»Herr!« lachte das Mädchen, das anscheinend eine nackte und mit einem Kragen versehene Sklavin war, legte die Arme um meinen Hals und drückte die heißen und süßen Lippen auf meinen Mund.
»Oh!« rief sie aus, als ich über ihre Oberschenkel strich. Sie war tatsächlich eine Sklavin. Das Brandmal befand sich hoch oben auf ihrem linken Oberschenkel, direkt unter der Hüfte. Manchmal verkleiden sich im Karneval freie Frauen als Sklavin und laufen nackt durch die Straßen.
Ich ließ die Hände besitzergreifend über ihren Körper wandern, packte sie unter den Armen, hob sie hoch und drückte sie leicht an mich. Dann erwiderte ich den Kuß. »Herr!« schnurrte sie begeistert. Ich stellte sie wieder ab, drehte sie um und schickte sie mit einem leichten Klaps auf das Hinterteil ihrer Wege. Sie verschwand lachend in der Menge.
»Paga, Freund?« fragte ein Seemann.
Ich nahm einen Schluck Paga aus seinem Bota, er trank einen aus meinem.
Dann trat ich zur Seite und wäre beinahe von einer riesigen Gestalt auf Stelzen über den Haufen gerannt worden.
Ein Bursche neben mir blies mit aller Kraft in sein Horn, und ich zuckte zusammen.
Auf dem größten Platz Port Kars vor der Halle des Kapitänrates hielten sich bestimmt an die fünfzehntausend Menschen auf. Überall standen Buden, Plattformen und Bühnen, die aus buntem Segeltuch und auffallend beschnitztem Holz errichtet, mit flatternden Flaggen und Schildern geschmückt waren und vom Fackel- und Lampenschein erleuchtet wurden. Um sie herum und zwischen ihnen drängten sich wahre Menschenmassen. In der Platzmitte wurden tausend Dinge zum Verkauf angeboten, warteten schier Hunderte von Schauspielbühnen auf Zuschauer. Schwitzende Männer mit nacktem Oberkörper hielten Stäbe mit ölgetränkter brennender Wolle und schienen die Flammen zu schlucken. Jongleure zeigten beeindruckende Kunststücke mit Ringen, Bällen und Stöcken. Spaßmacher liefen umher; Akrobaten wirbelten durch die Menge, vollführten hohe Sprünge und kletterten aufeinander, bis sie – von Gors Gravitation unterstützt – zehn Meter über den Zuschauern schwankten. Ein Mann stand auf einem zwischen zwei Pfosten gespannten Tarndraht und schlug dort Purzelbäume. Ein anderer Gaukler führte einen tanzenden Sleen vor.
Die hübsche Assistentin eines Zauberers, die das Gewand einer freien Frau trug – allerdings ohne Kapuze und Schleier, was die Vermutung nahelegte, daß sie eine Sklavin war –, legte ihren Herrn in Ketten. Dann half sie ihm, in einen Sack zu klettern, der sich wiederum in einer Truhe befand. Als er sich in der Truhe ausstreckte, band sie ihm den Sack über dem Kopf zu. Dann klappte sie die Truhe zu und schob mit großartigen Gesten alle Riegel vor. Zur Krönung warf sie drei Ketten über die Truhe und verschloß sie mit Vorhängeschlössern. Ein Mann aus dem Publikum wurde auf die Bühne gebeten, um die Schlösser zu überprüfen. Er rüttelte daran und versicherte widerwillig, daß sie fest verschlossen seien. Die wunderschöne junge Frau vertraute ihm die Schlüssel an. Dann trat sie in einen in der Nähe stehenden schmalen Schrank.
Ein Trommelwirbel ertönte und wurde immer lauter.
Als er einen Höhepunkt erreicht hatte, brach er jäh ab;
es folgte ein Augenblick überraschender Stille. Die
Schranktür flog auf, und der Zauberer trat lächelnd
heraus, begleitet von überraschten und entzückten
Aufschreien aus dem Publikum, winkte mit den ungefesselten Händen und begrüßte die Menge. Er verschwendete keinen Augenblick, sondern trat zu dem überraschten Burschen mit den Schlüsseln, nahm sie ihm ab und begann die Schlösser aufzuschließen. Im nächsten Moment schob er schon die Riegel zurück und öffnete die Truhe. Das Publikum hielt den Atem an, ahnte, was da nun kam und doch nicht sein konnte. Der Zauberer zog den Sack in eine aufrechte Position. Mir fiel auf, daß er nun mit einem Gefangenenknoten verschnürt war, einem Knoten, mit dem man gewöhnlich Gefangene und Sklaven fesselt.
Der Zauberer öffnete den Knoten. Der Trommelwirbel setzte wieder ein, verstummte jäh, und eine wunderschöne, mit Haube und Sklavenketten versehene nackte Frau sprang auf. Der Zauberer verbeugte sich vor dem Publikum.
Anscheinend war die Vorstellung damit vorbei. Aber nur wenige Münzen landeten auf der Bühne. »Wartet!« rief ein Mann. »Das ist nicht dieselbe Frau!« Der Zauberer schien bestürzt und verwirrt zu sein. Es sah so aus, als könne er es nicht erwarten, die Bühne mit Anstand zu verlassen. »Zeig sie uns! Zeig sie uns!« rief das Publikum. Zögernd, als würde er sich nur mit großem Unwillen dem Zwang beugen, schnallte er die Haube auf. Dann riß er sie mit einer heftigen Bewegung herunter. Sie war es! Es war tatsächlich dasselbe Mädchen! Sie lächelte, schüttelte den Kopf und warf ihre schönen Zöpfe nach hinten. Während die Menge jubelte und ein wahrer Münzregen auf die Bühne niederging, stieg sie mit Hilfe des Zauberers aus dem Sack und trat aus der Truhe. Dann kniete sie sich lächelnd auf die Bühne. Sie trug einen Kragen, wie nun deutlich zu sehen war, jetzt, da sie weder von der Haube noch vom Gewand einer freien Frau verhüllt wurde.
Ich warf eine goldene Tarnmünze auf die Bühne. Die
Sklavin starrte sie erstaunt an. Vielleicht hatte sie noch
nie eine solche Münze gesehen. Damit konnte man mehrere Frauen wie sie erstehen. »Vielen Dank, edler Herr!« rief sie.
»Sie sind geschickt«, meinte ein Mann neben mir.
»Ja«, stimmte ich zu, wandte mich ab und mischte mich wieder unter das Volk.
Der Mann, der die Bemerkung gemacht hatte, trug wie ich keine Maske. Im Karneval sind Masken nichts Ungewöhnliches. Viele Leute trugen sie. Bizarre Kostüme sind in dieser Zeit ebenfalls äußerst populär. Maskeraden und Verkleidungen sind ein wichtiger Bestandteil des Vergnügens am Karneval. Es gibt sogar Kostümparaden; es werden Preise verliehen für die gelungenste Kostümierung, und das in verschiedenen Kategorien. Aber die meisten Leute verkleiden sich nicht, um einen Preis zu gewinnen, sondern nur deshalb, weil Karneval ist und es Spaß macht. So etwas tut man in dieser Zeit ganz einfach.
Vom schlichten Vergnügen am Verkleiden abgesehen bringt einem eine Maskerade meiner Meinung nach auch noch tiefergehenden Gewinn. Zum Beispiel bietet sie Gelegenheit, neue Identitäten auszuprobieren, sie verscheucht die Langeweile und läßt einen den Alltag vergessen, man kann sich von allen möglichen Anspannungen befreien und dergleichen mehr. Außerdem bietet sie Gelegenheit für Scherze und Streiche. Wer zum Beispiel war der Kerl, der einem Paga über den Kopf gegossen hat? Und die freie Frau kann darüber nachgrübeln, wer der Bursche war, der sie so unerwartet und heftig gekniffen hat. Dabei hat sie vielleicht sogar Glück gehabt, daß ihr Schleier nicht hochgeschoben und sie von dem Fremden geküßt wurde. Oder war es vielleicht gar kein Fremder? Und wer sind die Männer in den Gewändern der Ärztekaste, die einander Medizin verabreichen, nach deren Genuß sie anscheinend unter großen Qualen herumhüpfen? Sind es überhaupt Ärzte? Es scheint viel wahrscheinlicher, daß es Holzarbeiter oder Segelmacher aus dem Arsenal sind. Der Karneval mit seinen Freiheiten wird auch oft von Männern und Frauen dazu genutzt, sich auf Affären einzulassen; es finden intime Zusammenkünfte statt, bei denen sich die Partner oft nicht einmal kennen. Übrigens ist das ein schönes Beispiel für einen weiteren Vorteil der Masken; sie verleihen dem Träger nach Wunsch Anonymität,
Auf Gor werden Masken allerdings auch außerhalb des Karnevals benutzt. Man sieht sie oft bei Leuten, die inkognito reisen oder aus bestimmten Gründen an einem bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Zeit nicht erkannt werden wollen. Unter Straßenräubern ist der Gebrauch weit verbreitet. Manchmal durchstreifen maskierte Banden adliger Jugendlicher die Straßen, gewöhnlich auf der Suche nach einem Sklavenmädchen, das für die Vergnügungen des Abends herhalten soll Die Banden niedriger Kasten, die aus ähnlichen Gründen unterwegs sind, benutzten nur selten Masken. Allerdings können sie ihren Aktivitäten relativ offen nachgehen, da sie keinen Skandal zu fürchten brauchen.
»Paga!« rief ein Mann.
Wir tauschten Schlucke aus unseren Botas. Er schwankte weiter.
Kinder liefen vorbei und spielten Fangen.
Mein Blick fiel auf eine Frau, die bis zur Taille nackt war. Um die Hüften hatte sie einen schmalen Stoffstreifen geschlungen. Sie sah mich an und wandte sich dann ab.
An mindestens einem Dutzend Stellen des großen Platzes spielten Musikanten.
Ich entdeckte Tab, einen Kapitän, der einmal meinem Haus angehört hatte und mit dem ich gelegentlich noch Geschäfte tätigte. An seiner Seite war seine Sklavin Midice. Sie klammerte sich an seinem linken Arm fest. Ich rief ihm einen Gruß zu, doch in dem Lärm hörte er mich nicht. Seine Schwertscheide war leer. Genau wie meine auch. Wir hatten die Waffen vor Betreten des Platzes abgegeben.
»Ich muß dich bitten, mir dein Schwert zu geben«, hatte einer der Arsenalwächter gesagt, die heute abend im Dienst waren.
»Nein«, hatte sein Kamerad gesagt. »Erkennst du ihn nicht? Das ist Bosk, der Admiral, Mitglied des Kapitänrates.«
»Vergib mir, Kapitän, Geh, wie du bist.«
»Nein, das ist schon in Ordnung«, hatte ich erwidert und ihm mein Schwert und das Messer überlassen, das ich gewöhnlich bei mir trug, ein Quiva. Das Sattelmesser der Tuchuk war ein ausbalanciertes Wurfmesser. Ich selbst hatte im Rat dafür gestimmt, während des Karnevals die Leute vor dem Betreten des Platzes nach Waffen zu kontrollieren. Es war nur richtig, fand ich, mich einer Regel zu unterwerfen, die ich selbst öffentlich unterstützt hatte.
Plötzlich fiel mir ein, daß ich den Mann, der mich vor der Bühne des Zauberers angesprochen hatte, schon einmal gesehen hatte. Er hatte in der Nähe des Kontrollpunktes gestanden, den ich gerade benutzt hatte.
