14

Ich ging im Licht der drei Monde über den Gefängnishof und stieg in die Grube hinunter.

»Wer geht da?« rief eine Stimme.

»Ich habe dich im Bankettsaal nicht finden können«, antwortete ich. »Also dachte ich mir, daß du hier bist.«

»Wer bist du?« rief der Mann. »Bleib stehen. Komm nicht näher!«

Ich ließ den Saum meines Gewandes vom Arm gleiten. »Erinnerst du dich nicht mehr an mich?«

»Tritt aus den Schatten heraus!« verlangte der Gefängniswärter und wich ein Stück zurück. »Wie ist die Parole?«

»Stahl!«

Er trat weiter zurück.

Mein Schwert glitt aus der Scheide. Das dabei entstehende Geräusch war unmißverständlich.

Der Wärter wich noch weiter zurück. »Glaubst du im Ernst, du könntest die Alarmstange erreichen, bevor ich bei dir bin?« Da zog auch er das Schwert. Ich trat aus den Schatten.

»Du!« schrie er.

»Ja.«

Er stürmte auf mich zu. Der Kampf dauerte nicht lange. Mein Gegner war nicht ungeschickt. Einmal stürzte er, da er über die Ketten stolperte, die die Bestie an den Pfahl gefesselt hatten. Ich erlaubte ihm, aufzustehen. Dann machte ich ein Ende. Ich nahm mir die Schlüssel vom Gürtel des Toten. Ich betrat den Saal.

Als ich an dem kochenden Kessel Tharlarionöl vorbeiging, stand das Spiel einen Zug vor seinem Ende. Ich begab mich in die Nähe des Spielbretts und lauschte den Bemerkungen der Männer.

»Ein solches Spiel habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen«, schwärmte ein Mann.

»Es war kein Gemetzel, sondern eine tiefe Demütigung.«

»Temenides hat einen Spielstein nach dem anderen verloren. Ihm ist nur sein Heimstein geblieben, der von Feinden umzingelt ist.«

Ich warf einen Blick auf das Brett. Der Spieler hätte das nicht tun müssen. Zweifellos hatte es hundert Augenblicke gegeben, in denen er das Spiel hätte beenden können, aber er hatte es vorgezogen, mit seinem Gegner zu spielen, ihm die Steine abzunehmen, ihn wie ein Tarsk mit einem Ring durch die Nase hilflos über das Brett zu zerren.

»Laßt das Feuer unter dem Öl höher brennen«, befahl Belnar.

»Ja, Ubar.«

Temenides saß mit leichenblassem Gesicht vor dem Brett.

»Gefangennahme des Heimsteins«, verkündete der Spieler.

»Ein ausgezeichnetes Spiel«, sagte Belnar.

»Ich danke dir, Ubar«, sagte Scormus aus Ar und erhob sich.

Temenides rührte sich nicht. Er blieb vor dem Brett sitzen, vor Entsetzen gelähmt.

Ich hatte den Spieler schon damals in Port Kar bei unserer ersten Begegnung erkannt oder zumindest vermutet, wer er war. Sein Hinken war verräterisch, so verräterisch, wie es sein Benehmen und seine Sprechweise waren. Ich hatte ihn vor langer Zeit einmal im Haus des Cernus in Ar spielen sehen. Seine Empfindlichkeit bei der Erwähnung von Scormus aus Ar und Centius aus Cos und ihrem großen Spiel 10125 C.A. war ebenfalls verräterisch gewesen. Außerdem war sein Spiel großartig. Wie viele arme Spieler besaßen wohl einen Meisterpokal, der aus Ar stammte, jenen Pokal, den die Straßenräuber beim Überfall auf das Lager der Schauspieler erbeutet und so begehrenswert gefunden hatten, den Pokal, den der Spieler so eilig wieder versteckt hatte? Er hatte ihn nie verkauft und ihn auch nicht weggeworfen. Unter dem dunklen Gewand und der furchteinflößenden Maske war er in seinem Herzen immer Scormus aus Ar geblieben, ein loyaler Bürger der Stadt.

»Macht die Sklavin los«, sagte Belnar. »Sie gehört Scormus aus Ar. Er hat sie sich verdient.«

Ein Wächter befreite Bina von ihren Fesseln, und sie warf sich vor Freude weinend Scormus zu Füßen. »Ich bin dein!« rief sie. »Ich bin dein!«

»Das weiß ich«, erwiderte Scormus.

»Ich liebe dich«, schluchzte sie.

