die geringste Positionsschwäche des Gegners wurde gnadenlos und vernichtend ausgenutzt; darüber hinaus zeigte er eine glänzende Methodik, wie sie nur bei hochrangigen Spielern vorkam. Sie zeichnete sich durch erstaunliche Kreativität aus. Er gehörte zu den Spielern, die das Spiel nicht bloß spielten, sondern es bereicherten. Außerdem schien er diese Dinge oft – zu meinem Verdruß viel zu oft – mit einer scheinbaren Mühelosigkeit, fast schon anmaßenden Lässigkeit aus dem Ärmel zu schütteln.

Es ist eine Sache, von jemanden geschlagen zu werden; es ist aber eine ganz andere Sache, wenn es ständig passiert und man schwitzend und verbissen dort sitzt, während der Gegner die meiste Zeit – von dem gelegentlichen Blick auf das Brett und dem damit verbundenen schnellen Zug abgesehen – damit zu verbringen scheint, über den Lagerklatsch oder den Flug der am Himmel vorbeitreibenden Wolken nachzusinnen. Falls das Spiel dieses Mannes eine Schwäche hatte, dann die Neigung, gelegentlich seltsamen oder sogar leichtsinnigen Experimenten zu frönen. Außerdem war ich der festen Meinung, daß er manchmal seine Aufmerksamkeit zu sehr abschweifen ließ, im Vertrauen darauf, Fehler zu meistern. Vielleicht neigte er auch einfach nur dazu, den Gegner zu unterschätzen.

Er interessierte sich auch für die Psychologie des Spiels. In einem Spiel hatte er die Ubara en prise gesetzt. Ich war der festen Überzeugung gewesen, daß es sich um den Köder einer raffinierten Falle handelte, und hatte mich nicht nur geweigert, ihn anzunehmen, sondern mir die ganze Zeit darüber Sorgen gemacht. Ich hatte die Ubara gemieden und es schließlich geschafft, mein Spiel selbst zum Zusammenbruch zu bringen. Er hatte es dann wieder getan, mit ziemlich dem gleichen Ergebnis. »Mir war gar nicht aufgefallen, daß es en prise stand«, hatte er später zugegeben. »Ich bin in Gedanken ganz woanders gewesen.« Hätte ich es gewagt, diesen Fehlzug auszunutzen, hätte ich nicht bis heute warten müssen, um ein Spiel gegen ihn zu gewinnen. Ja, manchmal konnte er einen aus der Fassung bringen. Ich zweifelte jedoch keinen Augenblick lang, daß die Partien mit ihm mein Kaissa-Spiel wesentlich verbessert hatten.

»Willst du aufgeben?« fragte ich.

»Ich glaube nicht.«

»Das Spiel ist vorbei.«

»Vielleicht.«

»Es wäre peinlich, es bis zum Ende zu spielen«, sagte ich.

»Vielleicht«, gab er zu.

»Gib dich geschlagen«, schlug ich vor.

»Nein.«

Ich lächelte. »Mach es mir nicht so schwer.«

»Das ist ein Privileg von uns Ungeheuern«, erwiderte er.

»Wie du willst.« In Wahrheit wollte ich gar nicht, daß er sich geschlagen gab. Ich hatte sehr lange Zeit auf diesen Sieg gewartet, und ich würde jeden Zug bis zur Gefangennahme des Heimsteins genießen.

»Was tut ihr da?« fragte Bina und kam näher, während sie auf einem Stück Larma kaute.

»Wir spielen Kaissa«, sagte das Ungeheuer.

Mir war nicht entgangen, daß sie sich nicht hingekniet hatte. Sie hatte auch nicht um Erlaubnis zum Sprechen gebeten. Ihr ganzes Benehmen zeigte eine unmißverständliche Geringschätzung unserer Stellung als freie Männer. Natürlich war sie nicht meine Sklavin. Sie gehörte Boots.

»Das sehe ich selbst«, sagte sie und biß wieder in die Larma. Der Saft rann ihr den Mundwinkel hinab.

Ihr Fuß stand auf dem Saum des Gewandes des Spielers, da er mit untergeschlagenen Beinen vor dem Brett saß.

»Wer gewinnt?«

»Das spielt keine Rolle«, sagte ich. Ihre Feindseligkeit gegenüber dem Spieler machte mich wütend. Ich hatte nicht vor, ihr Gelegenheit zu geben, sich über seine bevorstehende Niederlage zu freuen. Sie trug leichte Lederpantöffelchen. Boots hatte Rowena und Bina das Schuhetragen erlaubt. Er war ein nachsichtiger Herr. Allerdings hatte Lady Telitsia diese Erlaubnis noch nicht erhalten, aber sie hatte auch noch keine Kleidung anziehen dürfen, mit Ausnahme der für die Vorstellung erforderlichen Kostüme.

»Spielst du?« fragte ich.

»Ich bin eine Sklavin«, erwiderte sie. »Ich darf Spielsteine oder Waffen ohne Erlaubnis nicht einmal anrühren, ohne das Risiko einzugehen, die Hände abgeschlagen zu bekommen oder gar getötet zu werden.«

»Also kennst du die Regeln nicht?«

»Nein.«

»Du verstehst also nichts von dem Spiel?«

»Nein.«

»Gut.« Das freute mich. Es war gut, daß Bina nicht begriff, in welch bedrohlicher Klemme mein Gegner steckte. Das hätte die kleine Schlampe nur belustigt. Sicherlich hatte sie bemerkt, daß ihr Fuß auf seinem Gewand stand, so wie er es bemerkt haben mußte.

»Ich habe dir angeboten, eine solche Erlaubnis zu erwirken und dir das Spiel beizubringen«, sagte der Spieler.

»Ich verachte dich!«

»Du stehst auf dem Gewand meines Gegners«, sagte ich.

»Tut mir leid«, erwiderte sie, trat einen Schritt zurück und wirbelte mit voller Absicht mit der Fußspitze Staub auf, der auf das Gewand des Spielers hinabregnete.

»Paß auf!« warnte ich.

»Du bist nicht mein Herr!« sagte sie. »Und der da auch nicht!«

»Jeder freie Mann darf eine ungehorsame oder unverschämte Sklavin bestrafen«, sagte ich. Solche Bräuche sorgen dafür, daß die goreanischen Sklaven vollkommenen Gehorsam üben, selbst dann, wenn ihre Besitzer gerade einmal nicht in der Nähe sind. Bina erbleichte.

»Wir spielen«, sagte der Spieler. »Laß es gut sein.«

Bina entspannte sich sichtlich, ihr Gesicht gewann rasch an Farbe. Dann sah sie den Spieler an. »Du dürftest kein Mitglieder dieser Truppe sein«, sagte sie dann. »Du bringst uns nicht einmal genug Münzen ein, um für deine Suls zu zahlen. Du bist schrecklich. Du bist wertlos! Du bist ein Narr und ein verachtenswerter Schwächling! Alles, was du kannst, ist Kaissa spielen. Es ist ein dummes Spiel! Kleine Holzstücke auf einem flachen bunten Brett umherzuschieben! Wie dumm! Wie lächerlich!«

»Hast du nicht irgendwo etwas zu tun?« fragte ich.