Die Waffenkontrolle wird folgendermaßen durchgeführt: Man gibt seine Waffe ab, und der Wächter reißt einen an beiden Enden numerierten Papierstreifen in zwei Hälften. Die eine Hälfte verbleibt bei der Waffe, die andere Hälfte erhält ihr Besitzer. Um die Waffe wiederzubekommen, gibt man seinen Schein ab. Ich trug meinen Abschnitt im Geldbeutel. Der Schein besteht aus Rencepapier, das in Port Kar nicht viel kostet, da sich die Stadt in unmittelbarer Nähe des größten Vorkommens der Rencepflanze befindet, des großen Sumpflandes im Voskdelta.
»Kapitän«, sagte da eine Stimme.
Ich drehte mich um.
»Kapitän Henrius?« Er schob grinsend die Maske hoch. Er war es tatsächlich, also hatte ich die Stimme richtig erkannt. Der junge Kapitän Henrius gehörte zur Linie der Sevarii. Er hatte meinem Haus angehört, herrschte aber nun über sein eigenes Haus. In seiner Begleitung war seine Vergnügungssklavin Vina, die einst dem abstoßenden Lurius aus Jad versprochen gewesen war und an seiner Seite auf dem Thron zur Ubara von Cos ausgerufen werden sollte. Jetzt war sie Sklavin in Port Kar. Wegen der bunten Farben, die ihren Körper schmückten, hatte ich sie nicht sofort erkannt. Sie kniete neben Henrius und klammerte sich an seinem Oberschenkel fest, damit sie ihm in der Menge nicht abhanden kam.
»Jemand sucht nach dir«, sagte Henrius.
»Wer?« fragte ich.
»Ich kenne ihn nicht. Er hat vorgeschlagen, daß ihr euch bei den purpurfarbenen Pavillons trefft, und zwar in Nummer siebzehn.«
»Danke«, sagte ich.
Henrius rückte mit einem Grinsen seine Maske zurecht, zog Vina auf die Füße, nahm sie beim Ellbogen und verschwand in der Menge.
Ich sah ihnen nach. Ich mochte beide.
Eine freie Frau, bekleidet mit einem wirbelnden Gewand der Verhüllung und einem Schleier, stellte sich mir in den Weg. »Nimm meine Gunstbezeugung an, bitte!« lachte sie und schwenkte kokett ein Halstuch vor meinem Gesicht herum. »Bitte, du hübscher Bursche, bitte!«
»Gern«, sagte ich lächelnd.
Sie trat nahe an mich heran.
»Hiermit wage ich, eine freie Frau, dir meinen Gunstbeweis zu überlassen, und zwar aus meinem eigenen, freien Willen!«
Sie schob das Halstuch in eine Öse am Kragen meines Gewandes und zog es bis zur Mitte durch. So würde ich es kaum verlieren.
»Vielen Dank, hübscher Herr!« lachte sie. Dann lief sie weiter.
An ihrem Gürtel steckten nun nur noch zwei Halstücher. Üblicherweise beginnt eine Frau dieses Spiel mit zehn Tüchern. Die erste, die alle zehn Gunstbezeugungen an den Mann gebracht hat und wieder am Start ist, hat gewonnen. Ich sah ihr grinsend nach. Es wäre unhöflich gewesen, das Halstuch abzulehnen. Außerdem hatte sie so nett gebettelt.
Natürlich kann sich eine freie Frau eine derartige Kühnheit nur im Karneval erlauben. Das Spiel mit dem Gunstbeweis hat vermutlich eine komplizierte Geschichte, die sich sicher bis zur Erde zurückverfolgen läßt. Das ergibt sich allein schon aus der Tatsache, daß die Gunstbezeugung beziehungsweise das Symbol für die Bezeugung der Gunst traditionellerweise ein Taschentuch oder Halstuch ist. Soviel ich weiß, hat der Champion einer Dame eine derartige Gunstbezeugung bei sich getragen, am Helm befestigt oder in den Kampfhandschuh geschoben.
Es ist nicht schwer, die verborgene Bedeutung einer solchen Gunstbezeugung zu erkennen. Dazu muß man nur wissen, daß sie von freien Frauen aus freiem Willen vergeben werden. Es bedeutet in Wahrheit nichts anderes, als daß eine freie Frau einem Mann ihre Gunst schenkt oder auch verkauft. So offensichtlich diese Erkenntnis im klaren Licht des Verstandes auch ist, wird die freie Frau sie vermutlich erschrocken als entlarvend und skandalös empfinden. Es ist einer jener Fälle, in der eine Sache, die sie lange zu verbergen versucht hat, ihr plötzlich unwiderruflich bewußt wird, vielleicht sogar zu ihrer Verblüffung und ihrem Entsetzen.
Diese Interpretation wird von der Tatsache gestützt, daß bei diesem Wettbewerb die Frau dem Mann ihre Gunstbezeugung überreicht und daß im allgemeinen starke, gutaussehende Männer die bevorzugten Empfänger solcher Halstücher sind. Die Frauen wetteifern darum, die Gunstbezeugungen zu verteilen, und diejenige, deren ›Gunst‹ als erste angenommen wird, hält sich ihren weniger erfolgreichen Schwestern für überlegen, zumindest in dieser Hinsicht. Dieses Spiel verschafft freien Frauen das aufregende, gesellschaftlich anerkannte Gefühl prickelnder Unartigkeit, ohne jeden Zweifel ein Hinweis auf die damit verbundene körperliche Erregung, eine Erregung, die allgemein für unter der Würde einer hochrangigen freien Frau gehalten wird.
Kurz gesagt, das Spiel der Halstücher erlaubt freien Frauen auf gesellschaftlich anerkannte Weise, ihre körperlichen Bedürfnisse zumindest zum Teil zu befriedigen, wenn auch nur durch eine symbolische Handlung. Es kommt allerdings vor, daß auf diese Weise interessierten Männern Anträge gemacht werden.
Die Frau mit dem Sklavenkragen, die bis zur Taille nackt war und nur ein Stück Stoff um die Hüften geschlungen hatte, kam wieder zum Vorschein. Als sich unsere Blicke trafen, sah sie schnell zur Seite.
Ich trat einen Schritt auf sie zu, sie wandte sich erschrocken ab und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Ich folgte ihr, schlug jedoch einen Bogen um sie herum. Wie erwartet blieb sie ein paar Augenblicke später stehen und drehte sich um, um zu sehen, ob ich sie noch verfolgte. Sie blieb unsicher stehen. War sie nun verfolgt worden oder nicht? Sie konnte es nicht sagen. Plötzlich trat ich hinter sie und zog sie mit dem Rücken an mich. Sie kam nicht von mir los. Sie war so hilflos, als wäre sie in den Käfigen von Tyros eingesperrt.
»Herr?« fragte sie ängstlich und versteifte sich.
»Du bist eine Sklavin, richtig?«
»Ja, aber natürlich.«
»Aber natürlich was?«
»Aber natürlich, Herr!« sagte sie.
»Du hast hübsche Brüste.«
»Vielen Dank, Herr«, flüsterte sie.
Ich ließ meine Hand über ihren Körper gleiten, gab sie dabei aber nicht frei.
»Du hast einen schönen Körper«, sagte ich. »Ich glaube, du würdest auf dem Sklavenblock einen guten Preis erzielen.«
»Tatsächlich?« fragte sie erfreut.
»Ja. Aber was soll dieses Tuch um deine Hüften? Nach der Qualität zu urteilen, ist es viel zu gut, um einer einfachen Sklavin zu gehören.« Ich griff nach den Bändern an der linken Hüfte.
»Nicht öffnen«, bettelte sie. »Bitte.«
Ich hielt inne. »Heute abend sind bestimmt zahllose Sklavenhändler auf dem Platz«, sagte ich. »Wenn du keinen Kragen haben willst, solltest du ihn nicht herausfordern.«
»Da ich nur eine einfache Sklavin bin«, sagte sie, »begreife ich nicht, was der Herr damit meint.«
Sie schrie auf, als ich sie halb herumzwang und ihr dabei das Tuch von den Hüften riß.
»Anscheinend hat dein Herr vergessen, dir ein Brandmal zu geben.«
Sie riß mir das Stück Stoff aus der Hand, legte es sich wütend wieder um und befestigte es.
»Bring mich zum Lustgestell«, sagte sie plötzlich mit unerwarteter Kühnheit.
»Du bist eine freie Frau«, erwiderte ich. »Geh allein hin.«
»Niemals! Du weißt, daß ich das nicht kann!«
»Herr!« sagte da eine Stimme. »Ich bin eine Sklavin. Bring mich zum Lustgestell!«
Ich sah nach unten. Zu meinen Füßen kniete eine nackte Sklavin auf den Steinplatten des Platzes.
»Ich habe deinen Kuß nicht vergessen«, sagte sie. »Bring mich zum Lustgestell, ich bitte dich!«
Ich erinnerte mich wieder an sie. Es war die Sklavin, die mich früher am Abend umarmt und geküßt hatte. Ich hatte den Kuß erwidert, in der Art und Weise eines Sklavenherrn.
»Ich habe nach dir gesucht«, sagte sie.
Die freie Frau schrie wütend auf.
Ich zog die Sklavin auf die Füße, hielt sie am Arm fest und wandte mich von der freien Frau ab.
Sie schnappte nach Luft; man hatte ihr eine Sklavin vorgezogen, und sie fühlte sich zurückgewiesen und gedemütigt.
Das Sklavenmädchen hielt sich an meinem Arm fest, und ich erlaubte es, damit sie mir in der Menge nicht abhanden kam.
»Das ist aber nicht der Weg zu den Lustgestellen«, sagte sie.
»Du mußt geduldig sein«, sagte ich.
»Ja, Herr«, stöhnte sie und drückte sich enger an mich. Sie würde geduldig sein, was blieb ihr anderes übrig.
Ich blieb vor einer Bühne stehen, um mir ein Stück einer Farce anzusehen.
Das Mädchen, das die Rolle der schönen Kurtisane spielte, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Rowena, die ich vor drei Abenden in Samos’ Haus kennengelernt hatte. Sie hatte die gleiche Figur, die gleichen langen blonden Zöpfe. In der klassischen goreanischen Komödie trägt die schöne Kurtisane immer eine Maske; das gilt übrigens auch für Tragödien. Beim klassischen Drama werden alle Frauenrollen von Männern gespielt, was meiner Meinung viel mit der Tradition zu tun hat. Die Goreaner lassen keine Frauen auf die Bühne – zu Unrecht, wie ich finde. Einige sind der Ansicht, daß diese Praxis auf der Tatsache beruht, daß Frauenstimmen in Theatern unter freiem Himmel weniger weit als Männerstimmen tragen. Zieht man jedoch die ausgezeichnete Akustik der meisten dieser Theater in Betracht, in denen eine auf der Bühne fallengelassene Münze noch auf den obersten Rängen deutlich zu hören ist, liegt das Frauenverbot wohl eher in der Tradition oder der Eifersucht begründet als in der Akustik. Außerdem sollte man erwähnen, daß viele der dramatischen Masken über eine Art eingebaute Stimmverstärker verfügen, die die Stimme des Schauspielers unterstützen.
