Ich umklammerte die Gitterstäbe des kleinen Zellenfensters und sah auf den Hof hinaus. Ich stand auf einem Tisch, den ich an die Wand geschoben hatte, um einen Blick nach draußen werfen zu können. Der schmalschulterige und dünnbeinige kleine Urtmann hockte auf seinem Stroh.
»Ich habe dich gewarnt«, hatte Boots in seinem Lager gejammert. »Aber du wolltest ja nicht hören!«
Vor fünf Tagen hatte ich in einem in der Nähe befindlichen Dorf Sa-Tarna-Korn gekauft, aus dem die Mädchen im Lager mit Hilfe von flachen Steinen, Sieben und Töpfen Mehl machen sollten. Das war billiger, als fertiges Mehl zu kaufen, mußte man doch die Arbeit der Bauersfrauen oder der Mühle zusätzlich bezahlen. Ich hatte den Sack auf den Schultern getragen, er war nicht schwer gewesen. Da kam plötzlich Lady Telitsia angelaufen und warf sich vor mir auf die Knie. »Lauf, Herr!« rief sie. »Lauf! Es sind Männer im Lager, die nach dir Ausschau halten!«
»Wer sind sie?« fragte ich. »Was wollen sie?«
Einen Augenblick später stürmten etwa zwanzig Tharlarion wie aus dem Nichts heran, brachten die Erde zum Erbeben und hüllten mich in Staubwolken ein. Ich war umzingelt. »Halt!« schrie ein Mann. »Keine Bewegung!« Armbrüste zielten auf mich. Ein großer, wie eine Fahne flatternder Umhang blähte sich hinter dem Anführer auf. Ich kannte den Umhang – genau wie seinen Träger.
»Fesselt ihn«, sagte Flaminius, der in den Diensten Belnars stand, des Ubars von Brundisium.
Männer sprangen zu Boden. Man zerrte mir den Sack Sa-Tarna-Korn von den Schultern, riß mir die Hände auf den Rücken und legte mir eiserne Handschellen an. Einer der Männer fing das Ende einer langen Kette auf und ließ den daran befestigten Stahlreifen um meinen Hals einrasten. Flaminius band das andere Ende der Kette zweimal um seinen Sattelknauf. »So treffen wir uns wieder, Brinlar«, sagte er. »Oder soll ich sagen: Bosk aus Port Kar?«
»Ich bin Bosk aus Port Kar«, erwiderte ich.
Mehrere der Männer sahen sich unbehaglich an.
»Er ist gefesselt und liegt an der Leine«, sagte Flaminius zu seinen Männern. Er wandte sich wieder mir zu. »Wir haben dich gefangengenommen wie einen Sklaven.«
Ich zog an den Handschellen. Sie saßen fest, sie waren geschmiedet worden, um Männer zu halten, selbst Krieger.
»Wir haben beobachtet, wie der fette Kerl von der Schauspielertruppe etwas zu der Sklavin sagte«, sagte Flaminius. »Dann sahen wir, wie sie sich aus dem Lager schlich. Es war klar, daß sie dich warnen wollte. Dann brauchten wir ihr nur noch zu folgen, und die kleine nackte Schlampe hat uns direkt zu dir geführt.«
»Vergib mir, Herr«, stöhnte Lady Telitsia.
»Eigentlich wollten wir im Lager auf dich warten«, sagte Flaminius. »Aber so war es viel einfacher. Zum Beispiel hat es uns das Problem erspart, die Tharlarion verstecken zu müssen, die dich vielleicht mißtrauisch gemacht hätten.«
»Das hätten sie sicher«, sagte ich. »Wie habt ihr mich gefunden?«
»Du befindest dich auf dem Boden Brundisiums«, sagte er.
»Und?«
»Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, über alle Fremden Bescheid zu wissen, die sich innerhalb unserer Grenzen aufhalten«, fuhr er fort. Ich erinnerte mich, daß Boots mir erzählt hatte, daß man in Brundisium aus einem unerfindlichen Grund die Sicherheit übertrieben ernst nahm. Anscheinend war sie noch strenger, als er gewußt hatte, und erstreckte sich auch auf jenseits der Stadtmauern.