»Verlaß das Lager, Ungeheuer«, fuhr Bina fort. »Keiner will dich hier! Geh!«

Ich sah sie an.

»Ja«, sagte sie wütend an mich gewandt. »Ich habe Arbeit zu erledigen.«

»Dann sieh zu, daß du sie auch erledigst, Sklavin!«

»Ja, Herr«, erwiderte sie, warf den Kopf in den Nacken und ging.

»Ein unverschämtes Weib«, sagte ich. »Sie braucht dringend eine Bestrafung!«

»Vielleicht hat sie recht«, meinte der Spieler.

»Inwiefern?« fragte ich.

Er sah auf das Brett. »Vielleicht ist es ja dumm und lächerlich, daß sich Männer mit solchen Dingen beschäftigen.«

»Und die Liebe ist nur eine Störung der Körpersäfte und Musik besteht nur ein paar Tönen.«

»Und doch ist es alles, was ich kann«, sagte er.

»Wie die Liebe oder die Musik rechtfertigt sich Kaissa von selbst. Es bedarf keiner anderen Rechtfertigung.«

»Ich habe dafür gelebt«, sagte der Spieler. »Ich kann nichts anderes. In dunklen Augenblicken war es manchmal das einzige, was zwischen mir und einem Messer stand.«

»Willst du, daß ich die Sklavin bestrafe?« fragte ich.

»Nein.«

»Magst du sie?«

»Ich lebe für das Kaissa-Spiel.«

»Sie ist ein hübsches kleines Miststück.«

»Ich verstehe nichts von Frauen.«

»Du bist am Zug«, sagte ich.

»Willst du das Spiel fortführen?«

»Wenn es dir recht ist, hätte ich nichts dagegen.«

»Ich dachte, du würdest es vielleicht nicht wollen.«

»Doch, und ob ich will.«

»Ich biete dir ein Unentschieden an«, sagte er.

»Du bist sehr großzügig.«

Er neigte anmutig den Kopf.

»Du machst natürlich einen Scherz«, sagte ich.

»Nein«, erwiderte er verblüfft.

»Ich habe die Gewinnposition.«

»Ah!« sagte er plötzlich. »Darum wolltest du in Gegenwart der Sklavin nichts über den Spielverlauf sagen. Du wolltest mich vor ihrem Spott bewahren.«

»So etwas in der Art«, gab ich mit einem Schulterzucken zu.

»Das war wirklich sehr aufmerksam von dir«, meinte der Spieler. »Ich muß darauf bestehen, daß du ein Unentschieden annimmst.«

»Mit deiner Erlaubnis würde ich die Partie lieber bis zu Ende spielen.«

»Es ist das erste Mal in meinem Leben«, sagte der Spieler mit Nachdruck, »daß ich jemanden einen Gleichstand als Geschenk angeboten habe.«

»Ich weiß diese Geste durchaus zu schätzen«, sagte ich.

»Aber du willst es nicht?«

»Nein.«

»Also gut.«

»Ich habe die Gewinnposition«, sagte ich.

»Bist du davon wirklich überzeugt?«

»Ja.«

»Bemerkenswert«, meinte der Spieler.

»Ich habe einen gedeckten Tharlarionreiter auf Ubars-Wissender acht. Wenn ich mit ihm nach Ubars-Wissender neun ziehe, kannst du der Gefangennahme deines Heimsteins nur dadurch entgehen, indem du die Ubara opferst. Danach ist der Ausgang des Spiels eine klare Sache.«

Er sah mich an, ohne ein Wort zu sagen.

»Du bist am Zug«, erinnerte ich ihn.

»Genau das hast du anscheinend vergessen«, sagte er.

»Ich verstehe nicht.«

Er schob seine Ubara über das Brett und nahm den Speerträger, den ich auf Ubaras-Wissender drei plaziert hatte.

»Dieser Speerträger ist gedeckt«, sagte ich. »Und zwar durch den Speerträger auf Ubars-Hausbauer zwei.«

»Bedrohung des Heimsteins«, sagte er. Das stimmte, seine Ubara bedrohte nun meinen Heimstein.

»Ich gestatte dir, diesen Zug zurückzunehmen«, sagte ich.

»Bedrohung des Heimsteins«, erwiderte er.

»Dieser Zug kostet dich deine Ubara. Außerdem verlierst du sie für einen wertlosen Speerträger, nicht einmal für einen Tharlarionreiter. Wenn ich sie vom Brett nehme, ist mein Tharlarionreiter nur noch einen Zug von der Gefangennahme deines Heimsteins entfernt.«

»Bedrohung des Heimsteins«, sagte er.

»Also gut.« Ich nahm seine Ubara vom Brett und ersetzte sie durch den Speerträger, der auf Ubars-Hausbauer zwei plaziert gewesen war. Natürlich war ich zu dem Zug gezwungen gewesen. Ich konnte den Heimstein nicht nach Ubars-Hausbauer eins versetzen, weil dieses Feld von seinem Schriftgelehrten auf Ubaras-Schriftgelehrter vier bedroht wurde. »Mein Tharlarionreiter ist nur einen Zug von der Gefangennahme des Heimsteins entfernt«, erinnerte ich den Spieler noch einmal.

»Aber ich bin am Zug«, erwiderte er.

Dann versetzte er seinen Speerträger von Ubars-Hausbauer acht nach Ubars-Hausbauer neun – von meiner Seite des Brettes aus gesehen war das das Feld Ubars-Hausbauer zwei. Dieser Zug war jetzt möglich, weil ich diese Linie geöffnet hatte, als ich mit meinem Speerträger gezwungenermaßen seine Ubara entfernt hatte. Man muß so lange wie möglich den Heimstein beschützen.

»Bedrohung des Heimsteins«, bemerkte er.

Sein vorrückender Speerträger, ein dummer Speerträger, bedrohte nun gleichzeitig Heimstein und Hausbauer. Der Speerträger darf nicht zurückweichen; nach seinem ersten Zug darf er sich immer nur ein Feld vorwärts bewegen, dabei spielt es keine Rolle, ob die Bewegung nach vorn, zur Seite oder diagonal vorwärts erfolgt.

Ich konnte nicht einmal mit meinen Heimstein nach Ubars-Hausbauer eins ausweichen, da dieses Feld wie bereits beschrieben vom Schriftgelehrten des Spielers aus der Ferne bedroht wurde. Davon abgesehen war es mir unmöglich, meinen Hausbauer zur Verteidigung auf dieses Feld zu bringen, da ihn das ebenfalls dem Angriff des Schriftgelehrten ausgesetzt hätte. Langsam kam mir der Verdacht, daß die Aufstellung seiner Ubara und des Schriftgelehrten auf dieser entscheidenden Diagonale, die ich für eine ziemlich schwache, leicht zu verhindernde Bedrohung des Heimsteins gehalten harte, in Wirklichkeit einem anderen, hinterhältigeren Zweck diente.