Bleiben die Frauen aus den hohen dramatischen Künsten auch ausgeschlossen, sind sie indessen in der Vielzahl der volkstümlichen Formen des Theaters wie dem Lustspiel, der Burleske, dem Possenspiel, der Farce oder dem Geschichtentanz mehr als angemessen vertreten. Natürlich handelt es sich gewöhnlich um Sklavinnen. Die freien Frauen halten die berufsmäßige Bühnenarbeit und besonders die Darbietung in den volkstümlicheren Formen für unaussprechlich widerwärtig und ungehörig; allein bei dem Gedanken, eine Bühne zu betreten, täuschen sie Entsetzen vor. Wäre es nicht eine schreckliche Sache, sich auf solch skandalöse Weise aller Welt zu zeigen? Das mochte nicht viel anders sein, als öffentlich bei einer Sklavenauktion zur Schau gestellt zu werden. Gewöhnlich wohnen freie Frauen Theatervorstellungen nur inkognito bei.
Wie bereits erwähnt tragen die Schauspieler beim klassischen Drama üblicherweise Masken; bei den volkstümlichen Theaterformen wie dem Possenspiel oder dem Ausdruckstanz verzichtet man darauf, es sei denn, die Handlung verlangt danach. Die Farce ist ein interessantes Zwischending, da einige ihrer Charaktere Masken tragen und andere wiederum nicht. Der lächerliche Vater und der Pedant, der gewöhnlich als Schriftgelehrter dargestellt wird, tragen ebenso wie der furchtsame Kapitän eine Maske, während die jungen Liebenden, die schöne Kurtisane, die begehrenswerte Erbin und andere darauf verzichten. Bei einigen Rollen wie den Dienern oder Mägden kommt es auf die Theatertruppe an, ob sie maskiert sind oder nicht. Viele Charaktere sind feststehende Figuren. Dem Zuschauer begegnen immer wieder reiche Kaufleute, betrunken torkelnde Soldaten, Wahrsager, Schnorrer, Bauern und Sklaven.
Das goreanische Publikum ist mit diesen Typen vertraut und heißt sie immer wieder willkommen. Zum Beispiel der reiche Kaufmann und der gerissene Bauer. Das Publikum kennt sie aus zahllosen Vorstellungen Dutzender Stücke und Farcen, von denen viele aus bestimmten Standardsituationen heraus improvisiert werden. Die Zuschauer kennen sogar Manierismen und Dialekte. Wer ließe den lächerlichen Vater ohne seinen turianischen Akzent, die begehrenswerte Erbin ohne den sanften Akzent Vennas durchgehen, einer Stadt nördlich von Ar? Was wäre der furchtsame Kapitän ohne den wilden Schnurrbart unter der Halbmaske mit der langen Nase, den er immerzu zwirbelt, oder das prächtige Holzschwert, das er hinter sich herzieht? Selbst Gesten und Grimassen sind wohlbekannt und werden ungeduldig erwartet. Diese Vertrautheit verschafft dem Schauspieler natürlich eine solide Ausgangsbasis, auf der er aufbauen kann. Die Figur ist allseits vertraut, noch bevor sie dem Publikum in der Parade der Darsteller zu Anfang der Vorstellung gegenübertritt; man erwartet sie voller Zuneigung und Vergnügen. Insofern ist es erstaunlich, daß sich der Kaufmann des einen Schauspielers vom Kaufmann des anderen Schauspielers überhaupt unterscheidet. Irgendwie gelingt es den Künstlern, der vorgegebenen Rolle und den traditionell mit ihr verbundenen Erwartungen ihren Stempel aufzudrücken und sie einzigartig zu machen. Es ist meine feste Überzeugung, daß letztlich jede Kunstform kreativ ist.
»Bitte, Herr«, jammerte das Mädchen an meiner Seite.
An der einen Seite der Bühne standen zwei Mädchen und warteten. Nach der Kürze ihrer glockenförmigen Röcke, deren Form sicherlich ein darunter befindliches Reifrockgestell bestimmte, und den kurzen Pluderärmeln zu urteilen, stellten sie vermutlich die frechen Zofen dar, in diesem Fall eine Bina und eine Brigella. Die Brigella war wunderschön. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß ich, falls ich die Röcke etwas hochschob, Sklavenbrandzeichen entdecken würde. Es ist übrigens Sitte, daß die Sklavinnen ihre Rollennamen als Sklavennamen übernehmen. So wird die Brigella auch hinter der Bühne Brigella gerufen.
Die Röcke sind absichtlich so gefertigt, daß sie verrutschen. Das macht man sich in allen möglichen Szenen zunutze. Zum Beispiel läßt ein tolpatschiger Diener eine Larma nach der anderen von seinem Tablett fallen, die das Mädchen dann nacheinander in vornübergebeugter Stellung aufhebt – während ein anderer Diener genau hinter ihr steht. Während das Mädchen die beiden Diener für ihre Ungeschicklichkeit tadelt, tauschen die ihre Plätze und wiederholen zur Verzweiflung des Mädchens das Mißgeschick. Der Rock kann auch von dem gerissenen Bauern hochgeschoben werden, der angeblich einen verlorengegangenen Ochsen sucht. Das Publikum hat natürlich denselben angenehmen Ausblick wie der glückliche Diener oder der gerissene Bauer.
Neben den Mädchen stand ein ziemlich dicker, mürrisch aussehender Bursche mit langen Koteletten und einer krempenlosen Mütze. So wie es aussah, verhandelte ein Segelmacher mit ihm um die schöne Kurtisane. Der Dicke schüttelte den Kopf. Er wollte sie wohl nicht während einer laufenden Vorstellung von der Bühne weg verkaufen. Der Segelmacher wollte warten. Doch dann schien sich der Dicke zu entschließen, das Mädchen zu behalten, obwohl er offensichtlich versucht gewesen war, das Geschäft zu machen. Zweifellos brauchte er das Geld, aber was sollte er ohne schöne Kurtisane anfangen? Vermutlich spielte sie ebenfalls die Rolle der begehrenswerten Erbin, was oft vorkommt. Ich sah wieder zur Bühne. Die schöne Kurtisane hatte anscheinend nicht mitbekommen, daß sie beinahe den Besitzer gewechselt hätte.
Der Dicke betrachtete nun leicht besorgt die Menge. Bina und Brigella schienen ebenfalls beunruhigt zu sein.
Ich konzentrierte mich wieder auf das Geschehen auf der Bühne.
Die schöne Kurtisane wandte das Gesicht ab und täuschte Gleichgültigkeit vor, was die Werbung des lächerlichen Vaters und des Pedanten anging. Lecchio und Chino, zwei Diener, waren ebenfalls anwesend. Chino, für gewöhnlich der Diener des Vaters oder des Kaufmanns, ist geschmeidig und durchtrieben; er trägt eine schwarze Halbmaske mit geschlitzten Augenlöchern sowie eine mit rotgelbem Rautenmuster versehene Trikothose und ein Oberteil. Lecchio, der Diener des Pedanten ist klein und fett, ein hilfloses Opfer von Chinos Streichen, das aber auch genausooft bei ihnen mitmacht. Er trägt eine braune Tunika mit einer Kapuze, die er sich manchmal über den Kopf zieht, um seine Verlegenheit zu verbergen.
Auf der Bühne nahm die Farce ihren Lauf. Die Handlung geht wie folgt: Der lächerliche Vater und der Pedant führen ihre Werbung fort. Chino und Lecchio hecken etwas aus. Chino versetzt dem lächerlichen Vater einen Tritt, sieht dann fort und studiert angestrengt die Wolken am Himmel. Kurz darauf tritt Lecchio den Pedanten. Das wiederholt sich einige Male. Bald streiten sich Vater und Pedant wütend, da beide ihren Nebenbuhler für den Angreifer halten. Es scheint, als werde es zum Kampf kommen. Chino und Lecchio weisen ihre Herren darauf hin, daß bei dem Kampf ihre kostbaren Gewänder beschmutzt werden und ihre Geldbörsen verlorengehen könnten. Der Vater und der Pedant geben Gewänder und Geldbeutel ihren Dienern und beginnen einander zu beschimpfen und an den Bärten zu ziehen. Die Diener schlüpfen natürlich auf der Stelle in die Gewänder und stolzieren vor der schönen Kurtisane auf und ab, wobei sie die Geldbeutel an ihren Verschlußbändern umherwirbeln. Die Kurtisane hält die beiden für reiche Freier und geht mit ihnen davon. Der Vater und der Pedant, die ohne Gewänder und Geldbeutel dastehen, entdecken bald darauf den Trick. Mit einem Aufschrei nehmen sie die Verfolgung der Diener auf.
»Bitte bring mich zum Lustgestell, Herr«, bettelte das Mädchen.
»Gleich«, sagte ich.
Die nächste Vorstellung, die sofort im Anschluß folgte, war eine Farce, bei der es um einen Liebestrank ging. Hier waren die Hauptdarsteller die schöne Kurtisane, Chino, der Kaufmann und der Pedant. Der Kaufmann wurde von dem Dicken gespielt, den ich eben gesehen hatte. Der Pedant war diesmal kein Mitglied der Schriftgelehrtenkaste, sondern ein Arzt. Um die Sache abzukürzen, die Handlung geht wie folgt: Der Kaufmann will der schönen Kurtisane einen Besuch abstatten und schickt Chino aus, einen Liebestrank zu kaufen. Chino kauft beim Arzt natürlich keinen Liebestrank, sondern ein starkes Abführmittel. Der Kaufmann nimmt den Trank und besucht zusammen mit Chino die schöne Kurtisane. Wie vorauszusehen ist, muß der Kaufmann seine Annäherungsversuche ständig unterbrechen, die, wie könnte es anders sein, schwerfällig und plump sind und der Kurtisane nicht sonderlich zusagen, und schnell zum Bühnenrand eilen, wo praktischerweise ein großer Topf steht. In der Zwischenzeit versichert Chino auf übertriebene Weise der Kurtisane, daß der Kaufmann ein erfahrener Liebhaber sei. Er ist darin so erfolgreich, daß die Kurtisane bald vor Erregung bebt und den Kaufmann zu sich ruft, der begierig angelaufen kommt, jedoch gezwungenermaßen erneut zum Topf zurück muß. Chino beruhigt die verunsicherte und verwirrte Kurtisane. Bald demonstriert er mit Liebkosungen und Küssen – alle im Namen des Kaufmanns –, wie geschickt sich sein Herr anstellen werde. Die Kurtisane wird immer erregter. Da kommt der Arzt, um sich des Erfolgs seines Trankes zu versichern. Seine Unterhaltung mit dem Kaufmann bietet ausreichend Gelegenheit für Doppeldeutigkeiten und Mißverständnisse. Der Arzt den es erstaunt, daß sein Trank noch nicht die gewünschte Wirkung gezeigt hat, versichert dem Kaufmann, der auf dem großen Topf sitzt, daß es nun nicht mehr lange dauern kann, bis der Trank wirkt, und verabschiedet sich. Der Kaufmann ist jedoch zu der Überzeugung gelangt, daß das nicht sein Tag ist, und schleicht mit dem Topf nach Hause. Chino grinst und zuckt mit den Schultern. Dann wirft er sich auf die schöne Kurtisane. Schließlich ist ja für die Zeit bezahlt worden.