»Ich hätte gedacht, daß eine Gruppe Schauspieler nur wenig Verdacht erregen würde«, meinte ich.
»Das ist richtig«, sagte er lächelnd. »Aber einer unserer Agenten hat sich eine eurer Vorstellungen angesehen.«
»Man hat mich erkannt?«
»Nein. Man hat Lady Yanina erkannt.«
»Ich verstehe.« Ich hätte natürlich Boots’ Rat befolgen und ihr in dieser Nähe zu Brundisium die Haube aufsetzen sollen. Doch ich war der Überzeugung gewesen, noch weit genug von der Stadt entfernt zu sein, um so etwas berücksichtigen zu müssen. Ich fragte mich, aus welchem Grund hier so sehr auf die Sicherheit geachtet wurde.
»Wieso hat man sie erkannt?« fragte ich verwirrt. »Sind in Brundisium alle freien Frauen so bekannt?«
»Das nun nicht«, sagte Flaminius. »Glücklicherweise war der betreffende Agent einer der Männer, die einst in Lady Yaninas Diensten standen. Er ist ein lüsterner Bursche, der sie ohne ihr Wissen in ihrem Zelt beobachtet hat wenn sie ohne Schleier ging.«
Ich lächelte. Es amüsierte mich, daß man Lady Yanina auf diese Weise beobachtet hatte. Wie wütend und beschämt wäre sie gewesen, hätte sie erfahren, daß man sie heimlich beobachtete.
»Es war natürlich Lady Yanina, die uns deine Anwesenheit bei den Schauspielern verraten hat«, sagte Flaminius.
»Natürlich.«
»Unser Agent, der nun zu meinen Männern gehört, hat berichtet, daß sie gut aussah, als sie halbnackt an die Wurfscheibe gefesselt wurde.«
»Das tut sie«, stimmte ich ihm zu.
»Ich weiß«, sagte Flaminius. »Nachdem sie uns so eifrig von deiner Anwesenheit berichtet hat, war ich neugierig, und so habe ich dafür gesorgt, daß sie sich uns in ihrem Kostüm zur Schau stellt.«
»Es muß dir gefallen haben, sie auf diese Weise zu sehen, mit ausgebreiteten Armen an das Brett gefesselt.«
»Ja«, meinte er. »Es war beinahe so schön, wie sie im Sklavenkragen zu sehen.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Sie wartet im Lager«, sagte Flaminius. »Es war eine glänzende Idee von dir, der stolzen Lady Yanina einen Getreidesack zum Anziehen zu geben.«
»Vielen Dank.«
»Übrigens trägt sie ihn jetzt wieder; sie hat auch die Hände auf den Rücken gefesselt und ein Seil um den Hals.«
»Warum?«
»Ich glaube, es wird Belnar erfreuen, sie auf diese Weise zu sehen.«
»Das verstehe ich nicht. Hat sie dich denn nicht sofort über meine Anwesenheit bei der Schauspielertruppe informiert?«
»Das schon, aber im Augenblick steht sie bei Belnar nicht gerade in hohem Ansehen.«
»Warum nicht?«
»Dafür gibt es viele Gründe«, sagte er. »Zum Beispiel hatte sie Bosk aus Port Kar in ihrer Gewalt und ließ ihn entfliehen. Sie hat sich wichtige diplomatische Papiere abnehmen lassen. Ich habe sie in der Nähe des Sardar-Jahrmarktes sogar wie eine Sklavin unter einem Tisch angekettet gefunden. Und jetzt finde ich sie als hilflose Gefangene des Bosk aus Port Kar, die nur mit einem Sack bekleidet ist!«
»Ich verstehe.«
»Sie ist tief in seiner Gunst gefallen. Ich bin davon überzeugt, daß man ihr in Brundisium gerade eben erlaubt, eine Sklaventunika zu tragen. Genauso wie ich davon überzeugt bin, daß man ihr Schuhe und Schleier verweigert.«
»Ausgezeichnet«, sagte ich.