Selbst wenn sein Schriftgelehrter nicht an dieser Stelle plaziert worden wäre, wäre es in dieser ganz speziellen Spielsituation nicht angebracht gewesen, meinen Heimstein von Ubars-Wissender eins nach Ubars-Hausbauer eins zu versetzen. Denn das hätte seinem Speerträger den diagonalen Zug auf mein Feld Ubars-Wissender eins ermöglicht. Dort hätte ihn der Spieler zweifellos in einen Tharlarionreiter umgewandelt und sofort den Heimstein gefangengenommen.

Die Verteidigung durch meinen Hausbauer, auf die ich mich verließ, wäre in diesem Fall durch die Plazierung meines eigenen Heimsteins unbrauchbar gemacht worden, da der Heimstein zwischen ihm und dem Angreifer gestanden hätte. Da der Schriftgelehrte Ubars-Hausbauer eins bedrohte, wurde mir der nächste Zug aufgezwungen. Ich konnte nur nach Ubars-Wissender zwei ziehen. Anscheinend mußte ich meinen Hausbauer opfern. Ich faßte meinen Tharlarionreiter auf Ubars-Wissender acht ins Auge. Ich brauchte nur einen Zug Luft, um den gegnerischen Heimstein gefangennehmen zu können.

»Dein Heimstein wird angegriffen«, erinnerte mich der Spieler.

»Dessen bin ich mir bewußt«, erwiderte ich.

»Dir bleibt nur ein Zug übrig.«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Vielleicht solltest du ihn machen.«

»Also gut.« Ich schob meinen Heimstein auf Ubars-Wissender zwei. Ein Speerträger, der die hinterste Reihe des Feindes erreicht, kann entweder zum Tarnkämpfer oder Tharlarionreiter umgewandelt werden, falls der Spieler das wünscht. Im allgemeinen wird der Tarnkämpfer als wertvoller angesehen. In vielen Schiedsrichterentscheidungen zählt der Tarnkämpfer acht Punkte und der Tharlarionreiter nur zwei. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß der Spieler seinen Speerträger direkt auf Ubars-Hausbauer eins vorrücken lassen würde, selbst wenn dieses Feld nun von dem Hausbauer gedeckt wurde, der sich auf der anderen Bretthälfte auf Ubars-Hausbauer eins befand.

Mich beschlich der Verdacht, daß die Plazierung des Hausbauers in dieser Linie kein Zufall war, genausowenig wie die eher verwirrende Plazierung seines Schriftgelehrten auf Ubaras-Schriftgelehrter vier. Falls mein Gegner den Schriftgelehrten vorrücken ließ und ihn zu einem Tharlarionreiter machte, um den Heimstein sofort anzugreifen und mich daran zu hindern, meinen Tharlarionreiter auf Ubars-Wissender neun zu setzen und das Spiel damit siegreich zu beenden, würde ich ihn mit meinem Hausbauer schlagen. Der Spieler würde im Gegenzug den Hausbauer mit seinem Hausbauer schlagen. Allerdings würde der so weit vorgerückte Speerträger dem Schlagabtausch ebenfalls zum Opfer fallen. Ich rechnete daher damit, daß er zuerst den Hausbauer schlug und dann seinen Speerträger ungestraft auf Ubars-Schriftgelehrter eins zum Tarnkämpfer machte. Falls er tatsächlich so handelte, würde es mir den Zug ermöglichen, den ich brauchte, um seinen Heimstein gefangenzunehmen. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Der Spieler hatte sich verrechnet. Der Sieg gehörte noch immer mir!

»Speerträger auf Ubars-Wissender eins«, sagte er und schob den Speerträger unerwarteterweise nicht auf Ubars-Schriftgelehrter eins. Das brachte ihn hinter meinen Heimstein.

»Tharlarionreiter«, sagte er an und ersetzte den Speerträger durch den entsprechenden Spielstein. »Bedrohung des Heimsteins.«

»Ich kann ihn mit meinem Hausbauer schlagen«, sagte ich.

»Allerdings, das mußt du sogar«, erwiderte er. »Du hast keine andere Wahl.«

Ich zog meinen Hausbauer nach links und schlug den neuen Tharlarionreiter auf Ubars-Wissender eins. Er hatte eine kurze Karriere gehabt. Der Spieler hatte keine Möglichkeit, ihn zurückzuerobern. Anscheinend hatte er nichts anderes getan, als seinen neuen Tharlarionreiter unverzüglich und völlig sinnlos in meine Gefangenengrube zu schicken.

Es blieb mir verwehrt, meinen Heimstein nach Ubars-Hausbauer eins, zwei oder drei ausweichen zu lassen, da diese Felder von seinem auf der anderen Bretthälfte stehenden Hausbauer bedroht wurden; Ubars-Hausbauer eins wurde zusätzlich von dem Schriftgelehrten auf Ubaras-Schriftgelehrter vier gedeckt.

»Hausbauer auf Ubars-Hausbauer zwei«, sagte der Spieler.

Ich betrachtete das Spielbrett.

»Gefangennahme des Heimsteins.«

Mein Heimstein war nach Ubars-Wissender zwei gedrängt worden. Dort hatte ihn der Spieler mit Hilfe meiner eigenen Spielsteine in eine Position manövriert, in der er hilflos feststeckte. Dann war der Spieler mit seinem Hausbauer die geöffnete Linie entlanggezogen, hatte auf dem Feld Ubars-Hausbauer zwei haltgemacht und meinen Heimstein gefangen.

»Du bist zu jedem deiner Züge gezwungen worden«, sagte er. »Es gab nie eine Alternative.«

»Das stimmt.«

»Ein klar erkennbares Ubara-Opfer.«

»Klar erkennbar?«

»Natürlich.«

»Ich habe es nicht erkannt«, sagte ich. »Zumindest nicht, bis es zu spät war.«

»Das habe ich bemerkt«, meinte er. »Sonst hättest du schon vor einigen Zügen aufgegeben und dir unter Umständen ein paar peinliche Augenblicke erspart.«

»Ich war der festen Überzeugung, der Gewinner zu sein.«

»Ich glaube, du bist einem völligen Irrtum unterlegen, wer der eigentliche Angreifer war.«

»Offensichtlich.«

»Zweifellos«, stimmte er zu, was er sich meiner Meinung nach hätte sparen können.

»Bist du sicher, daß das Ubara-Opfer klar erkennbar war?«

»Aber sicher.«

»Ich halte es für großartig.«

»Leute wie du, besonders wenn sie sich als Verlierer wiederfinden, preisen die offensichtlichsten Vorgänge hinterher meistens als großartige Strategien.«

»Ich verstehe.«

»Verlier den Mut nicht«, meinte der Spieler. »Als einer derjenigen, die Kaissa nicht spielen können, spielst du sehr gut.«

»Vielen Dank.«

»Keine Ursache. Möchtest du noch eine Partie spielen?«

»Nein. Jetzt nicht.«

»Gut«, sagte er und verstaute die Spielsteine in einem großen Lederbeutel.