Einen Augenblick später traten die Schauspieler wieder auf die Bühne und verbeugten sich. Ihnen zur Seite standen auch die Darsteller der früheren Farcen, gewöhnlich in Gruppen zu vier oder fünf Mann. Einige Tarskstücke landeten auf der Bühne. Der Chino und der Lecchio sammelten sie ein. Bina und Brigella gingen mit Kupferschüsseln durch das Publikum. Sie waren beide sehr hübsch; wie die anderen Schauspielerinnen einer kleinen Theatertruppe arbeiten diese Mädchen gewöhnlich noch als Zeltmädchen. So spart die Truppe Kosten ein. Ich legte Brigella ein Tarskstück in die Schüssel. »Vielen Dank, Herr«, sagte sie.
Der Dicke hatte sich seines Kaufmannskostüm entledigt und verkündete dem Publikum nun mit wabbelndem Bauch, daß noch in dieser Ahn eine neue Runde Farcen gespielt würden. Sein Blick verfinsterte sich einen Augenblick lang; ich sah in die betreffende Richtung und entdeckte den möglichen Grund für seine Sorge. Im Publikum stand ein Beamter des Herrn der Lustbarkeiten mit zwei Männern der Ratswache an der Seite.
Ich zog das Mädchen auf die Füße. »O ja«, hauchte sie und drückte sich an mich. »Bring mich zum Lustgestell.«
»Noch nicht«, erwiderte ich und kaufte von einem umhergehenden Händler einen kleinen Kuchen. »Iß das, aber laß dir Zeit.«
»Ja, Herr.«
Ich ging in Richtung Bühne, die Sklavin im Schlepptau.
Etwa einen oder zwei Meter vor dem Bühnenanfang blieb ich vor einer Kaissa-Bude stehen.
Eine hochgewachsene Gestalt ging vorbei. Sie hätte ebensogut von einer der langen, schmalen, überdachten Schauspielbühnen Ars heruntersteigen können, auf denen das klassische Drama inszeniert wird. Sie trug Cothornoi, stelzenähnliche hohe Stiefel, ein langes Gewand, dessen Schultern so gepolstert waren, daß sie eine enorme Schulterbreite andeuteten, eine bemalte große Leinenmaske mit übertriebenen Gesichtszügen, die den ganzen Kopf verhüllte, und den Onkos, einen eindrucksvollen hohen Kopfschmuck. Solche Kostüme werden häufig von den Hauptcharakteren klassischer Dramen getragen. Die übertriebene Größe soll ihrer Wichtigkeit angemessen sein. Die Kostüme sind so gemacht, daß sie auf jeden Fall größer als das Leben selbst aussehen. Ich wußte nicht, ob der Mann ein Schauspieler war oder nur jemand, der dieses Kostüm im Karneval trug. Als er weiterging, fiel mir auf, daß die Maske am Hinterkopf einen anderen Ausdruck zeigte. Das findet man bei wenigen Masken; es ermöglicht, den Ausdruck zu wechseln, ohne eigens einen Maskenwechsel vornehmen zu müssen.
Ein Flaschenzugmacher, den ich aus dem Arsenal kannte und der der Kaissa-Champion des Arsenals war, stand von dem Kaissa-Brett der Bude auf. »Ein wunderbares Spiel«, sagte er und rieb sich verwundert den Kopf. »Ich wurde gedemütigt. Ich wurde am Boden zerstört. Ich weiß nicht einmal, wie er es gemacht hat. Er hat es in vierzehn Zügen geschafft! Er hat in vierzehn Zügen drei Steine gefangengenommen und hätte im nächsten Zug den Heimstein gehabt! Vielleicht waren es verbotene Züge. Vielleicht habe ich nicht alles gesehen, was er getan hat!«
»Versuch es noch einmal«, ermunterte ihn der Dicke, der mit der Bühne zu tun hatte und dem anscheinend auch die Kaissa-Bude gehörte. »Vielleicht wird sich dein Glück ändern!«
Aber der Flaschenzugmacher verschwand in der Menge.
»Warum hast du das getan?« fragte der Dicke den Mann hinter dem Spielbrett.
»Er dachte, er könnte Kaissa spielen«, sagte der Spieler.
»Wieviel hast du heute abend eingenommen?« fragte der Dicke wütend und deutete auf das verschlossene Kupferkästchen mit dem Münzschlitz in der Mitte, das an dem niedrigen Kaissa-Tisch festgekettet war.
Der Spieler ordnete die Spielsteine.
Der Dicke nahm das Kästchen, schüttelte es und versuchte, seinen Inhalt zu schätzen. »Vier, fünf Tarskstücke?« fragte er. Nach dem Klang der in dem Kästchen umherfliegenden Münzen zu urteilen, konnten es nicht viele sein.
»Drei«, sagte der Spieler.
»Du hättest ihn mindestens zwanzig Züge spielen lassen können!«
»Dazu hatte ich keine Lust.«
Interessanterweise trug der Mann hinter dem Spielbrett ein schwarzes Gewand und eine kapuzenähnliche Maske, die den ganzen Kopf verhüllte, und nicht das rotgelbkarierte Gewand der Kaste der Spieler. Also gehörte er der Kaste nicht an. Hätte er zu den Spielern gehört, hätte er zweifellos das Kastengewand getragen, denn die Mitglieder sind sehr stolz auf ihre Kaste. Doch wie ich eben gehört hatte, mußten seine Fähigkeiten beträchtlich sein. Anscheinend war der Arsenal-Champion, einer der besten zwanzig oder dreißig Spieler von Port Kar, kein Gegner für ihn gewesen. Vielleicht hatte er ja verbotene Züge benutzt. Das schien wahrscheinlicher zu sein als die Tatsache, daß ein Mann wie er, der mit Schauspielern und Gauklern zu tun hatte, den Arsenal-Champion geschlagen hatte. Andererseits war Karneval. Vielleicht war der Champion betrunken gewesen.
»Wenn das Spiel für die Herausforderer nicht verlockend ist, wenn sie nicht der Überzeugung sind, daß sie ernsthaft spielen, werden sie kein zweites oder drittes Spiel wollen«, sagte der Dicke. »Sie sollen aber zurückkommen! Sie sollen sich um das Brett drängeln! So verdienen wir unser Geld!«
Gewöhnlich kostet ein Spiel einen Betrag in der Spanne zwischen einem Tarskstück und einem Kupfertarsk. Gewinnt der Herausforderer, kostet das Spiel gar nichts. Manchmal nagelt man einen Kupfertarsk oder sogar einen Silbertarsk an eine der Stützsäulen der Bude. Die kann der Herausforderer bei einem Sieg gewinnen; erspielt er ein Unentschieden, ist das Spiel kostenlos. Das ist so üblich, weil ein geübter Spieler allein durch klugen Schlagabtausch und durchdachte Plazierungen ein Unentschieden erringen kann. Natürlich ist mit einem Spiel auf Unentschieden ein wesentlich geringeres Risiko verbunden. Konservative Spieler, die in einem Turnier vorn liegen, benutzten diese Strategie – oftmals zur Wut der Zuschauer und ihrer Gegner –, um ihren Vorsprung zu schützen. Ein Sieg ergibt einen Punkt, bei Gleichstand erhält jeder Spieler einen halben Punkt.
»Du mußt auch einmal verlieren können«, sagte der Dicke. »Dann kommen sie zurück. Und so werden wir, auf lange Sicht gesehen, auch mehr Geld verdienen!«
»Ich spiele, um zu gewinnen«, sagte der Spieler und sah auf das Brett.
»Ich möchte wissen, warum ich mir das von dir gefallen lasse! Du bist nichts anderes als ein Handlanger und Vagabund!«
Ich sah mir die Stellung der Spielsteine an. Der Maskierte hatte keine Eröffnungsposition als Ausgangsbasis benutzt; er hatte die Vierecke direkt so plaziert, wie sie jetzt auf dem Brett lagen. Irgend etwas an dieser Stellung kam mir bekannt vor. Plötzlich erkannte ich, daß ich sie schon einmal gesehen hatte. Diese Stellung erreichte man mit dem siebzehnten Zug des Ubaras-Gambit. Der gelbe Heimstein mußte dabei auf Ubaras-Hausbauer eins stehen, vorausgesetzt, Rot war beim elften Zug von der Hauptlinie abgewichen und zur turianischen Linie übergewechselt. Normalerweise läßt man an diesem Punkt Ubaras-Wissender-Speerträger vorrücken, um den Angriff zu unterstützen, der auf die angrenzende Linie des gegnerischen Ubaras-Hausbauer ausgeübt wird. Der Spieler war jedoch mit Ubars-Wissender-Speerträger in einer 2-Zug-Option vorgerückt, was den Stein auf Ubars-Wissender fünf gebracht hatte. Ich fragte mich, ob er überhaupt etwas von Kaissa verstand. Doch plötzlich sah ich den Zug in einem anderen Licht. Er würde einen zweiten Angriff in Gang setzen, durch den Gelb dazu gezwungen wäre, die Spielsteine an die Seite des Ubars zu holen. Damit würde die Linie des Ubaras-Hausbauers noch weiter geschwächt, was sie für den Angriff noch verletzlicher machte. Es war ein interessantes Konzept. Ich fragte mich, ob man es je ernsthaft durchgespielt hatte.
»Du mußt lernen zu verlieren!« sagte der Dicke.
»Ich habe verloren«, antwortete der Maskierte. »Ich weiß, wie das ist.«
»Was ist mit dir?« wandte sich der Dicke an mich. »Spielst du Kaissa?«
»Ein wenig«, gab ich zur Antwort.
»Dann riskier ein Spiel. Kostet nur ein Tarskstück!« Er warf dem Spieler einen bedeutungsvollen Blick zu, richtete die Aufmerksamkeit dann wieder auf mich. »Ich kann so gut wie garantieren, daß du gewinnst.«
»Warum ist dein Spieler maskiert?« fragte ich. Es schien keine für den Karneval angebrachte Verkleidung zu sein.
»Es hat etwas mit seiner Kindheit zu tun – oder zumindest der Zeit kurz danach«, sagte der Dicke und erschauderte. »Da war ein großer Brand. Der hat ihn zu dem gemacht, was er jetzt unter der Maske ist. Er ist ein verunstaltetes Ungeheuer. Freie Frauen würden bei seinem Anblick in Ohnmacht fallen. Starken Männern würde es den Magen umdrehen. Sie würden aufschreien und ihn erschlagen. Solch einen schrecklichen, grotesken Anblick darf man in der Öffentlichkeit nicht zur Schau stellen.«
»Ich verstehe.«
»Nur ein Tarskstück«, wiederholte der Dicke.
»Du brauchst nicht zu fürchten, daß du verlierst«, sagte der Maskierte voller Wut und stellte die Steine neu auf. Dann entfernte er anmaßenderweise Ubar, Ubara, Hausbauer und Ärzte vom Brett, insgesamt sechs seiner stärksten Spielsteine. Er sah mich wütend an und warf noch seine Tarnkämpfer in den Lederbeutel, der an der Tischseite hing. Dann drehte er das Brett herum, so daß ich Gelb und den ersten Zug hatte. So blieb mir die Initiative und die von mir bevorzugte Eröffnung überlassen. »Mach deinen ersten Zug«, sagte er. »Ich werde dann meinen Ubar umkippen, und du hast das Spiel gewonnen.«
»Kannst du nicht etwas feinsinniger vorgehen?« beschwerte sich der Dicke.
»Unter solchen Bedingungen spiele ich nicht«, sagte ich.
»Warum denn nicht?« fragte der Dicke gequält. »Du könntest ehrlich behaupten, gewonnen zu haben. Es muß doch keiner wissen, unter welchen Umständen.«
»Es wäre eine Beleidigung für das Kaissa«, sagte ich.