»Auch das weiß ich.«

»Nehmt Temenides gefangen«, befahl Belnar. »Zieht ihn aus, bindet ihn. Legt ihm das Eisen um den Hals.«

Wächter ergriffen den stöhnenden Temenides, rissen ihm das Gewand vom Leib und fesselten ihm die Hände auf den Rücken. Dann legte man ihm den schweren Eisenring an, der ihn im Ölkessel festhalten sollte. Er blickte sich wild um. »Ubar!« schluchzte er.

»Ich habe das Öl heiß werden lassen«, sagte Belnar. »Zweifellos kocht es bereits. Dein Ende wird schnell kommen. Wir haben nicht vergessen, daß Temenides ein Gast Brundisiums ist.«

»Ubar!« schluchzte Temenides.

Scormus räusperte sich.

»Ja, Spieler?« Offensichtlich hatte Scormus den Respekt des Ubars errungen. Auf Gor gibt es nur wenige Männer, die nicht von der Kunst eines Großmeisters begeistert sind.

»Wenn ich mich recht erinnere, liegt das Leben von Temenides, meinem ehrenhaften Gegner, den ich in der Hitze des Augenblicks vielleicht etwas grob behandelt habe, in meiner Hand und nicht in deiner.«

»So ist es«, sagte Belnar. »Entschuldige, Spieler. Ich war gedankenlos. Ich werde das Öl abkühlen lassen, damit man es langsam wieder zum Kochen bringen kann. So wird die Qual deines Gegners allmählich gesteigert, was die Angelegenheit sicherlich kurzweiliger macht.«

»Das wird nicht nötig sein«, sagte Scormus.

»Spieler?«

Scormus wandte sich an Temenides. »Ich werde dir dein Leben, das in meiner Hand liegt, schenken, und zwar gern. Es gehört wieder dir. Nimm es mitsamt den Soldaten in deiner Begleitung, die Cos seltsamerweise an diesen Ort entsandt hat, und verlaß Brundisium noch in dieser Nacht.«

»Kastenbruder«, rief Temenides dankbar. Ein paar Männer seiner Eskorte befreiten ihn und warfen ihm sein Gewand über die Schultern. Dann eilte er mit ihnen aus dem Saal. Belnar sah ihnen nach. Er wandte sich an einen Diener und flüsterte ihm ein paar Worte zu. Der Diener verließ ebenfalls den Saal.

»Scormus aus Ar ist großzügig«, sagte Belnar.

Scormus neigte kurz den Kopf. Obwohl Belnar lächelte, konnte ich mir nicht vorstellen, daß ihn der Ausgang des Abends erfreute. Er sah noch einmal in Richtung der großen Flügeltür, durch die Augenblicke zuvor Temenides und die Soldaten aus Cos verschwunden waren. Belnar hatte offensichtlich damit gerechnet, daß Temenides den maskierten Fremden besiegte, den man für einen unbedeutenden Spieler gehalten hatte. Dieser Ausgang gefiel ihm nicht. Ich war davon überzeugt, daß er mit Temenides unzufrieden war, genau wie ich davon überzeugt war, daß ihm die Anwesenheit von Scormus aus Ar in seinem Palast Unbehagen einflößte. Er wandte sich höflich an Scormus. »Spieler«, sagte er, »erweise uns die Ehre, am Tisch von Brundisiums Ubar zu sitzen.«

»Ich danke dir, Ubar, aber mit deiner gütigen Erlaubnis zöge ich es vor, mich in mein Quartier zurückziehen zu dürfen.« Er warf Bina einen Blick zu. »Darauf wartet schon jemand.«

»Herr«, flüsterte Bina und fuhr mit der Zunge über seinen Oberschenkel.

»Natürlich«, sagte Belnar grinsend.

»Ubar, wir sind weit gereist, um dich und deinen Hof zu unterhalten, und sind erschöpft«, meldete sich jetzt auch Boots zu Wort. »Bitte erlaube mir und meiner Truppe, daß wir uns zurückziehen. Es hat uns großes Vergnügen bereitet, vor dir spielen zu dürfen.«

»Für einen Sack voll Gold sollte es auch Vergnügen bereiten«, sagte Belnar. Die Höflinge und Gäste lachten. Belnar lächelte, erfreut über die Reaktion auf seinen Spott. »Ihr dürft gehen.«

»Wir danken dir, Ubar«, sagte Boots und verbeugte sich tief. Er schloß sich Scormus und Bina an, gefolgt von seiner ganzen Truppe. Sie verließen den Saal. Natürlich hatten sie nicht vor, ihre Quartiere aufzusuchen. Sie würden aus der Stadt flüchten, und zwar mit Hilfe von vorher vorbereiteten Ausreisepapieren, die Lady Yanina nichtsahnend auf Boots’ Bitte hin, der ein Talent für solche Einzelheiten hatte, der Truppe ausgestellt hatte. Ich mischte mich wieder unter die anderen Gäste. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Alarm geschlagen wurde.