»Hättest du Lust auf einen Ringkampf?« fragte ich.

»Nein«, antwortete er durchaus höflich.

»Das Ubara-Opfer war in Wirklichkeit gar kein schlechter Zug, oder?«

»Nein, das war er wirklich nicht. Er war sogar ziemlich gut.«

»Das dachte ich mir.« Ich sah ihm zu, wie er die Spielsteine in dem Beutel verstaute. Er war guter Stimmung. Wie ich mir gedacht hatte, war das Ubara-Opfer alles andere als offensichtlich gewesen. Das erfüllte mich mit einer gewissen Befriedigung.

Dieser Augenblick schien gut geeignet zu sein, mit dem Spieler zu sprechen. Ich hatte schon seit einigen Tagen mit ihm sprechen wollen und nur auf die passende Gelegenheit gewartet, bei der ich das gewünschte Thema ganz zwanglos ansprechen konnte, ohne sein Mißtrauen oder seine Neugier zu erregen. Er zog die Riemen des Beutels zu und verknotete sie. Ja, dieser Augenblick schien wie geschaffen für ein Gespräch zu sein, ich würde es ganz unverfänglich anfangen; es wäre ganz einfach.

»Ich wünschte, ich hätte das Spiel niedergeschrieben«, machte ich den Anfang.

»Ich kann dir die Züge sagen, wenn du willst«, sagte er.

»Aus der Erinnerung?«

»Natürlich. Das ist nicht schwer.«

Ich zog ein paar Seiten Papier und einen Stift aus meiner Gürteltasche. Unter diesen Papieren, auf denen ich die Züge scheinbar notieren wollte, befanden sich die Dokumente, die ich vor so langer Zeit Lady Yanina entwendet hatte.

»Ah, ich verstehe«, sagte der Spieler.

»Was?«

»Muß ich jetzt nicht fragen: ›Was hast du da?‹ Oder kommt das erst später?«

»Ich verstehe nicht.«

»Wir haben bis jetzt ungefähr hundert Partien gespielt. Du warst noch nie daran interessiert, sie niederzuschreiben. Jetzt aber schon. Also frage ich mich nach dem Grund dafür. Jetzt ziehst du Papiere aus deiner Gürteltasche. Auf einigen dieser Seiten sind offensichtlich irgendwelche Kaissa-Spiele notiert worden. Soll ich mich nicht neugierig zeigen? Und willst mir dann nicht, eher beiläufig, ein paar Fragen stellen, die dich beschäftigen?«

»Vielleicht«, sagte ich zögernd.

»Willst du wirklich etwas über das Spiel erfahren?«

»Ich interessiere mich tatsächlich dafür«, versicherte ich. »Aber wie du schon ausgeführt hast, ist es durchaus möglich, daß mich ein anderes Thema bewegt.«

»Es wurden folgende Züge gemacht«, sagte der Spieler und wiederholte sie, wobei er gelegentlich sogar ein paar zusätzliche, hilfreiche Kommentare gab. Bei dem Spiel waren dreiundvierzig Züge gemacht worden. Ich bedankte mich, als er fertig war.

»Keine Ursache«, sagte er. »Und was hat es nun mit den anderen Papieren auf sich?«

Ich reichte sie ihm.

Er blätterte sie durch und sah sie sich kurz an. Anscheinend waren auf ihnen Kaissa-Spiele festgehalten worden, und zwar mehrere Partien oder zumindest Fragmente davon.

»Hast du bestimmte Fragen dazu?«

»Nein, ich habe mir so allgemein meine Gedanken darüber gemacht.«

»Ich nahm an, du hättest sie mir in Zusammenhang mit bestimmten Fragen zum Spiel gegeben«, sagte der Spieler. »Vielleicht hinsichtlich der Analyse einer bestimmten Position oder der Variation einer weniger bekannten Eröffnung. Ich dachte, es würde sich vielleicht um Kaissa-Rätsel handeln, in denen die Gefangennahme des Heimsteins mit einer Anzahl bestimmter Züge gelöst werden muß.«

Ich schwieg, denn ich wollte sehen, was er zu sagen hatte.

»Worum handelt es sich deiner Meinung nach?« fragte er.

»Ich möchte deine Meinung wissen.«

»Ich verstehe.«

»Sind das bestimmte Partien oder nur Teile von Partien?« fragte ich.

»So hat es zumindest den Anschein, oberflächlich betrachtet.«

»Genau.«

»Zweifellos hast du die Positionen rekonstruiert?«

»Ja, das habe ich getan«, gab ich zu.

»Und zu welchem Ergebnis bist zu gekommen?«

»Ich halte es für ziemlich unwahrscheinlich, daß es sich um vollständige oder auch nur Teile von Partien handelt.«

»Da stimme ich dir zu«, sagte er. »Es scheint sich nicht um bestimmte Spiele zu handeln. Es scheint im Gegenteil sogar ziemlich unwahrscheinlich zu sein. Das allgemeine Niveau wäre nicht nur unzumutbar, das meiste scheint blanker Unsinn zu sein.«

»Ich verstehe.«

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich kann dir nicht helfen.«

»Das macht nichts.«

»Woher hast die Papiere?«

»Ich bin zufällig darauf gestoßen.«

»Ich verstehe.«

»Du weißt also nicht, womit man es hier zu tun hat?«

»Es ist ziemlich offensichtlich, worum es sich hierbei handelt.«

»Worum denn?«

»Um einen Kaissa-Code.«

»Was ist ein Kaissa-Code?« fragte ich. Ich hatte natürlich keinen Augenblick lang bezweifelt, daß die Seiten verschlüsselte Botschaften enthielten. In Anbetracht der Wichtigkeit, die Lady Yanina aus Brundisium und ihr Kamerad Flaminius, der vermutlich ebenfalls aus Brundisium kam, ihnen zugemessen hatten, schien dies eine offensichtliche, wenn nicht sogar zwangsläufige Annahme zu sein. Ich hatte natürlich gehofft, daß der Spieler mir helfen könnte, daß ihm der Code oder der Schlüssel vertraut seien.

»Es gibt eine Unzahl von Kaissa-Codierungen«, sagte er. »Die Spielerkaste benutzt sie oft für private Botschaften, aber natürlich kann sie jeder benutzen. Erfunden hat sie wohl die Spielerkaste. Wegen des Gebrauchs von Vielfachen und Nullen sowie mehreren Spielbrettern sind sie oft außerordentlich schwer zu entschlüsseln.«

»Wieso denn mehrere Spielbretter?« fragte ich.

»Siehst du diese Zahlen hier?«

Er deutete auf kleine Zahlen, die bei einigen Seiten am linken Rand notiert worden waren und die anscheinend die Züge aufteilten. Als ich die Seiten das erste Mal studiert hatte, hatte ich sie einfach als Hilfsmittel interpretiert, um die Partien oder Partienfragmente voneinander zu trennen.