»Er hat recht«, meinte der Vermummte.
Das Sklavenmädchen sah zu mir hoch, noch immer mit dem Kuchen beschäftigt. »Bitte, Herr!«
»Wage ein Spiel«, schlug der Dicke vor.
Ich sah dem Sklavenmädchen in die Augen. Sie sah zu mir hoch und leckte langsam und sinnlich den Zuckerguß von dem Kuchen.
»Ich habe ein anderes Spiel vor«, entgegnete ich.
Sie sah zu mir auf, Zucker und Krümel am Mund, erhob sich und küßte mich. »Ich will dich lieben«, sagte sie. Ich schmeckte den Zucker auf ihren Lippen.
»Das kann ich verstehen. Es ist schön, eine nackte Sklavin im Arm zu halten«, sagte der Dicke. »Aber der Bursche hier« – er zeigte auf den Spieler –, »der ist anders. Er lebt allein für das Kaissa. Er berührt keine Frau. Was sicher auch gut ist. Bei seinem Anblick fielen sie vermutlich sofort in Ohnmacht.«
»Willst du nun spielen oder nicht?« fragte der Spieler.
»Unter den Bedingungen, die du vorgeschlagen hast, würde ich nicht einmal einen Sieg annehmen, wenn du Centius aus Cos wärst.« Centius aus Cos war der vielleicht beste Kaissa-Spieler Gors. In den letzten fünf Jahren hatte er dreimal das En’Kara-Turnier gewonnen. Einmal hatte er aus Studiengründen nicht teilgenommen, und zwar 10127 C.A. Der Sieg hatte Terence aus Turia gehört. 10128, C.A. war Centius wieder dabeigewesen, jedoch von Ajax aus Ti von der Salerianischen Konförderation geschlagen worden. 10129 C.A., dem letzten En’Kara, hatte Centius Ajax eindeutig geschlagen und den Championtitel zurückgewonnen.
Bei der Erwähnung des Namens Centius aus Cos hatte sich der Spieler ärgerlich versteift. »Ich versichere dir, ich bin nicht Centius aus Cos«, sagte er, schob die restlichen Spielsteine in den Lederbeutel, band ihn sich an den Gürtel, klemmte sich das Spielbrett unter den Arm und hinkte davon.
»Es ist noch früh am Abend!« rief ihm der Dicke hinterher. »Wo gehst du hin?«
Aber der maskierte Spieler war bereits zwischen zwei Buden verschwunden.
»Es tut mir leid«, sagte ich, »Ich wollte ihn nicht verärgern.«
»Schon gut«, sagte der Dicke. »Das ist immer so. Er ist ein empfindlicher Bursche, hitzig, anmaßend und leichtsinnig. Zweifellos sollte ihm der Boden dankbar sein, daß er sich herabläßt, über ihn zu schreiten. Andererseits scheint sein Spiel sehr gut zu sein. Vermutlich sogar zu gut für das, was wir brauchen.«
»Vielleicht sollte er sich um Mitgliedschaft in der Kaste der Spieler bewerben«, schlug ich vor.
»Das scheint ihn nicht zu verlocken«, sagte der Dicke.
»Ach so.«
»Außerdem ist er ein groteskes Ungeheuer. Sogar die Sklaven fürchten ihn.«
»Ich verstehe.«
»Im Vertrauen gesagt, wenn er nicht so gut spielen könnte, wäre er nicht bei uns.«
»Ich verstehe«, sagte ich und lächelte. In Kaissa-Klubs konnte man mehr Geld verdienen, soviel stand fest. Es war interessant, daß der Kerl gehinkt hatte. Ich hatte mal einen Kaissa-Spieler gekannt, der ebenfalls gehinkt hatte. Aber das war schon lange her.
»Hast du jemals gegen ihn gespielt?« fragte ich.
»Nein«, sagte der Dicke. »Ich spiele nicht.«
»Bist du Boots Tarskstück?« fragte eine Stimme hinter uns. Der Dicke wurde bleich.
Ich drehte mich um.
»Ich grüße dich, Kapitän«, sagte der Mann.
»Ich grüße dich«, erwiderte ich. Es war der Beamte des Herrn der Lustbarkeiten. Hinter ihm standen die beiden Mitglieder der Ratswache.
»Bleib stehen«, sagte der Beamte zu dem Dicken, der anscheinend gerade zwischen der Bühne und der Kaissa-Bude hatte verschwinden wollen.
»Meintest du mich?« fragte er höflich und drehte sich um. Eine eindeutige Geste des Beamten, der auf eine Stelle vor sich deutete, brachte ihn schnell zurück. »Ja?« fragte er noch immer höflich.
»Ich glaube, du bist Boots Tarskstück«, sagte der Beamte. »Von der Theatertruppe Boots Tarskstück.«
»Er muß hier irgendwo in der Nähe sein«, sagte der Dicke. »Wenn du willst, werde ich ihn für dich suchen.«
»Bleib stehen«, befahl der Beamte.
Der Dicke kam zurück.
»Das ist er«, sagte einer der Wächter.
»Ich wollte niemanden beleidigen«, sagte der Dicke. »Nur ein kleiner Scherz!«
»Du bist Boots Tarskstück«, sagte der Beamte und betrachtete einen gemalten Handzettel, der mit anderen Papieren zusammengeheftet war. »Schauspieler, Theaterdirektor und Impresario der Theatertruppe von Boots Tarskstück?«
»Zu Diensten«, sagte Boots und machte eine tiefe Verbeugung. »Was kann ich für dich tun?«
Das Mädchen kniete wieder mit gesenktem Kopf an meiner Seite. Sie hatte die Haltung in dem Augenblick eingenommen, als der Beamte und die Wachen gekommen waren.
»Wir sind hier in Zusammenhang mit einer Auftrittserlaubnis«, sagte der Beamte.
»Ja, und?« fragte Boots Tarskstück freundlich.
»Hast du eine?«
»Würdest du mich in mein Quartier begleiten?« fragte Boots. »Wir haben da ein paar wohlschmeckende Larmas, und vielleicht haben du und deine Männer ja Lust, meine Bina und Brigella auszuprobieren.«
»In der Erlaubnis steht die Bestimmung, daß Mädchen, die Mitglied solcher Truppen wie der deinen sind, vorausgesetzt, es handelt sich um Sklavinnen, befohlen werden kann, Wohnungen aufzusuchen und demjenigen zu dienen, den der Rat oder ein vom Rat bestellter Beamter nennt«, sagte der Beamte.
»Ich lese die Bestimmungen auf den Dokumenten ganz selten«, sagte der Theaterdirektor. »Solche Dinge sind so langweilig.«
»Du hast doch eine Erlaubnis, oder?« fragte der Beamte.
»Aber natürlich!« erwiderte Boots entrüstet. »Schließlich sind sie Gesetz. Niemand, der auch nur einen Funken Ethik sein eigen nennt, käme auf den Gedanken, ohne Erlaubnis zu arbeiten.«
»Darf ich deine Erlaubnis sehen?« fragte der Beamte.
»Selbstverständlich«, sagte Boots fummelte in seinem Gewand herum, »Sie ist hier irgendwo.« Er sah in seinen Geldbeutel. »Irgendwo«, versicherte er dem Beamten. »Nein«, sagte er dann, nachdem er das zweitemal in seinem Gewand und das drittemal in seinem Geldbeutel nachgesehen hatte. »Sie muß in meinem Quartier sein, vielleicht in der Kleidertruhe. Ich bin sofort wieder da. Ich hoffe, ich muß nicht entdecken, daß man mich beraubt hat!«
»Stehenbleiben!« sagte der Beamte.
»Ja«, sagte Boots und drehte sich wieder um.
»Laut unseren Unterlagen hast du keine Erlaubnis«, sagte der Beamte. »Du hast nicht darum nachgesucht, und du hast auch keine bekommen.«
»Ich kann mich genau daran erinnern, mir eine Erlaubnis geholt zu haben«, sagte Boots.
Der Beamte sah ihn wütend an.
»Es ist aber durchaus möglich, daß es im letzten Jahr war«, sagte Boots. »Oder etwa im Jahr davor?«
Der Beamte schwieg.
»Sollte ich es vergessen haben?« fragte Boots ent setzt. »Das scheint unmöglich!«
»Das ist gar nicht so schwer zu glauben«, bemerkte der Beamte. »Schließlich ist es drei Jahre hintereinander passiert.«
»Nein!« schrie Boots entsetzt auf.
»Es sind Leute wie du, die Schurken einen schlechten Ruf verleihen«, sagte der Beamte.
»Was schreibst du da?« fragte Boots besorgt.
»Einen Übergabebefehl.«
»Und wozu ist der gut, wenn ich fragen darf?« Boots ließ nicht locker.
»Dein Besitz, einschließlich deiner Schauspielerinnen, wird beschlagnahmt«, sagte der Beamte. »Die Staatsketten werden ihnen gut stehen. Du selbst wirst öffentlich auf dem Platz ausgepeitscht und für fünf Jahre aus Port Kar verbannt werden.«
»Es ist Karneval«, sagte ich zu dem Beamten.
»Kapitän?«
»Wieviel schuldet er?«
»Die Auftrittserlaubnis kostet einen Silbertarsk.«
»Deine Schauspieler haben doch bestimmt einen Silbertarsk eingenommen«, sagte ich zu Boots Tarskstück.
»Nein«, erwiderte er. »Wir haben heute abend nur siebenundneunzig Tarskstücke eingenommen, also nicht einmal zehn Kupfertarsk.« Auf Gor unterscheidet sich der Geldwert von Stadt zu Stadt. In Port Kar und ganz allgemein im Voskbecken sind zehn Tarskstücke ein Kupfertarsk und einhundert Kupfertarsk ein Silbertarsk.
»Du hast doch sicherlich etwas gespart«, meinte ich.
»Aber nicht genug«, erwiderte er. »Wir leben von der Hand in den Mund. Manchmal reicht es nicht einmal zum Essen.«
»Es geht um mehr als einen Silbertarsk, Kapitän«, sagte der Beamte. »Da sind die beiden vorherigen Jahre zu beachten sowie die Zinsen und die üblichen Nebeneinkünfte.«
»Ich bin ruiniert«, sagte Boots Tarskstück.
»Nicht so schnell, Beamter«, sagte ich. »Boots Tarskstück ist ein alter Freund von mir, ein sehr alter Freund.«
Boots sah mich überrascht an. Dann nickte er ernst. Wir kannten uns schon lange, mindestens seit zehn Ehn.
»Wenn es dein Wunsch ist, Kapitän«, sagte der Beamte und lächelte. »Ich werde die Angelegenheit nicht weiter verfolgen.« Er kannte mich. Er war am 25. Se’Kara bei der Flotte gewesen.
»Man kennt Boots überall als einen ehrlichen Mann«, fuhr ich fort.
Boots sah überrascht aus.
»Er bezahlt immer seine Schulden«, versicherte ich dem Beamten.
»Ach ja?« fragte Boots. »Aber ja!« beeilte er sich dann dem Beamten zu versichern.
»Also bezahl den Mann«, sagte ich.
»Womit denn?« fragte Boots flüsternd.
»Mit deinem Gewinn.«
»Das sind nicht einmal zehn Tarsk«, zischte Boots.
»Sieh in den Schalen deiner Bina und Brigella nach«, schlug ich vor.