»Kommt, meine Gäste, kehrt auf eure Plätze zurück«, sagte Belnar fröhlich. »Die beste Unterhaltung des Abends kommt noch!« Alles setzte sich wieder. Nackte, parfümierte Sklavinnen eilten umher und brachten Wein, Delikatessen und andere ausgesuchte Köstlichkeiten.

»Wo bleibt Lady Yanina?« wandle sich Belnar gereizt an Flaminius.

»Ich weiß es nicht, Ubar«, gab Flaminius zu.

»Sie kommt zu spät.«

»Ja, Ubar.«

»Sie hätte schon längst hier sein sollen.«

»Ja, Ubar.«

»Ich weiß, daß du wegen ihrer Schönheit ein Auge auf sie geworfen hast. Ich hoffe doch nicht, daß du sie am Abend ihres Triumphs in eine Villa außerhalb der Stadtmauern verschleppt hast, wo sie dich in Ketten erwartet.«

»Nein, Ubar.«

»Das war ein Scherz.«

»Sicherlich, Ubar«, erwiderte Flaminius unbehaglich und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Bürger Brundisiums, verehrte Gäste«, rief Belnar und stand auf. »Ich hätte es vorgezogen, wenn Lady Yanina, diese hervorragende Bürgerin Brundisiums, die euch allen bekannt ist, diese wahre Dienerin unseres Hofs und unseres Staates, die liebliche Hofdame, meine vertrauensvolle, wunderschöne Agentin, den nächsten Teil der abendlichen Unterhaltung angekündigt hätte, denn der Triumph dieses Augenblicks gehört auf eine ganz besondere Weise ihr! Doch sie ist verhindert! Unglücklicherweise müssen wir, da sich der Abend nun dem Höhepunkt nähert, ohne sie fortfahren.«

Enttäuschte Rufe erschollen.

»Sollen wir noch länger warten?« fragte Belnar.

»Nein«, riefen einige der Gäste. »Weitermachen.«

»Holt die Truhe und stellt sie auf die Bühne«, befahl Belnar.

Ein paar Soldaten betraten den Saal. Sie trugen die große Truhe, die einst im Requisitenwagen von Boots Tarskstück gestanden hatte. In diesem Wagen bewahrte Boots alle möglichen Dinge auf, Souvenirs, Kostüme und Bühnenutensilien. Er transportierte dort auch die Gegenstände, die mit seinen Zauberkunststücken zu tun hatten. Es schien eine ganz gewöhnliche Truhe zu sein, und man konnte sie auch für diesen Zweck benutzen, wenn einem der Sinn danach stand. In dieser Truhe hatte man mich nach Brundisium gebracht; es war die Truhe, in der Lady Yanina mich als völlig hilflosen, in Ketten gelegten Gefangenen ihrem Ubar Belnar von Brundisium hatte übergeben wollen.

»In dieser Truhe liegt unserer Gnade ausgeliefert ein in Ketten gelegter Feind Brundisiums, ein hochmütiger Kerl, der es gewagt hat, unserem Thron zu mißfallen, ein Kapitän und Sklavenhändler aus Port Kar, von dem ihr vielleicht schon gehört habt, der angeblich so mächtige und gefürchtete Bosk aus Port Kar!«

An diesem Punkt von Belnars Ansprache setzte heftiger Applaus ein.

»Zur Strecke gebracht von unserer Lady Yanina!« rief Belnar.

Alles lachte.

»Nachdem er, wie man vielleicht erwähnen sollte, gewissen Männern irgendwie durch die Finger geschlüpft ist«, fügte Belnar hinzu und warf Flaminius einen gutmütigen Blick zu. Flaminius lächelte trocken, wie es sich gehörte. Gelächter erscholl. Er ballte die rechte Hand zur Faust. Es gab keinen Zweifel, dieser Abend würde für Lady Yanina zum Triumph werden. Sie hatte nicht nur über mich einen Sieg davongetragen, über einen Kerl namens Bosk, der aus einer anderen Stadt kam, nein, viel wichtiger war, daß sie auch ihren Rivalen Flaminius besiegt hatte. Mir fielen ihre Worte wieder ein, die sie mir in Boots’ Lager entgegengeschleudert hatte. »Du wirst dafür sorgen, daß ich in Brundisium zu neuen Höhen der Macht aufsteigen werde!« Ich wußte noch immer nicht, warum ich für den Ubar Brundisiums von solchem Wert war.