»Belnar hat schon oft mit dem Gedanken gespielt, mit ihr kurzen Prozeß zu machen, ihr den Kragen anzulegen und sie einfach zu verkaufen.«
»Wirklich ausgezeichnet«, sagte ich. Es hatte den Anschein, als würde Lady Yaninas Aufstieg in Brundisium lange Zeit in Anspruch nehmen, falls er überhaupt jemals zustande kam.
»Wir kehren jetzt ins Lager zurück«, sagte Flaminius selbstzufrieden. »Dann reisen wir nach Brundisium. Da wir es eilig haben, wirst du auf dem Weg auf einem Tharlarion festgekettet. Wenn wir die Stadttore erreichen, werden du und Lady Yanina natürlich zu Fuß gehen, hilflos und in Ketten.«
»Natürlich«, sagte ich.
»Übrigens«, fragte Flaminius, »was hast du mit den Dokumenten gemacht, die du Yanina abgenommen hast?«
»Sie waren wertlos«, sagte ich. »Da standen nur verwirrende Notizen über irgendwelche Kaissa-Spiele drauf. Ich habe sie weggeworfen.«
»Das überrascht mich nicht«, sagte Flaminius. »Genau, wie ich es erwartet habe. Das habe ich auch Belnar gesagt.«
»Ich hatte gehofft, es würde sich um verkäufliche Botschaften handeln.«
»Wäre das der Fall gewesen«, lachte Flaminius, »hättest du dich zweifellos nicht umherreisenden Schauspielern anschließen müssen.«
»Das ist wahr.«
Dann hatte Flaminius sein Tharlarion langsam angetrieben, und ich war ihm notgedrungen gefolgt. Ich umklammerte die Gitterstäbe des kleinen Zellenfensters und sah auf den Hof hinaus. Dort gab es etwa eine zehn Meter durchmessende, nicht sehr tiefe Grube, die von einem Eisengeländer umgeben war. Um die Grube herum erhob sich eine mehrstöckige runde Tribüne mit hellen Holzbänken, auf denen buntgekleidete, lautstark brüllende Zuschauer saßen. Ich blinzelte in die Sonne. Von den Hofmauern zurückgeworfen, war der Lärm schier ohrenbetäubend. Ich habe für solche Spektakel nicht viel übrig. Einige Männer haben an so etwas ihren Spaß; außerdem laden derartige Unternehmungen zum Wetten ein.
»Sehen dürfen, sehen dürfen«, quiekte der Urtmann, der hinter mir auf dem Stroh hockte. Er scharrte in dem Stroh herum, während er zu mir hochsah.
Ich wandte mich um und streckte ihm die Hand entgegen. Er huschte gelenkig über den steinernen Zellenboden und sprang auf den Tisch. Dann klammerte er sich an meinem Arm fest, griff mit meiner Hilfe nach den Gitterstäben, schob die Unterarme an ihnen vorbei und hielt sich so an ihnen fest
Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen in der Arena zu.
Die drei Sleen, die sich in der Grube befanden, schlichen knurrend und mit peitschenden Schwänzen kaum dreißig Zentimeter über dem Boden in Kreisen um das Objekt ihrer Begierde herum. Das Ungeheuer stand aufrecht und mit jeder Faser seines Seins angespannt in der Mitte der Grube, angekettet an einen Pfahl.
In Port Kar war ein Anschlag auf mein Leben erfolgt. Die Spur dieses Attentatsversuchs führte auf nicht näher zu bestimmende Weise nach Brundisium. Diese Vermutung hatte sich bei meiner ersten Begegnung mit Lady Yanina und Flaminius ausreichend bestätigt. Ich war zu dem Schluß gekommen, daß zwischen Brundisium und den Priesterkönigen oder den Kurii eine Verbindung bestand. Im Verlauf der letzten Wochen war es mir immer unwahrscheinlicher erschienen, daß es die Priesterkönige waren. Ich war anhand der Umstände zu dem Schluß gekommen, daß es die Kurii sein mußten. Nun mußte ich gezwungenermaßen die einst so überzeugende Hypothese fallen lassen.