»Habe ich schon.«
»Dann sieh noch einmal nach.«
Er drehte sich um und ging, kam aber noch einmal zurück und wollte das Kupferkästchen aufheben, das neben dem Kaissa-Tisch stand.
»Laß es stehen«, sagte ich.
Er zuckte mit den Schultern, richtete sich wieder auf und verschwand.
»Er wird zweifellos zurückkommen«, lächelte der Beamte.
»Auf keinen Fall wird er aus der Stadt fliehen können«, sagte einer der Wächter.
Ich bückte mich, hob das Kästchen auf und steckte drei Silbertarsk in den Schlitz. »Das deckt die Gebühren für drei Jahre«, sagte ich. Dann schob ich noch einen Silbertarsk hinein. »Das sollte reichen, um die anfallenden Zinsen zu bezahlen.«
»Das ist mehr als genug«, sagte der Beamte.
»Dieser Tarsk«, sagte ich und steckte die Münze in den Schlitz, »ist für den Herrn der Lustbarkeiten.«
»Du bist sehr großzügig, Kapitän«, sagte der Beamte beeindruckt. »Das ist weitaus mehr, als normalerweise erwartet wird.«
»Und dieser Tarsk ist für dich und deine Männer.«
»Das ist unnötig, Kapitän«, protestierte der Beamte.
Die Münze fiel in das Kästchen. »Es ist Karneval.« Ich lächelte.
»Vielen Dank, Kapitän.«
Ich stellte das Kästchen wieder neben den Kaissa-Tisch.
»Es hat keinen Zweck, meine Freunde«, sagte Boots Tarskstück, als er mit den beiden leeren Münzschüsseln zurückkehrte. »Sie sind leer.«
»Was ist mit dem Kästchen?« fragte der Beamte und deutete auf den Kaissa-Tisch. »Es enthält Geld, das du in deiner Kaissa-Bude eingenommen hast, das also auch deiner Truppe gehört, oder nicht?«
»Aber da sind nur drei Tarskstücke drin«, klagte Boots Tarskstück.
»Vertraust du ihm?« fragte der Beamte einen der Wächter.
»Auf keinen Fall«., erwiderte der Mann.
»Aufmachen«, befahl der Beamte.
»Also gut«, sagte Boots mit einem Schulterzucken. Als er das Kästchen aufhob, legte sich plötzlich ein seltsamer Ausdruck auf sein Gesicht. Er schüttelte es. Das unmißverständliche Klappern mehrerer Münzen ertönte.
Mit fieberhafter Eile holte er einen Schlüssel aus dem Geldbeutel. Einen Augenblick später hatte er das Vorhängeschloß der Kette gelöst, hob den Kasten in die Höhe und klappte ihn auf.
»Du durchtriebener, dicker Schurke«, schalt ihn der Beamte. »Du hast uns zum Narren gehalten.«
Boots sortierte mit weitaufgerissenen Augen die Münzen.
»Wieviel ist es?« fragte der Beamte.
»Drei Tarskstücke«, sagte der Theaterdirektor, »und fünf Silbertarsk.«
»Drei Silbertarsk für die alte und neue Auftrittsgebühr, einen für die Zinsen und einen für den Herrn der Lustbarkeiten«, sagte der Beamte.
Boots zählte die Münzen ab und gab sie ihm.
»Und was ist mit einer Aufmerksamkeit für mich und meine Männer?«
Boots zog den letzten Silbertarsk aus dem Ärmel und reichte ihm dem Beamten mit einem peinlich berührten Gesichtsausdruck. Ich hatte nicht gesehen, daß er ihn dort versteckt hatte. Er mußte sehr geschickt sein.
Das Mädchen zu meinen Füßen hielt mittlerweile mein Bein umklammert und drückte unterdrückt schluchzend Küsse darauf.
»Es hat den Anschein, als sei eine Sklavin bereit«, grinste der Beamte.
»Schon möglich«, erwiderte ich unbeteiligt.
»Das Lustgestell, Herr«, jammerte sie. »Bitte bring mich zum Lustgestell!«
Ich zog sie auf die Füße.
»Einen fröhlichen Karneval!« wünschte ich den Männern.
Sie erwiderten den Gruß.
Ich stieß die Sklavin vor mir her, und wir bahnten uns einen Weg durch die Menschenmenge. In wenigen Ehn hatten wir den Platz überquert und waren bei den Gestellen angekommen. Es gab zwei Arten von ihnen; die einen waren raffinierte Gestelle mit verstellbaren Fesseln und einer Liegefläche aus flachen, weichen, gekreuzten Bändern, während die anderen einfache Netzgestelle darstellten, kaum mehr als stabile Holzrahmen mit netzähnlich angebrachten Stricken. Bei diesen Gestellen bindet man die Frau mit einfachen Seilen. Ich brachte die Sklavin zu einem der Netzgestelle. Die anderen waren alle belegt.
Die Sklavin warf sich mit dem Bauch auf das Netz und drehte sich dann auf den Rücken. Sie schob Hände und Füße auf gewisse Weise in das Netz. Ich machte mir nicht die Mühe, sie zu fesseln. Ich legte mich zu ihr. Nur wenige Augenblicke später starrte sie mich wild und dankbar an, von den Zuckungen eines Orgasmus geschüttelt.
»Kauf mich«, sagte sie hinterher. »Du hast Geld. Bitte kauf mich! Ich werde dir immer treu dienen!«
Ich küßte sie und zog mich aus ihr zurück; neben dem Gestell brachte ich meine Kleidung wieder in Ordnung.
Die Sklavin zog Hände und Füße aus dem Netz, löste sich aus dem Gestell und kniete vor mir nieder. Die Abdrücke der Seile zeichneten sich auf ihrer Haut ab. Sie sah zu mir hoch. »Ich wollte nicht unverschämt sein. Bitte verzeih mir.«
Ich zog sie auf die Füße und küßte sie. »Schon gut«, sagte ich.
Sie sah mich an.
»Geh zu deinem Herrn. Sieh zu, daß du ihm noch mehr Vergnügen bereitest, als du mir bereitet hast.«
»Ja, Herr«, lächelte sie, drehte sich um und verschwand in der Menge. Die erste Pflicht eines Sklaven gehört seinem Herrn.
Ich wandte mich ab. Fs wurde spät, und ich überlegte, in mein Haus zurückzukehren. Da fiel mir meine Unterhaltung mit Henrius ein. Er hatte mir erzählt, daß mich jemand erwartete. Ich fragte mich, wer das wohl sein konnte. Vielleicht hatte es etwas mit Samos zu tun. Bei unserem letzten Beisammensein in seinem Haus war er sehr ausweichend gewesen. Der Unbekannte wollte mich in Pavillon siebzehn treffen. Ich drehte mich und ging neugierig in Richtung der Roten Pavillons. Die Roten Pavillons werden normalerweise von Sklavenhändlern aufgestellt, in ihnen können gute Kunden oder ihre Mittelsmänner die teurere Ware in Augenschein nehmen und ausprobieren. Für gewöhnlich werden sie in den Höfen der Sklavenhändler aufgestellt; zu besonderen Zeiten findet man sie auch auf Festen. Die Roten Pavillons auf dem Platz waren anläßlich des Karnevals aufgestellt worden. Sie dienten im Prinzip Werbezwecken und wurden von den verschiedenen Häusern der Sklavenhändler gestiftet, damit sich freie Männer vergnügen konnten. Das Haus von Samos zum Beispiel hatte die ersten fünf Pavillons gestellt, jeder komplett mit Einrichtung und einer reizenden Bewohnerin. In dem fünften Pavillon befand sich die Sklavin Rowena, wie ich gehört hatte. Samos wollte sie schnell ausbilden, denn er wollte sie, wie ich mich erinnerte, beim Jahrmarkt von En’Kara zusammen mit anderen verkaufen.
Ich ging die Pavillons ab, bis ich zu Nummer siebzehn kam. Bei den meisten Pavillons waren die Vorhänge zugezogen; die Stoffwände und die Vorhänge sind meistens undurchsichtig. Bei zwei Pavillons standen die Vorhänge einen Spaltbreit offen. In dem einen sah ich eine Sklavin, die sich in Ketten langsam vor einem Mann wand.
Merkwürdigerweise hatte der Pavillon Nummer siebzehn ein Schild angesteckt, auf dem Geschlossen stand. Der Vorhang war vorgezogen, schien aber nicht von innen festgemacht worden zu sein. Ich sah mich um. Ein paar Männer waren in der Nähe, einige mit Karnevalsmasken, aber keiner schien sich um diesen Pavillon zu kümmern. Ich wartete ein paar Augenblicke lang. Niemand trat auf mich zu. Andererseits sollte ich mich mit dem Unbekannten hier treffen, zumindest demzufolge, was man Henrius gesagt hatte. Ich fragte mich, wer ihn angesprochen hatte. Ob die Angelegenheit irgend etwas mit den Priesterkönigen zu tun hatte? Es schien alles sehr geheimnisvoll zu sein. Ein normales Treffen wäre doch sicher auf herkömmliche Weise in die Wege geleitet worden.
Ich schob den Vorhang beiseite und trat ein. Der Vorhang fiel hinter mir wieder zu. Eine kleine Tharlarionöl-Lampe erhellte das Innere des Pavillons. Er war von dem unbedeutenden Sklavenhändler Vart, dem ehemaligen Publius Quintus aus Ar, zur Verfügung gestellt worden. Vart war mir draußen nicht begegnet. Ich fragte mich, warum der Pavillon geschlossen war. Vielleicht hatte Vart ihn für eine Ahn oder länger vermietet. Vielleicht handelte es sich hier auch nur um ein Mißverständnis.
Auf dem großen weichen Kissen im hinteren Teil des Pavillons lag eine hübsche zierliche Frau, eine sinnliche Rothaarige. Sie lag ungewöhnlich reglos da. Ich trat zu ihr, kniete neben ihr nieder und legte die Fingerspitzen oberhalb des Sklavenkragens an ihren Hals. Sie lebte. Ich zog sie in eine sitzende Haltung, roch an ihrem Mund und berührte mit der Zungenspitze ganz vorsichtig ihre Lippen. Es war nichts zu schmecken. Am linken Mundwinkel war ein Fleck Ka-la-na-Wein. Zweifellos hatte man ihr Tassapulver verabreicht. Es hinterließ keine Spuren und wirkte schnell. Sie würde vermutlich noch Stunden schlafen. Die Lampe flackerte. Man hatte der Sklavin die Hände auf den Rücken gefesselt; ihre Fußgelenke waren ebenfalls über Kreuz gelegt und gefesselt worden. Die Riemen waren schmal, dunkel und saßen sehr straff. Ich legte das Mädchen wieder aufs Kissen.
Und warf mich zur Seite, um dem zupackenden linken Arm zu entgehen, der das Opfer für den kurzen, mit der rechten Hand niedrig geführten Messerstoß festhalten wollte – falls er nicht von oben nach dem Hals zielte, was allerdings kein Angreifer aus der Kaste der Attentäter oder Krieger getan hätte. Die kleine Tharlarionöl-Lampe war so hingestellt worden, daß der durch den Vorhang Eintretende keinen Schatten warf. Einem Krieger entgeht eine solche Kleinigkeit nicht. Ich hatte darauf geachtet, daß sich der Vorhang hinter mir wieder schloß und den Pavillon von der Außenwelt abschottete. Es ist schwer, den schweren Vorhang zu bewegen, ohne daß der Stoff raschelt oder die Ringe über die Haltestange schaben. Außerdem gerät die Luft innerhalb des Pavillons in Bewegung, wenn der Vorhang bewegt wird. Die Flamme der Lampe hatte im Luftzug geflackert.