»Damit werden vermutlich die einzelnen Bretter angezeigt«, sagte er. »Fangen wir beispielsweise mit einem Kaissa-Brett an, es hat einhundert Felder, die in zehnmal zehn Reihen geordnet sind. Kannst du schreiben?«

»Ja«, sagte ich, obwohl mein alter Freund Torm der Schriftgelehrte bei der unqualifizierten Schnelligkeit und Dreistigkeit meiner Behauptung sicher seine Zweifel zum Ausdruck gebracht hätte. Ich war nie besonders gut darin gewesen, die aufeinanderfolgenden Zeilen der goreanischen Schrift sauber niederzuschreiben, aber ich konnte Goreanisch lesen und es auch – mit leichten Schwierigkeiten – schreiben. Einem Sprichwort zufolge wird das Goreanische so geschrieben, wie der Ochse pflügt. Die erste Zeile wird von links nach rechts geschrieben, die zweite von rechts nach links, die dritte wiederum von links nach rechts und so weiter. Mein Freund Torm hatte mir einmal gesagt, daß die ganze Geschichte im Prinzip ganz einfach sei, man schriebe einfach vorwärts, nur beim Reihenwechsel ›eben in die andere Richtung‹.

»Fang also auf dem ersten Quadrat mit dem ersten Buchstaben eines Wortes oder eines Satzes an«, sagte der Spieler. »Du kannst auch willkürlich ausgesuchte Buchstaben nehmen. Schreib dann weiter wie sonst auch, benutze dabei alle zur Verfügung stehendem Felder. Wenn du zum Ende der Nachricht kommst, listest du alle unbenutzten Buchstaben des Alphabetes nacheinander auf, benutze dabei wieder alle zur Verfügung stehenden Felder. Wenn du damit fertig bist, fängst du wieder mit dem ersten Buchstaben des Alphabetes Al-Ka an und schreibst es immer wieder vollständig nieder, bis du das letzte Quadrat des Brettes erreicht hast. Wenn du dies getan hast, ist ein Brett vollendet, und du nimmst das nächste.«

»Ich glaube, ich verstehe«, sagte ich. »Kommt in einer Botschaft beispielsweise der Satz ›Ubar nach Ubaras-Tarnkämpfer zwei‹ vor, könnte das bedeuten, daß auf dem fraglichen Brett, sagen wir dem siebten von zehn Brettern, das Feld Ubaras-Tarnkämpfer zwei von Bedeutung ist. Auf diesem Brett steht dann dieses Feld beispielsweise für den Buchstaben Eta. Sowohl der Sender als auch der Empfänger können das leicht herausfinden, da beide über den Schlüssel verfügen, um die entsprechenden Bretter zu konstruieren.«

»Genau«, sagte der Spieler.

»Die Auflistung der Züge in einer kontinuierlichen Reihenfolge verrät natürlich die Reihenfolge der Buchstaben in der Botschaft.«

»Richtig«, sagte der Spieler.

»Ich verstehe auch, was die Vielfachen damit zu tun haben. So könnte zum Beispiel der Buchstabe Eta, der am häufigsten vorkommende Buchstabe, auf jedem beliebigen Brett von einer ganzen Reihe geeigneter Quadrate repräsentiert werden, es handelt sich dann jedesmal um ein anderes Quadrat, das Eta entspricht. Man könnte auf dem Brett umherhüpfen und ›Etafelder‹ benennen, wie es einem gerade in den Sinn kommt. Zwischen Sender und Empfänger käme es zu keinerlei Mißverständnissen, solange die verschlüsselte Botschaft in der kontinuierlichen Reihenfolge erfolgt ist.«

»Stimmt.«

»Aber was hat es mit den Nullen auf sich?«

»In meiner Erklärung sprach ich von zur Verfügung stehenden Feldern«, erinnerte der Spieler mich. »Ein Spielbrettcodeschlüssel besteht in der Regel aus einem festgelegten Wort und einer Liste von Null-Feldern. Die Nullen dürfen in der verschlüsselten Botschaft oft vorkommen, aber der Empfänger sondiert sie natürlich sofort aus.«

»Ich verstehe«, sagte ich. Das Vorkommen von Nullen und Vielfachen in einer Botschaft erschwerte die Entschlüsselung ohne Schlüssel zusätzlich.

»Die wahre Macht des Codes liegt meiner Meinung nach nicht einmal im Gebrauch der Vielfachen und Nullen, sondern in dem Gebrauch mehrerer Spielbretter«, meinte der Spieler. »Es ist ohne Schlüssel oft so gut wie unmöglich, selbst kurze, in einfachen Codes ausgedrückte Nachrichten zu entschlüsseln. Man hat einfach nicht genug Material, mit dem man arbeiten kann. Folglich ist auch schwer, wenn nicht sogar unmöglich, einen hypothetischen Schlüssel auszuprobieren. Man kann nicht einfach den einen verwerfen, um so vielleicht andere zu bestätigen. Für eine derartige Botschaft kann man theoretisch zahllose und oft sogar sich widersprechende Analysen erstellen. Die Benutzung mehrerer Spielbretter erlaubt, den Code mehrere Male innerhalb einer Nachricht zu wechseln. Das macht diese Nachrichtenübertragung noch sicherer.«

»Diese Codes scheinen einfach und schlicht zu sein, doch zugleich sind sie nicht zu entschlüsseln.«

»Außerdem ist es nicht nötig, alles in normaler Schriftform auf die Spielbretter zu schreiben. Man kann alle Zeilen von links nach rechts oder von rechts nach links schreiben, man kann sie vertikal aufschreiben, von oben oder unten, man kann an einem vorher festgelegten Punkt ansetzen und von dort spiralenförmig weitermachen. Nach der Nachricht kann man das restliche Alphabet auch rückwärts niederschreiben oder an einem vorher festgelegten Punkt beginnen, oder die Buchstabenreihenfolge umdrehen. Diese Variationen bedürfen nur eines kurzen Zusatzes beim Schlüssel und der Liste der Nullfelder.«

»Ich verstehe.«

»Darum begreifst du jetzt, warum ich dir nicht helfen kann. Es tut mir leid.«

»Aber du hast mir geholfen. Du hast mir eine Vorstellung davon verschafft, womit ich es hier zu tun habe. Ich stehe tief in deiner Schuld.«

»Ohne den richtigen Schlüssel und die Auflistung der Nullfelder sind solche Codes praktischerweise so gut wie nicht zu entschlüsseln.«

»Ich verstehe«, sagte ich. Ich hatte bereits befürchtet daß es schwierig oder gar unmöglich sein würde, die Nachrichten ohne den dazu passenden Schlüssel lesen zu können. Dieser Schlüssel wäre in Brundisium und natürlich in Ar zu finden, falls das tatsächlich der Bestimmungsort der Dokumente war. Nun war es schon wahrscheinlicher, daß die Nachrichten nicht für die Priesterkönige bestimmt waren.