Der angreifende Sleen stieß einen schrillen Schrei aus, der in einem plötzlichen panischen Quieken endete, als er fast in zwei Stücke gebissen zur Seite geschleudert wurde. Auch die beiden anderen Sleen griffen an und verbissen sich wie zwei Aale in der angeketteten Bestie. Die Zuschauer tobten. Der Bestie lief das Blut in Strömen an Armen und Beinen hinunter. Sie wälzte sich im blutigen Sand, kämpfte und wand sich, doch die Sleen ließen nicht los. Die Ketten klirrten, die Menge tobte, die Sleen jaulten auf.
»Schön! Schön! Wetten! Wetten!« rief der Urtmann neben mir und klammerte sich an dem Gitter fest.
Mir war klar geworden, daß in Brundisium weder Priesterkönige noch Kurii ihren Einfluß ausübten oder gar besondere Privilegien hatten.
Die Bestie in der Grube packte den Sleen, der sich in ihr Bein verbissen hatte, und brach ihm mit einem Prankenschlag das Genick. Dann pflückte sie sich den anderen Sleen vom Arm und stieß ihm die krallenbewehrte große Pranke in den geifernden Rachen, wühlte sich immer tiefer, bis sie die Lungen erreicht hatte, und brachte eine Handvoll davon ans Tageslicht. Dann schleuderte sie den Sleen zu Boden, warf den Kopf in den Nacken, öffnete die Schnauze mit den Reißzähnen, auf denen frisch vergossenes Blut glänzte, und schrie der mittäglichen Sonne, den Türmen Brundisiums und der Menge ihre Verachtung entgegen.
»Dreimal!« rief der Urtmann. »Dreimal! Weiterleben!«
Anscheinend hatte die Bestie die Grube nun bereits das dritte Mal überlebt.
»Wetten! Wetten! Wetten! Mich bezahlen!«
Jetzt näherten sich Soldaten mit angelegten Armbrüsten und Speeren der Bestie so vorsichtig wie möglich. Sie warfen Seile nach ihr und zogen die Schlingen zu. Das Ungeheuer schien sie kaum zu bemerken; es fraß einen der toten Sleen.
Nein, es war nicht sehr wahrscheinlich, daß Brundisium von den Kurii beherrscht wurde.
Ich blieb am Fenster stehen, bis die Bestie halb aus der Grube gezerrt und halb gestoßen wurde. Sie verließ sie knurrend, aber lammfromm. Sie zog noch immer ein Stück Sleen hinter sich her.
Das blutverschmierte Ungeheuer aus der Grube war ein Kur.
Ich fand dies natürlich ziemlich beunruhigend. Ein ganzes Bauwerk alles erklärender Hypothesen und wohlüberlegter Spekulationen war in sich zusammengestürzt. Nun sah es so aus, als hätten weder Priesterkönige noch Kurii etwas mit Brundisium zu tun. Aber warum war dann in Port Kar der Anschlag auf mich erfolgt und woher kam das offensichtliche Interesse, das einige maßgebliche Leute Brundisiums an meiner Person hatten? Wieso war ich wichtig für sie? Und was bedeuteten die Botschaften, die ich abgefangen hatte? So wie es aussah, waren sie für jemanden in Ar bestimmt gewesen. Ich verstand nichts mehr. Ich wußte nicht, was ich von alldem halten sollte. Eine Sache allerdings war klar. Ich steckte in Brundisium in einer Zelle, war der Macht meiner Häscher ausgeliefert.
Ich trat vom Fenster zurück und sprang zu Boden. Mein Mitgefangener folgte meinem Beispiel und zog sich auf sein Stroh zurück. Ich schob den Tisch zurück in die Mitte der Zelle, wo er wieder zwischen zwei Sitzbänken stand. In solch einer Zelle – sie war recht angenehm, was goreanische Zellen anging – dienen Tische und Bänke einem praktischen Zweck. Sie helfen, das Essen aus der Reichweite der Urts zu halten, und in der Nacht kann man darauf schlafen.