Arm und Messer verfehlten mich. Der von oben geführte Stoß hat einige Nachteile. Er erfordert ein weites Ausholen, wodurch dem linken Arm erschwert wird, das Ziel festzuhalten. Man kann ihn leichter abblocken. Er hat nicht dieselbe Kraft wie der kurz geführte Stoß. Eine Klinge, die nur fünfzehn Zentimeter Weg zurücklegen muß und hinter der das volle Körpergewicht liegt, dringt tiefer ein als eine Klinge, die eine viel weitere Distanz zurücklegen muß und in der Hauptsache von der Kraft der Schulter und des Arms angetrieben wird. Außerdem liegt der Stoß aus kurzer Entfernung aller Wahrscheinlichkeit nach wesentlich besser im Ziel. Dem Gegner bleibt, bedenkt man die Mathematik der Reflexe, nach dem empfangenen Stoß nur wenig Zeit, seine Position zu verändern, und das selbst dann noch, wenn man ihn nicht festhält. Mein Angreifer war vermutlich weder Attentäter noch Krieger.
Ich rollte mich ab und griff instinktiv nach der Klinge in meiner Messerscheide, aber die Scheide war leer, hatte ich doch die Waffe an dem Kontrollpunkt am Eingang zum Platz abgegeben. Der Mann, der eine Halbmaske trug, stellte sich verblüffend schnell auf die neuen Umstände ein. Die Klinge war in das Kissen eingedrungen. Bevor ich wieder auf den Füßen stand, war er über mir. Wir rangen miteinander. Ich packte sein Handgelenk und drehte die Klinge nach innen. Plötzlich erschlaffte er. Ich ließ das Messer in seinem Leib stecken und wartete, bis sich mein Atem wieder beruhigt hatte. Dann zog ich die Halbmaske weg. Es war der Kerl, den ich am Kontrollpunkt gesehen und mit dem ich später an der Bühne des Zauberers ein paar Worte gewechselt hatte.
Ich durchsuchte sein Gewand, konnte jedoch nichts finden, was über seine Identität Auskunft gegeben hätte. Vermutlich hatte er beobachtet, wie ich eine goldene Tarnmünze auf die Bühne geworfen hatte. Er hatte mich zweifellos berauben wollen. Aber ich hatte ihn auch an dem Kontrollpunkt gesehen. Das konnte allerdings durchaus ein Zufall gewesen sein. Ich öffnete seinen Geldbeutel. Er war voller goldener Stater aus Brundisium, einer Hafenstadt auf dem Festland an der Küste des Thassa, einhundert Pasang südlich des Voskdeltas. Raub als Motiv schied nun aus.
Ich wußte nur wenig über Brundisium. Angeblich war es mit Ar verbündet. Ich fragte mich, ob dies der Mann gewesen war, der sich mit mir in Pavillon siebzehn verabredet hatte. Ich konnte mir eigentlich nicht vorstellen, daß Vart der Sklavenhändler etwas mit der Angelegenheit zu tun hatte. Vermutlich hatte er den Pavillon einfach vermietet. Falls er in das Attentat verstrickt war, wäre er sehr dumm gewesen, seinen eigenen Pavillon dafür zur Verfügung zu stellen. Außerdem hatte er sicher nur wenig für Ar übrig, was sich dann auch auf Brundisium erstreckte. Man hatte ihn wegen der Fälschung von Sklavenangaben aus Ar verbannt und um ein Haar gepfählt; er hatte den Ausbildungsstand und die Fähigkeiten seiner Handelsware falsch dargestellt.
Auch mir war einst in Ar Salz, Brot und Feuer verweigert worden, und man hatte mich aus der Stadt verbannt. Ich konnte mir jedoch nicht vorstellen, daß Ubar Marlenus aus Ar, der mich damals verbannt hatte, einen Attentäter aus Brundisium gegen mich aussandte. Falls er mit mir abrechnen wollte, hätte er es vermutlich eigenhändig getan. Marlenus war zu geradlinig und zu stolz für derartige Hinterhältigkeiten. Außerdem waren wir keine richtigen Feinde. Und wenn er tatsächlich einen Attentäter gegen mich hätte aussenden wollen, so hätte er es schon vor langer Zeit getan.
Davon abgesehen mußte die Tatsache, daß die Stater in dem Geldbeutel des Mannes aus Brundisium stammten, nicht unbedingt bedeuten, daß er auch aus dieser Stadt kam. Jeder hätte ihn mit diesen Münzen bezahlen können. Aber welche Feinde hatte ich denn? Vielleicht hatte der Kerl mich ja doch nur berauben wollen.
Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Ich begriff nicht, was hier geschehen war, und es gefiel mir nicht.
»Tarl«, sagte da eine Stimme leise hinter dem Vorhang. Es war Samos.
»Komm herein«, bat ich.
»Ich habe dich schon überall gesucht«, sagte er.
»Henrius ist mir begegnet. Er meinte, du seist hier.«
Dann riß Samos die Augen auf. »Was geht hier vor? Wer ist das?«
»Kennst du ihn?«
»Nein«, sagte Samos und untersuchte die Leiche.
»Er wollte mich töten.«
»Warum? Wegen der Sklavin?«
»Nein«, sagte ich. »Vielleicht war es ein Raubüberfall.«
»Er ist gut gekleidet.«
»In seinem Geldbeutel waren goldene Stater aus Brundisium.«
»Das sind wertvolle Stater«, sagte Samos. »Sie haben ein gutes Gewicht.«
»Er wußte, daß ich Gold bei mir habe«, sagte ich. »Ich habe einem Zauberer eine goldene Tarnmünze gegeben.«
»Trotzdem hat es den Anschein, daß er kein Geld brauchte.«
»Das glaube ich auch nicht«, sagte ich. »Aber ein Raubüberfall ist die einzig vernünftige Erklärung.«
»Ich weiß nicht«, meinte Samos. »Vielleicht hast du ja recht.«
»Du klingst nicht überzeugt«, bemerkte ich.
»Mein Freund, Diebe tragen selten Gold bei sich.«
»Vielleicht hat er es heute abend gestohlen«, wandte ich ein.
»Es ist kein größerer Diebstahl gemeldet worden«, sagte Samos. »Und er trägt nicht die Kleidung eines verstohlenen Diebes, der sich lautlos bewegen muß.«
»Dieser Pavillon war geschlossen. Ich nehme nicht an, daß du ihn gemietet hast.«
»Nein«, sagte Samos.
»Henrius teilte mir mit, daß mich jemand hier erwarten werde.«
»War das, bevor dieser Kerl dein Gold gesehen hat?«
»Nein«, sagte ich. »Danach.«
»Vielleicht ist das die Erklärung«, sagte Samos.
»Das glaube ich nicht. Ich bin Henrius sofort nach der Vorstellung des Zauberers begegnet. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Verabredung mit dem Pavillon in der kurzen Zeit getroffen werden konnte.«
»Ich verstehe«, sagte Samos.
»Was hältst du also von der Sache?«
»Alles zusammengenommen deutet sie auf einen geplanten Hinterhalt hin, an dem dein Freund hier vermutlich beteiligt war.«
»Der Meinung bin ich auch«, sagte ich. »Du sprichst also von einem sorgfältig geplanten Raubüberfall?«
»Eigentlich nicht«, meinte Samos. »Bedenkt man die Indizien wie die Münzen im Geldbeutel, erscheint mir ein Raubüberfall doch sehr unwahrscheinlich.«
»Welchen Grund könnte er dann gehabt haben?« fragte ich.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Wer könnte deiner Meinung nach ein Attentat bestellt haben?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Warum wolltest du mich eigentlich sehen?«
Sein Gesicht verfinsterte sich.
»Du willst mit mir sprechen«, stellte ich fest.
»Ja.«
»Dann laß uns den Pavillon verlassen.«
»Nein«, sagte er. »Noch nicht. Ich muß mit dir unter vier Augen sprechen. Dieser Ort ist so gut wie jeder andere. Danach werden wir den Pavillon nacheinander verlassen. Es wäre zur Zeit nicht gut für uns, zusammen gesehen zu werden.«
»Warum nicht?« fragte ich.
»Es könnte Spione geben.«
»Spione der Kurii?«
»Nein, Spione der Priesterkönige.«
»Ich verstehe nicht«, sagte ich überrascht.
»Ich glaube, die Sardar haben neue Herrscher«, sagte er.
»Das ist schon möglich«, meinte ich und erinnerte ihn an die Geschichte Yngvars des Weitgereisten.
»Es ist noch gar nicht so lange her, daß ich zwei Botschaften der Sardar bekommen habe«, sagte Samos. »Die erste kam vor zehn Tagen, die zweite gestern.«
»Und worum ging es in diesen Botschaften?« wollte ich wissen.
»Sie befehlen die Festnahme eines Mannes, dem nachgesagt wird, er sei ein Feind der Priesterkönige.«
»Wer ist es? Vielleicht kann ich bei seiner Festnahme helfen«, sagte ich.
»Sein Name ist Tarl Cabot.«
»Das ist lächerlich!«
»Als vor ein paar Tagen die erste Botschaft eintraf, war ich davon überzeugt, daß es irgendwie einen ernsten Fehler gegeben hatte. Ich verlangte von den Sardar eine Bestätigung, und sei es nur, um Zeit zu gewinnen.«
»Kein Wunder, daß du bei meinem Besuch so verschlossen warst.«
»Ich wollte mit dir sprechen, wußte aber nicht, ob es richtig war. Schließlich kam ich dem Schluß, es sein zu lassen. Falls sich – wovon ich überzeugt war – die ganze Angelegenheit später als Irrtum herausstellen sollte, wäre kein Schaden entstanden, und wir hätten darüber lachen können.«
»Aber gestern«, sagte ich, »traf die Bestätigung ein.«
»Ja. Und der Befehl ist unmißverständlich.«
Ich sah ihn an. »Was wirst du tun? Ich bin unbewaffnet. Zweifellos warten draußen deine Männer.«
»Sei nicht albern«, sagte er. »Wir sind Freunde und haben gemeinsam mit blankgezogenen Klingen vor dem Feind gestanden. Ich verriete die Priesterkönige, bevor ich dich verriete.«
»Du bist ein tapferer Mann, wenn du das Risiko eingehst, den Zorn der Priesterkönige auf dich zu lenken.«
»Sie können mir schlimmstenfalls das Leben nehmen, und wenn ich meine Ehre verliere, wäre es sowieso nichts mehr wert.«
»Was wirst du tun?« fragte ich.
»Ich bin davon überzeugt, daß die ganze Angelegenheit auf einem Fehler beruht, daß sie aus der Welt geschafft werden kann, aber die Befehle sind eindeutig. Ich brauche Zeit.«
»Was wirst du tun?« wiederholte ich meine Frage.
»Ich werde den Sardar morgen einen Bericht schicken, der mit dem morgigen Datum versehen ist«, sagte Samos. »Ich werde die Sardar darüber informieren, daß ich ihren Befehl nicht ausführen kann, da ich dich nicht aufspüren kann, nachdem du anscheinend die Stadt verlassen hast.«
»Ich verstehe.«
»In der Zwischenzeit werde ich darauf drängen, daß die Angelegenheit genau untersucht wird, eine ausführliche Erklärung verlangen und dergleichen. Ich werde versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen. Da ist bestimmt ein schrecklicher Fehler begangen worden.«
»Wie lautet die Anklage?« fragte ich.