Erstens hatte Flaminius, an den Lady Yanina die Dokumente hatte übergeben sollen, anscheinend nicht beabsichtigt sie an die Sardar weiterzureichen, sondern an eine Person in Ar.

Zweitens erschien es mir ziemlich unwahrscheinlich, daß Nachrichten für die Priesterkönige oder ihre Agenten in einem Kaissa-Code versandt wurden. Solch ein Code schien zu goreanisch für die Priesterkönige zu sein. Soweit mir bekannt war, waren Priesterkönige weder mit dem ›Spiel‹ – wie es die Goreaner oft nannten – vertraut, noch spielten sie es. Ich hatte den Verdacht, daß eine solche Form der Nachrichtenübermittlung eher zu den Agenten der Kurii paßte.

Die Papiere waren mit einem typisch goreanischen Code verschlüsselt worden, was mich auf den Gedanken brachte, daß es eine Verbindung zwischen den Kurii, ihren Agenten, Brundisium und Ar geben mußte. Das wäre durchaus nicht ungewöhnlich, da die beiden Städte angeblich enge Beziehungen pflegten. Dieser Code war eine praktische Art Botschaften auszutauschen in einer Welt, wo man Fremden oft mit Mißtrauen begegnete, in einer Welt, wo es für ›Fremder‹ und ›Feind‹ nur ein Wort gab. Ich hatte den Verdacht, daß die Kurii Brundisium beherrschten oder zumindest dort viel Einfluß hatten. Vielleicht war die Stadt einer ihrer Außenposten oder eine Operationsbasis, so wie es Corcyrus in der jüngeren Vergangenheit gewesen war. Lady Yanina hatte zum Hof des Ubars von Brundisium gehört, einem Kerl namens Belnar. Es war also durchaus möglich, daß – wenn sie in seinem Auftrag unterwegs gewesen war – er mit den Kurii im Bunde stand.

Der Schlüssel für die Botschaften befände sich in dem Palast von Brundisium, möglicherweise sogar in den Privatgemächern des Ubars. Ich verbarg mich vor den Priesterkönigen, und zwar so lange, bis Samos gewisse Dinge mit den Sardar geregelt hatte oder sich neue Entwicklungen ergaben. Ich war nicht erfreut über die Priesterkönige. Ich betrachtete mich nicht länger als einen ihrer Agenten. Bestenfalls hatte ich ihnen in der Vergangenheit gedient, wenn es meinen Absichten entgegenkam. Ich war in ihren Kriegen weniger ein durch Eid gebundener Anhänger als vielmehr ein freier Kämpfer gewesen, eine Art Söldner, der sich nach Lust und Laune einer Sache verschreibt.

Natürlich erkannte ich noch immer an, daß es die Macht der Priesterkönige war, die sowohl Gor als auch die Erde vor dem Angriff der Kurii schützte, die im Inneren ihrer Stahlwelten zwischen den kleinen Welten und Monden des Asteroidengürtels lauerten. Und so war es durchaus nicht verkehrt, daß ich ihrer Sache zumindest wohlwollend gegenüberstand. Falls Brundisium mit den Kurii im Bunde war, würde es nicht schaden, wenn Samos davon erfuhr. Ja, bei längerem Nachdenken erschien es mir nun sogar als ziemlich wahrscheinlich, daß Brundisium mit den Kurii zu tun hatte, daß irgendeine Verbindung zwischen dem Palast in Brundisium und dem Treiben der Bewohner der Stahlweiten bestand. Was aber noch wichtiger war: Ich war neugierig geworden, was den Inhalt der Geheimbotschaften anging. Vielleicht war der nötige Schlüssel in Belnars Privatgemächern zu finden. Vielleicht konnte ich ihnen einen Besuch abstatten. Natürlich wäre es nicht leicht, Zugang zum Palast zu erhalten. Aber möglicherweise ließ sich das irgendwie bewerkstelligen.

Wir waren weniger als fünfhundert Pasang von Brundisium entfernt. Bald müßte ich Lady Yanina in den Vorstellungen eine Haube aufsetzen, damit man sie nicht zufällig erkannte. Vielleicht war es sogar besser, sie an jemanden zu verkaufen, der in die entgegengesetzte Richtung unterwegs war, und sie durch eine Sklavin zu ersetzen, die ich irgendwo kaufte, ein Mädchen, das man ohne Schwierigkeiten mit nach Brundisium nehmen konnte, ein Mädchen, das aus einer anderen Stadt kam und sich dort niemals zurechtfände.

»Du bist in Wahrheit kein Vagabund, oder?« fragte der Spieler.

»Ich bin ein Mitglied der Truppe des Boots Tarskstück, seines Zeichens Schauspieler, Theaterdirektor und Impresario«, erwiderte ich.

»So wie ich auch.«

»Das dachte ich mir.«

»Also belassen wir es dabei«, sagte der Spieler.

»Ja.«

Wir erhoben uns. Es war bald Zeit für das Nachtmahl. Heute abend waren Rowena und Lady Yanina für seine Zubereitung zuständig. Mich amüsierte die Vorstellung, daß sie gezwungen waren, Sklavenarbeiten zu verrichten.

In der Ferne sah ich Boots, der aus einem nahegelegenen Dorf zurückkehrte, wo er Lebensmittel eingekauft und für unsere Vorstellung geworben hatte. Hinter ihm ging gebeugt unter der Last seiner Einkäufe eines seiner Mädchen; Lady Telitsia war nackt und barfüßig, und der Staub der Straße reichte ihr bis zu den Oberschenkeln. Doch dann fiel mein Blick auf Bina, die ebenfalls näher kam. Sie kam vom Fluß, auf den Schultern ein Joch, an dem zwei Eimer baumelten.

»Wie ich sehe, trägst du schwer«, sagte ich zu ihr.

Sie warf dem Spieler einen verächtlichen Blick zu. »Ja«, erwiderte sie. »Ich bin eine Sklavin.« Sie ging weiter zu dem Kochfeuer, an dem Rowena und Lady Yanina fleißig beschäftigt waren. Rowena hatte im Lager die Stellung des ersten Mädchens erhalten. Wir hatten Lady Yanina klargemacht, daß sie, obwohl sie eine freie Frau war, Rowena in allen Dingen gehorchen mußte. Die geringste Widerspenstigkeit Rowena gegenüber oder die Verweigerung eines Befehls hätte eine strenge Bestrafung zur Folge, eine Bestrafung, die so aussähe, als wäre sie selbst eine Sklavin.

»Vielen Dank für die Spiele«, sagte ich. Wir hatten an diesem Nachmittag fünf Partien gespielt. Allerdings hatten vier davon nur wenig Zeit in Anspruch genommen.

»Keine Ursache«, erwiderte er.

»Darf ich dich wirklich nicht dafür bezahlen?«

»Nein.«

»Aber du könntest die Münzen doch gebrauchen.«

»Wir gehören beide zur Truppe des Boots Tarskstück.«

»Das stimmt«, meinte ich lächelnd.