»An die Wand, auf die Knie!« erscholl eine Stimme.
Der Urtmann und ich gehorchten. Es war Essenszeit.
Am ersten Tag meiner Gefangenschaft hatte ich mich in Nähe des Gitters herumgetrieben, in der Hoffnung, den Gefangenenwärter überwältigen zu können. Das hatte dazu geführt, daß ich an diesem Tag nichts zu essen bekam. Am nächsten Tag gehorchte ich, denn ich wollte mein Essen haben. Am Abend des zweiten Tages meiner Gefangenschaft, des vierten Tages nach dem Überfall auf der Straße, war der Urtmann in meine Zelle gestoßen worden. Ich war nicht sonderlich über seine Gesellschaft erfreut gewesen, aber er kannte sich mit dem Gefängnisalltag aus.
Der Gefangenenwärter warf einen Blick in die Zelle. »Der Tisch ist bewegt worden«, sagte er. Vermutlich hatten ihm das die verwischten Abdrücke im Staub verraten. Ich hatte nicht gewußt, daß das verboten war. Denn in diesem Fall hätte ich den Urtmann an der Tür postiert, damit er mich beim Herannahen des Wärters hätte warnen und ich den Tisch sorgfältig an seinen Platz hätte stellen können. Ich hoffte, daß dieser neue Verstoß gegen die Regeln, falls es überhaupt ein Verstoß war, nicht mit Essensentzug bestraft wurde. Es war zwar nicht viel, aber ich wollte es haben.
Der Wärter stellte zwei Tabletts vor dem Gitter ab und schob sie mit dem Fuß durch die niedrige rechteckige Öffnung am Fuß der Zellentür. Er blieb stehen. Also durften wir uns dem Essen nicht nähern. »Bosk aus Port Kar«, sagte er und lachte. »Auf den Knien wartet er auf sein Essen!«
Ich würdigte ihn keiner Antwort. Ich wollte das Essen haben und war erleichtert, daß er das Tischeverrücken nicht beanstandet hatte. Da kam mir plötzlich der Gedanke, welch bemerkenswerte Tatsache es doch überhaupt war, daß ein Tisch in der Zelle stand. Normalerweise behandelten goreanische Gefängnisaufseher ihre Schützlinge nicht so fürsorglich. Warum hatte man uns nicht an die Wand gekettet und uns gezwungen, mit Insekten und Ungeziefer um unser Essen zu kämpfen? Auf Gor verhätschelte man seine Gefangenen nicht. Ich fragte mich, ob der Tisch für einen bestimmten Zweck in der Zelle stand, vielleicht hatte ich sehen sollen, was draußen auf dem Hof geschah.
Der Wärter ging.
Der Urtmann sah mich verstohlen und ängstlich an.
Ich stand auf und holte mir mein Tablett. Ich stellte es auf den Tisch und setzte mich auf eine Bank.
Der Urtmann eilte zu seinem Essen und zog das Tablett schnell zu seinem Strohhaufen; es knirschte, als Metall über Stein schabte. Er stopfte das Essen schnell in sich hinein, wobei er mich keinen Augenblick lang aus den Augen ließ. Vermutlich hatte er Angst, ich könnte ihm etwas wegnehmen. Was mir auch nicht schwergefallen wäre, hätte ich es gewollt.
Draußen in dem Korridor ertönte ein tiefes Knurren, dem das Schaben von Krallen auf dem Steinboden folgte. Ich hörte außerdem mehrere Männer und Waffengeklirr. Einen Augenblick später führte man den Kur aus der Grube vorbei, stieß ihn in eine freie Zelle und befreite ihn dabei von seinen Seilen; die Kette um den Hals behielt er allerdings. Von dem Stück Sleen war nichts mehr zu sehen, entweder hatte er es aufgefressen, oder man hatte es ihm abgenommen. Er war langsam an uns vorbeigegangen, langsam und steif, als leide er große Schmerzen. Jetzt, da er nicht länger um sein Leben kämpfen mußte, erschien er erschöpft und schwach. Große Teile seines Fells waren mit getrocknetem Blut verklebt. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß er einen weiteren Kampf in der Grube überstehen würde. Als er an unserer Zelle vorbeigegangen war, hatten sich unsere Blicke gekreuzt. In seinen Augen funkelte unheilvoller Haß; ich war schließlich ein Mensch.