»Du sollst die Sache der Priesterkönige verraten haben«, sagte er.
»Wie kann ich ihre Sache verraten haben?« fragte ich. »Ich bin kein richtiger Agent der Priesterkönige. Ich habe ihnen nie mein Schwert versprochen, ich habe ihnen keinen Treueid geschworen. Ich bin mein eigener Herr, eine Art Söldner, der gelegentlich in ihrem Sinne gewirkt hat, wenn er es für richtig hielt.«
»Sich dem Dienst für die Priesterkönige zu entziehen, dürfte genauso schwierig sein, wie sich dem Dienst für die Kurii zu entziehen«, sagte Samos.
»Auf welche Weise soll ich denn ihrer Sache geschadet haben?« fragte ich. »Was soll ich Schlimmes getan haben, daß man mir einen heimtückischen Verrat vorwirft?«
»Du hast Zarendargar, dem Kriegsgeneral der Kurii, das Leben gerettet!«
»Vielleicht«, erwiderte ich. »Ich kann es nicht einmal mit Sicherheit sagen.«
»Aber genau mit dieser Absicht hast du dich auf die Suche nach ihm gemacht, oder nicht?«
»Ja, das schon«, gab ich zu. »Ich wollte ihn vor dem Todeskommando warnen, das nach ihm auf der Suche war. Wie sich allerdings herausstellte, hatte er die Ankunft einer solchen Gruppe bereits erwartet. Er hätte also auch so überleben können.«
»Außerdem hast du, so wie ich es verstanden habe, bei dieser Gelegenheit mit ihm gesprochen, hättest also ausreichend Gelegenheit, ihn gefangenzunehmen oder zu töten.«
»Das schon«, stimmte ich zu.
»Aber du hast es nicht getan.«
»Das stimmt.«
»Und warum nicht?« fragte Samos.
»Wir haben einmal Paga geteilt«, sagte ich.
»Soll ich das den Sardar mitteilen?« fragte Samos ironisch.
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte ich.
»Es ist durchaus möglich, daß die Sardar dich mittlerweile für einen Agenten einer der verschiedenen Kurii-Gruppen halten, für einen Verräter, der vermutlich zuviel weiß.«
»Vielleicht sollte ich mich stellen«, lächelte ich.
»Das würde ich nicht empfehlen.« Samos lächelte ebenfalls. »Ich halte es für besser, wenn du eine Zeitlang aus Port Kar verschwindest, bis es mir gelungen ist, diese Mißverständnisse aufzuklären.«
»Wohin soll ich denn?« fragte ich.
»Ich will es nicht wissen«, sagte Samos.
»Glaubst du, du kannst diese Angelegenheit in meinem Sinn klären?«
»Ich hoffe es.«
»Ich glaube nicht, daß du Erfolg haben wirst«, sagte ich. »Ich glaube, die Sardar haben bereits gehandelt.«
»Ich verstehe nicht.«
»Die erste Nachricht kam vor zehn Tagen«, sagte ich.
»Ja.«
»Ich nehme an, sie war klar verständlich.«
Samos zuckte mit den Schultern. »Ich glaube schon.«
»Du könntest dich durch dein Zögern selbst in Gefahr gebracht haben.«
»Wie das?« fragte er.
»Die Sardar schicken eine klare Botschaft«, sagte ich. »Statt des Berichts, das alles in ihrem Sinne erledigt ist, erhalten sie die Bitte um Bestätigung und Erklärung, und das von einem überaus klugen Agenten, der seine Tatkraft oft unter Beweis gestellt hat. Daraus erkannten die Sardar, daß du zögerst, den Befehl auszuführen. Davon abgesehen bin ich davon überzeugt, daß den Sardar unsere Freundschaft bekannt ist. Es ist nicht schwer, sich ihre Reaktion vorzustellen. Vermutlich wurde entschieden, daß man sich in dieser Angelegenheit nicht auf dich verlassen kann. Es ist sogar durchaus vorstellbar, daß du dich durch deine Antwort selbst verdächtig gemacht hast.«
»Ich habe die Bestätigung gestern erhalten«, sagte Samos leise.
»Vielleicht wollten die Sardar damit nur ihre Befürchtungen verbergen, die sie bezüglich deiner Loyalität haben.«
»Vielleicht«, flüsterte er.
»Auf jeden Fall hat die Spanne zwischen den beiden Botschaften unabhängigen Agenten der Priesterkönige die Zeit verschafft, nach Port Kar zu reisen. Vielleicht ist ihnen auch nicht entgangen, daß du nach Erhalt der Bestätigung nicht sofort gehandelt hast.«
»Was sagst du da?« fragte Samos entsetzt.
»Ich glaube, ich habe eine Erklärung, die dem Vorfall einen Sinn verleiht.«
»Nein!« rief Samos.
Ich sah auf den Mann in dem teuren Gewand hinab, aus dessen Brust ein Messer ragte.
»Ich glaube, ich habe gerade einen Agenten der Priesterkönige getötet«, sagte ich.
»Nein!« rief Samos. »Nein!«
Ich zuckte mit den Schultern. Draußen lärmte der Karneval.
»Wenn er ein Attentäter war, müssen ihn die Kurii geschickt haben«, sagte Samos. »Die Priesterkönige handeln nicht auf diese Weise.«
»Vielleicht.«
»Verlaß die Stadt«, sagte er.
»Wie werde ich erfahren, ob es sicher ist, nach Port
Kar zurückzukehren?«
»Von Zeit zu Zeit könnte ein Agent, der in deinem
Namen handelt, oder du selbst inkognito der Stadt
einen Besuch abstatten. Kennst du die Sklavenketten, die ich auf der linken Seite meiner Schwelle hinter dem Banner aufgehängt habe, die Ketten, die mit einem Stück scharlachroter Sklavenseide festgebunden sind?«
»Ja«, sagte ich.
»Wenn es für dich wieder sicher ist, dich öffentlich in Port Kar zu zeigen oder mit mir Kontakt aufzunehmen, wird die scharlachrote durch gelbe Sklavenseide ersetzt sein.«
»Ich verstehe.«
»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte er. Wir reichten uns die Hände.
»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte ich.
Samos verließ den Pavillon. Ich blieb noch ein paar Ehn. Es wäre nicht gut gewesen, hätte man uns zusammen gesehen. Ich sah den Mann auf dem Teppich an, in dessen Herz sein eigenes, von meiner Hand geführte Messer steckte. Ich dachte an die Geschichte von Yngvar dem Weitgereisten. Es gab wohl eine neue Ordnung bei den Sardar. Ich bedauerte nicht, wie ich mich in Zarendargars Fall verhalten hatte. Wir hatten den Paga geteilt.
Ich lauschte der Fröhlichkeit der Menschen, die draußen den Karneval feierten, ihren Rufen, der Musik.
Ich mußte Port Kar noch in dieser Nacht verlassen. Ich würde zu meinem Haus gehen und die nötigen Vorbereitungen treffen; ich würde mir Waffen, Geld und Kreditbriefe holen. In zwei Ahn konnte man auf dem Rücken eines Tarn weit fort sein, bevor die Priesterkönige das Scheitern ihrer Pläne entdeckten.
Ich warf noch einen Blick auf die rothaarige kleine Sklavin, die an Händen und Füssen gefesselt auf dem großen Kissen lag. Sie war während der ganzen Geschehnisse nicht einmal aufgewacht. Tassapulver ist wirksam.
Ich verließ den Pavillon und mischte mich unter die Menge.
Ich war verbittert.
Ich würde allein gehen, denn ich wollte meine Gefolgsleute weder in Gefahr bringen noch sie in den dunklen Kampf zweier Welten verwickeln. Meine Abreise schien die beste Möglichkeit zu sein, Samos’ Sicherheit zu garantieren. Er war mein Freund. Er hatte viel für mich riskiert. In zwei Ahn wäre ich auf dem Rücken eines Tarns verschwunden.
»Wie ich sehe, hast du die Gunst einer freien Frau gewonnen«, sagte ein Mann.
»Was?« Ich sah gedankenverloren auf.
»Das da!« Er zeigte auf das Seidentuch, das in der Kragenöse meines Gewandes steckte.
»Oh«, sagte ich. »Ja, sieht so aus.« Ich warf einen Blick auf das Tuch, das ich ganz vergessen hatte.
»Paga?« fragte er und hielt mir seinen Bota hin.
»Sicher«, sagte ich und trank einen Schluck.
»Es muß schön sein, die Gunst einer freien Frau gewonnen zu haben«, meinte er.
»Ich und ein paar hundert anderer Männer«, erwiderte ich.
»Die Gunst einer bestimmten Person.«
»Selbst da fürchte ich, bin ich nur einer von zehn«, sagte ich.
»Einer von fünfzehn!«
»Ach ja?«
»Ja.«
Ich zuckte mit den Schultern. Das Spiel der Gunstbezeugungen kann mit jeder Zahl von Tüchern gespielt werden, obwohl normalerweise nur zehn Stück verteilt werden.
»Einen schönen Karneval!« wünschte der Mann.
»Einen schönen Karneval!«
Ich wandte mich ab, um zu dem Kontrollpunkt zu kommen, wo ich mit meinem numerierten Zettel meine Waffen zurückerhalten würde. Die Menge war kleiner geworden, obwohl der Platz noch immer gut besucht war.
Ich stolperte, richtete mich aber wieder auf. Sicherlich hatte ich nicht soviel Paga getrunken.
Ich machte noch zwei Schritte, dann fiel ich auf ein Knie. Der Platz schien sich unter mir zu bewegen. Ich kämpfte um mein Gleichgewicht. Masken und Kostüme wirbelten um mich herum.
»Was ist los?« fragte eine Stimme.
»Er hat zuviel Paga getrunken«, sagte eine andere Stimme.
Ich wollte aufstehen, fiel jedoch vornüber.
»Ist schon gut«, sagte eine Stimme.
Um mich herum wurde es dunkel. Ich kämpfte darum, das Bewußtsein nicht zu verlieren. Jede Bewegung fiel mir schwer. Ich konnte nicht mehr sprechen.
»Setzt ihm eine Maske auf«, flüsterte eine Stimme.
Ich fühlte, wie man mir eine Karnevalsmaske überstülpte.
»Nein«, schien ich zu sagen, aber in Wirklichkeit kam kein Laut über meine Lippen.
Ich fühlte, wie man mich auf die Füße zog und meine Arme über die Schultern zweier Männer legte.
»Was hat er?« fragte eine Stimme.
»Zuviel Paga«, wiederholte eine andere Stimme.
»Ist alles in Ordnung mit ihm?«
»Ja.«
»Nein!« Ich wollte es hinausschreien, konnte es aber nicht.
»Braucht ihr Hilfe?« fragte ein Mann.
»Nein.«
»Bestimmt nicht?«
»Nein, Bürger«, sagte einer der Männer, die mich stützten. »Wir schaffen es schon. Vielen Dank.«
Dann hatte ich den Eindruck, daß wir allein waren.
»Bringt ihn ins Boot zu den anderen«, sagte eine fremde Stimme. Sie gehörte einer Frau.
Dann verlor ich das Bewußtsein.