»Schauspieler, Theaterdirektor und Impresario«, fügte er hinzu.

»Genau.«

Boots und Lady Telitsia hatten das Lager fast erreicht. Zweifellos wäre sie froh, bald die schwere Last loszuwerden. Bina stand in der Nähe des Kochfeuers. Sie hatte Wasser für die Töpfe herangeschafft. Lady Yanina kniete unter Rowenas Aufsicht vor einem Kessel voller Wasser und wusch Gartengemüse, in der Hauptsache Zwiebeln, Steckrüben und Suls. Sie waren für einen Eintopf bestimmt.

»Du bist der beste Kaissa-Spieler, dem ich je gegenübergesessen habe«, sagte ich.

»Vermutlich bist du vorher noch nie gegen einen richtigen Spieler angetreten.«

»Ich habe sogar schon mit Mitgliedern der Spielerkaste gespielt.«

Er schwieg.

»Ich glaube, du könntest in denselben Turnieren wie Scormus aus Ar spielen.«

»Gelegentlich habe ich das auch schon getan«, antwortete er.

»Das habe ich mir bereits gedacht.«

»Du hast einen wendigen Verstand.«

»Vielleicht könntest du Scormus bei Gelegenheit sogar schlagen.«

»Das halte ich für wenig wahrscheinlich.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich eigentlich auch nicht.«

»Erwähne Scormus aus Ar nicht in meiner Gegenwart«, sagte er.

»Warum nicht?«

»Scormus aus Ar ist ein Verräter an seiner Stadt.«

»Wieso denn das?«

»Er hat Schande über seine Stadt gebracht und fiel in Ungnade.«

»Wann ist denn das geschehen?«

»Er hat in dem großen Turnier 10125 Contasta Ar gegen Centius aus Cos verloren.«

»Centius ist ein ausgezeichneter Spieler«, sagte ich. Das Turnier, von dem hier die Rede war, war zweifellos das Turnier auf dem Sardar-Jahrmarkt, das im En’kara jenes Jahres stattgefunden hatte. Es war jetzt fünf Jahre her, und ich hatte das Glück gehabt, das Spiel sehen zu können. Centius aus Cos, einer der besten, wenn nicht sogar der beste Spieler Gors, hatte in dieser Partie zum erstenmal die Verteidigung benutzt, die hinterher unter dem Namen Telnus-Verteidigung bekannt wurde. Telnus war Centius’ Heimatstadt und zugleich die Hauptstadt des Insel-Ubarats.

»Das macht keinen Unterschied«, sagte der Spieler.

»Ich denke eigentlich, daß es einen großen Unterschied macht«, sagte ich.

»Nein«, erwiderte er bitter. »Das tut es nicht.«

»Kennst du Scormus aus Ar?« fragte ich ihn.

»Nein«, sagte er wütend. »Ich kenne ihn nicht.«

»Das ist sicher die Wahrheit«, sagte ich. »Ich glaube nicht, daß du ihn kennst.«

»Und ich glaube nicht, daß wir noch einmal zusammen spielen sollten«, sagte er.

»Wie du willst.«

»Bist du noch immer da?« fragte Bina, die vom Kochfeuer kam. Sie trug einen Kessel voll Wasser, den Kessel, in dem Lady Yanina das Gemüse gewaschen hatte. Das Wasser war nun ziemlich verschmutzt, und in ihm schwammen zahllose Gemüseschalen. Vermutlich war Bina unterwegs, um den Kessel außerhalb des Lagers zu leeren.

»Offensichtlich«, sagte der Spieler und sah auf sie hinunter.

»Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst verschwinden.«

»Das habe ich nicht getan.«

»Du achtest also einfach nicht darauf, was man dir sagt?«

»Ich bin ein freier Mann«, erwiderte er. »Es ist mein Recht, ungehorsam zu sein.«

»Nun, ich kann auch ungehorsam sein, wenn ich will«, sagte Bina.

»Eine ungehorsame Sklavin?« fragte ich.

»Ich spreche nicht mit dir«, sagte sie. Boots hatte mittlerweile das Lager erreicht. Ich war davon überzeugt, daß Bina dies nicht wußte. Boots, der in seinen Einkäufen herumgestöbert hatte, sah überrascht auf.

»Ich will dich nicht hier im Lager haben«, sagte Bina zu dem Spieler. »Ich habe dir gesagt, du sollst gehen. Deine Nähe macht uns krank! Du bist so häßlich! Keiner von uns will dich hier haben. Geh! Du ekelst uns alle an. Geh!«

»Du sprichst sehr mutig zu einem freien Mann«, sagte der Spieler. Auch er hatte nicht bemerkt, daß Boots wieder im Lager war. Ich sah ihn zwischen zwei Wagen stehen.

»Du bist ein Ungeheuer«, sagte Bina. »Verschwinde!«

»Du bist anmaßend«, meinte er.

»Ja, ich bin anmaßend«, sagte Bina.

»Ich rate dir nicht, auf diese Weise zu freien Männern zu sprechen«, meinte ich.

Einen Augenblick lang wurde sie bleich, aber als ich keine Anstalten machte, gegen ihr Benehmen einzuschreiten, wandte sie sich wieder trotzig dem Spieler zu. Boots beobachtete alles.

»Ja«, sagte Bina zu dem Spieler. »Ich bin anmaßend! Ich bin anmaßend zu dir! Und zwar ungestraft, denn du bist kein Mann! Du bist zu schwach, um mich zu bestrafen. Du bist nichts weiter als ein Tier, ein Ungeheuer, ein elendes, unterwürfiges, rückgratloses Ungeheuer! Du bist kein Mann! Du bist nur ein Ungeheuer, ein verachtenswerter Schwächling!«

Der Spieler sah sie nur an.

»Verschwinde!« schrie sie außer sich. »Verschwinde!«

»Bist du jetzt fertig?« fragte er.

»Dein Gewand ist staubig«, sagte sie. Das war natürlich der Staub, den sie früher am Nachmittag daraufgetreten hatte. »Ich bin eine Sklavin, laß es mich saubermachen!« Dann schleuderte sie ihm unvermittelt den Inhalt des Kessels entgegen und tränkte sein Gewand von der Brust abwärts.

»Auf die Knie, Sklavin!« brüllte Boots außer sich vor Zorn und trat von hinten an sie heran. »Den Kopf auf den Boden!«

Überrascht schrie Bina auf. Dann ließ sie auf der Stelle den Kessel fallen und nahm die befohlene Haltung ein. »Herr!« rief sie am ganzen Leib zitternd. »Ich wußte nicht, daß du zurück bist.«

»Offensichtlich«, sagte Boots.