Ich blickte zu dem Urtmann hinüber. Er eilte flink auf seinen Strohhaufen zurück, ging in die Hocke und sah mich an. Er hatte es fast bis zum Tisch geschafft. Sein Tablett war leer, und so lag die Annahme nicht fern, daß er geplant oder zumindest gehofft hatte, etwas von meinem Essen zu stehlen, solange ich von dem Kur auf dem Korridor abgelenkt wurde. Ich lächelte. Der kleine Mann kannte sich in der Tat mit dem Ablauf und den Gelegenheiten des Gefängnislebens aus.
Er wandte den Blick ab und gab vor, im Stroh nach Läusen zu suchen.
Er war ein Urtmensch. Er hatte ein langes schmales Gesicht mit ziemlich großen eiförmigen Augen. Schultern und Brust waren ebenfalls auffallend schmal, die Arme waren lang und dünn, die Beine kurz und spindeldürr. Für gewöhnlich bewegte er sich schnell und vornübergebeugt vorwärts, wobei die Fingerknöchel oft den Boden berührten und er ständig mit dem Kopf hin- und herschaukelte. Diese niedrige Gangart bewirkt, daß die Urtmenschen nicht in der großen Urtherde auffallen, in deren Mitte sie sich meistens bewegen. Manchmal ziehen solche Rudel durch besiedelte Gebiete, und niemand bemerkt, daß an ihrer Seite Urtmenschen reisen. Die Rudel bieten ihnen Deckung und Schutz. Aus irgendeinem Grund, der mir entfallen war, griffen die Urts sie nur selten an. Manchmal richten sich die Urtmenschen unerwartet zu ihrer vollen Größe auf, sehen sich um und gehen dann noch gebückter weiter. Sie können sich außerordentlich leise bewegen, um dann ganz plötzlich in einen schnellen Lauf zu verfallen.
Ich machte ein leises klickendes Geräusch, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Sofort ruckte sein Kopf herum.
Ich winkte ihm zu, näher zu kommen.
Plötzlich richtete er sich zu seiner vollen Größe auf.
»Komm her!« sagte ich und unterstrich meine Worte mit einer Geste.
Aufgerichtet war der Urtmann etwa einen Meter zehn groß.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte ich und nahm ein Stück harte Larma vom Teller. Das ist eine feste apfelähnliche Frucht, die sich stark von der in Abschnitte geteilten saftigen Larma unterscheidet. Manchmal wird sie – vielleicht sogar passenderweise – auch Kernlarma genannt, wegen des großen Kerns. Ich hielt sie in die Höhe, damit er sie sehen konnte. Soviel ich wußte, waren Urtmenschen ganz versessen auf diese Frucht. Übrigens war eine Larma daran schuld, daß man meinen Mitgefangenen eingesperrt hatte. Er war beim Stehlen im staatlichen Obstgarten erwischt worden, und man hatte ihn mit einem Netz eingefangen, ihn in einen Sack gesteckt und ins Gefängnis geworfen. Das war vor sechs Monaten gewesen, wie mir der Wärter erzählt hatte, als er den Urtmann in meine Zelle gestoßen hatte.
Er kam vorsichtig näher. Dann hob er den langen Arm und wies mit dem langen Zeigefinger auf die Frucht. »Wette! Wette!« sagte er. »Bezahlen! Bezahlen!«
»Nein«, sagte ich. »Ich habe nicht mit dir gewettet.« Er bezog sich vermutlich auf die Wetten des Kuriikampfes, die heute morgen unter unserem Fenster abgeschlossen worden waren. Vermutlich hatte er die Begriffe von den Zuschauern aufgeschnappt. Ich wußte nicht, ob er überhaupt begriff, was das Wort Wette bedeutete.
»Ich schulde dir gar nichts«, sagte ich. »Sie gehört mir.«
Der Urtmann schrak ängstlich ein Stück zurück.
»Aber ich will sie dir geben.«
Er sah mich an.
Ich brach ein Stück von der Frucht ab und gab es ihm. Er schlang es hinunter, ohne mich aus den Augen zu lassen.
»Komm her«, sagte ich. »Hier herauf.« Ich zeigte auf die Tischoberfläche.
Er sprang mit einem Satz hinauf.
Ich brach noch ein Stück von der harten Frucht ab und gab es ihm. »Wie ist dein Name?«
Er stieß ein zischendes Quietschen aus, vermutlich seinen Namen. Soweit ich wußte, verständigten sich die Urtmenschen innerhalb eines Rudels mit Hilfe solcher Signale. Wie kompliziert oder aussagekräftig diese Signale waren, vermochte ich nicht zu sagen. Sie ähnelten den natürlichen Geräuschen der Urts. Auf diese Weise verschleierten die Urtmenschen vor Außenstehenden ihre Anwesenheit inmitten des Rudels und vermutlich auch vor den Urts selbst. Doch ich wußte, daß sich die Urtmenschen bei ihren seltenen Kontakten mit der Zivilisation mit einer Art Goreanisch verständigen konnten. Viele der Wörter bestanden nur noch im Kern, aber andere ähnelten interessanterweise stark archaischem Goreanisch, einer Sprache, die schon seit Hunderten von Jahren auf Gor nicht mehr gesprochen wird, von Mitgliedern der Kaste der Wissenden abgesehen.
Es bereitete mir jedoch kaum Schwierigkeiten, den Urtmann zu verstehen. Er schien recht klug zu sein, und sein Goreanisch unterschied sich beträchtlich von dem üblichen Kauderwelsch der Urtmenschen. Zweifellos war es im Gefängnis verbessert worden. Die Urtmenschen lernen schnell, sie sind vernunftbegabt. Manche Leute halten sie als Haustiere, doch in meinen Augen sind es menschliche Wesen – oder sie waren es zumindest einmal. Als vor langer Zeit einige der Urt-Arten Gefährten des Menschen wurden, gab es vielleicht auch Menschen, die sich den unablässig auf der Wanderschaft befindlichen Urts anschlossen, Reisegefährten, die sich sozusagen an denselben Tisch setzten.
»Wie nennt man dich hier?« fragte ich.
»Nim Nim«, sagte er.
»Ich heiße Bosk.«
»Bosk. Bosk«, sagte er. »Lieber Bosk. Netter Bosk. Mehr Larma! Mehr Larma!«
Ich gab Nim Nim noch ein Stück von der Larma.
»Bosk will fliehen?« fragte er.
»Ja.«
»Böse Männer wollen Bosk Schreckliches antun.«
»Was denn?«
»Nim Nim Angst zu sagen.«
Ich ließ ihm Zeit.
»Kaum Zellen haben Tisch«, sagte er ängstlich. »Bosk nicht angekettet.«
Ich nickte. »Ich glaube, ich verstehe.« Da ich nicht angekettet gewesen war, hatte ich mit Hilfe des Tischs das grausame Spektakel in der Grube verfolgen können. Die Andeutungen des kleinen Urtmannes gaben mir reichlich Stoff zum Nachdenken. Ich erschauderte. An diesem Ort mußte man mir einen großen Haß entgegenbringen.
»Mehr Larma!« sagte Nim Nim. »Mehr Larma!«
Ich gab ihm noch ein Stück. Es war nicht mehr viel übrig. »Sie wollen mich in die Grube stecken«, dachte ich laut nach.
»Nein«, sagte Nim Nim. »Schlimmer. Viel schlimmer. Nim Nim helfen.«
»Ich verstehe nicht.«
»Bosk will fliehen?«
»Ja.«
»Mehr Larma!«
Ich gab ihm das letzte Stück.
»Bosk will fliehen?«
»Ja«, sagte ich.
»Nim Nim helfen.«