»Vergib mir, Herr!« flehte sie. Mittlerweile hatten sich die anderen Mitglieder der Truppe und die Sklavinnen einschließlich Lady Yanina um uns herum versammelt. Lady Telitsia war leichenblaß. Sie hatte eine Hand an den Mund gelegt. Mittlerweile hatte sie gelernt, was es hieß, auf Gor den Kragen zu tragen, und sie fürchtete sich davor, was man mit der ungehorsamen Bina tun würde. Auch Rowena zitterte.

»Was geht hier vor?« fragte Boots.

»Ich schlage vor, du läßt die Sklavin erzählen«, sagte ich.

»Das Ungeheuer hat dich verspottet und vielfach beleidigt, Herr«, sagte Bina schnell. »Ich konnte es nicht länger ertragen! Und so riskierte ich mein Leben, um dem ein Ende zu machen, um deine Ehre zu verteidigen!«

»Ist das wahr?« fragte Boots den Spieler.

Wie durchtrieben dieses kleine Sleen-Weibchen doch war. Sie kannte die Strafe, die ihr möglicherweise für ihre Tat drohte. Jetzt verließ sie sich darauf, daß der Spieler ihre Geschichte bestätigte, um sie vor den schrecklichen Folgen zu bewahren, mit denen sie als hilflose Sklavin mit ziemlicher Sicherheit zu rechnen hatte.

»Stimmt das?« wiederholte der Theaterdirektor die Frage.

»Nein«, sagte der Spieler.

Bina schluchzte entsetzt auf.

»Sprich!« befahl Boots.

»Ich habe mich in Gegenwart freier Männer nicht hingekniet«, schluchzte sie. »Ich habe auf das Gewand eines freien Mannes getreten, ich habe Staub daraufgetreten. Ich war anmaßend.«

»Weiter«, sagte Boots.

»Ich habe einen freien Mann mit Wasser begossen.«

»Sonst noch etwas?«

»Herr?« fragte sie.

»Du erinnerst dich doch sicher, daß da noch etwas war.«

»Ich habe meinen Herrn angelogen«, weinte sie.

»Und hast du diese Dinge unabsichtlich oder absichtlich getan?«

»Mit Absicht, Herr. Gnade!«

»Was sollen wir mit dir anfangen?« fragte Boots. »Sollen wir dich als Sleenfutter verkaufen? Oder dich mit glühenden Zangen quälen?«

»Bitte, Herr«, schluchzte Bina, warf sich auf den Bauch und umklammerte Boots’ Knöchel. »Bitte, Herr!«

»Ich weiß, was ich tun werde. Jemand anders soll entscheiden, wie deine Strafe aussieht«, sagte der Theaterdirektor. »Und zwar derjenige, den du noch mehr als mich beleidigt hast unseren maskierten Freund, der Spieler.«

»Nein, Herr«, jammerte Bina. »Nicht er, bitte, nicht er!«

»Spieler?« fragte Boots.

»Das Gewand wird wieder trocknen«, sagte der Spieler. »Es ist mir gleichgültig. Darum soll sie von mir aus überhaupt nicht bestraft werden.«

Bina schluchzte erleichtert.

»Das kann ich nicht annehmen«, meinte Boots. »Sie muß bestraft werden.«

»Sie gehört dir«, meinte der Spieler. »Mach mit ihr, was du willst.«

»Auf die Knie, Sklavin«, befahl Boots.

Bina gehorchte.

»Der Spieler hat unglaubliche Gnade walten lassen«, sagte Boots.

»Ja, Herr.«

»Ich jedoch werde nicht so gnädig sein.«

»Ja, Herr«, flüsterte sie.

»Hör deine Bestrafung, Sklavin.«

»Ja, Herr.«

»Als erstes wirst du deine Schuhe abgeben.«

»Ja, Herr«, sagte sie erfreut, setzte sich hin und zog sie aus. Dann kniete sie wieder nieder und gab Boots die Pantoffeln. Unter anderen Umständen wäre dies eine passende und demütigende Strafe gewesen, da sie in aller Öffentlichkeit zurückgestuft wurde. Doch bei diesen vielen schwerwiegenden Vergehen war dieser Befehl fast schon lächerlich.

»Ich erwarte, daß du dich besserst«, sagte Boots.

»Ja, Herr«, sagte sie demütig mit gesenktem Kopf.

Aber ich sah ihr durchtriebenes Lächeln. Mit welch einer leichten Strafe war sie davongekommen! Mir entging nicht, wie sie dem Spieler einen verächtlichen, triumphierenden Blick zuwarf. Er war zu weich, zu schwach gewesen, um sich an ihr zu rächen. Und wie erfolgreich waren ihre Versuche gewesen, ihren Herrn zu beschwichtigen! Es hatte den Anschein, als könnte sie tun, was sie wollte, ohne mit einer Bestrafung rechnen zu müssen. Sie hatte gewonnen!

»Da ist noch etwas, Bina«, sagte Boots.

«Ja, Herr?«

»Sieh das Ungeheuer an.«

»Ja, Herr.«

Sie sah das Ungeheuer an. Der in Schwarz gekleidete, maskierte, hochgewachsene Spieler sah mit verschränkten Armen auf sie hinunter.

»Bis auf weiteres gehörst du ihm«, sagte Boots.

»Nein!« schrie Bina außer sich vor Entsetzen. »Nein!«

Die anderen Sklavinnen stöhnten auf.

»Du wirst für ihn kochen, nähen und waschen und alle anderen Pflichten einer Sklavin erfüllen. Du wirst ihm gehorchen, als wärst du seine Sklavin.«

»Bitte, Herr, nein!« schluchzte sie,

»Es ist beschlossen.«

»Vielen Dank«, sagte der Spieler.

»Keine Ursache,«

Bina legte das Gesicht in die Hände und fing hemmungslos an zu weinen.

»Geh, Sklavin, geh in den Wagen deines derzeitigen Herrn«, sagte Boots. »Dort wartest du auf ihn.«

»Ja, Herr«, schluchzte sie, sprang auf und lief zum Wagen des Spielers. Die anderen Mädchen sahen ihr entsetzt nach. Keine von ihnen hätte gedacht, daß die Strafe so aussehen würde.

»Und was den Rest von euch Frauen angeht«, sagte Boots und klatschte in die Hände, »zurück an eure Arbeit.«

Die Mädchen verschwanden aus seiner Sicht, so schnell sie nur konnten.

»Für die Vorstellungen brauche ich sie natürlich«, sagte Boots zu dem Spieler. »Ich hoffe, das ist klar.«

»Selbstverständlich«, erwiderte der Spieler.

Boots wandte sich ab und ging zu seinem Wagen.

»Ich gratuliere«, sagte ich zu dem Spieler.

Er zuckte mit den Schultern.

»Freust du dich denn nicht?«

»Bis jetzt hat sich mein Leben allein um Kaissa gedreht«, antwortete er. »Was soll ich mit ihr?«

»Dir wird schon etwas einfallen«, meinte ich.

Er sah zu seinem Wagen. Die Tür war geschlossen. Das Mädchen würde im Inneren sitzen und ihn erwarten.

»Ja, das stimmt«, sagte er.

Загрузка...