»Ich bin zufrieden mit Lady Yanina!« rief Belnar den Gästen zu.

Alles applaudierte.

»Es ist meine Absicht, sie reich zu belohnen«, sagte Belnar. »Sie wird meine Großzügigkeit kennenlernen. Sie wird mit Gold, Macht, Privilegien und einem hohen Rang belohnt werden!«

»Belnar der Großzügige!« riefen einige Höflinge. »Belnar der Große!« Belnar senkte bescheiden den Kopf und winkte halbherzig ab. Das rief noch mehr Applaus hervor. Viele Männer hatten sich von ihren Plätzen erhoben. Ich gewann den Eindruck, daß Höflinge schnell bereit waren, jede Großzügigkeit ihres Herrn zu feiern. Flaminius enthielt sich jeder Beifallsbekundung. So großzügig Belnar auch mit jenen verfahren mochte, die ihm zu seiner Zufriedenheit dienten, bezweifelte ich doch keinen Augenblick lang, daß er jene, die ihn enttäuschten, mit entsprechender Gnadenlosigkeit bestrafte.

»Ich wünschte nur, Lady Yanina wäre hier, daß sie am Abend ihres Triumphs unter uns wäre.«

Die Höflinge gaben enttäuschtes Gemurmel von sich. Doch ich war davon überzeugt, daß es die meisten der Anwesenden vermutlich freute, daß die Lady Yanina nicht unter ihnen weilte. Schließlich war sie bloß ein Höfling unter vielen und stand deshalb sicher mit ihnen allen auf Kriegsfuß, nicht nur mit Flaminius. Es ist eine Sache, die Großzügigkeit eines Ubars zu preisen, und eine ganz andere, die Beförderung eines möglichen Konkurrenten mit von Herzen kommendem Enthusiasmus zu feiern. Belnar hatte offensichtlich sein Vergnügen an der Sache. Hätte Lady Yanina an seinem Tisch gesessen, hätte er diesen Augenblick des Triumphs teilen müssen; man konnte wohl davon ausgehen, daß er trotz seiner Absichten und Beteuerungen ihre Abwesenheit nicht sehr bedauerte.

»Öffnet die Truhe!« rief Belnar. »Soll Bosk aus Port Kar, hilflos und ein Narr, der sich von Lady Yanina gefangen nehmen ließ, unserem Vergnügen dienen!«

Zwei Soldaten begaben sich zur Truhe. Der Schlüssel hing an einem Strick. Einer von ihnen schob den Schlüssel in das erste Schloß. »Beeilt euch, Leute!« feuerte Belnar die Männer an. Der Schlüssel verschwand im zweiten Schloß, einen Augenblick später wurde der schwere Deckel zurückgeklappt. Männer standen von den Tischen auf, um besser sehen zu können. In der Truhe befand sich ein Sack. Es war ein großer Sack. Er bestand aus schwerem, widerstandsfähigem Leder. Er war fest verschnürt. Die Soldaten hoben den Sack in die Höhe und stellten die darin befindliche Person auf die Füße. Aber sie schien nicht groß genug für einen Mann zu sein, erst recht nicht für jemanden wie Bosk aus Port Kar. Sie war viel zu klein, zu schmal. Außerdem schienen der gefangenen Person männliche Konturen zu fehlen. Dafür waren deutlich hinreißende weibliche Formen zu sehen. Die Soldaten sahen sich verblüfft an. Männer wechselten Blicke. Im Saal herrschte Stille.

»Öffnet den Sack«, befahl Belnar.

Mit fliegenden Fingern zerrte einer der Soldaten an dem Knoten, der den Sack verschloß. Es handelte sich natürlich nicht um denselben Sack, in den man mich gesteckt hatte; er hatte in der Truhe unter dem ersten verborgen gelegen. Der erste Sack hatte eine geschickt angebrachte, verborgene Öffnung unter einem doppelten Saum besessen, durch die ein Darsteller ganz nach Wunsch hinein- oder heraussteigen konnte. Bei dem zweiten Sack hatte es sich um einen ganz gewöhnlichen Sklavensack gehandelt, den man auf Gor zum Sklaventransport benutzte. Er war stabil genug, um einen kräftigen Mann zu halten.

»Macht schnell!« rief der Ubar.

Die Soldaten rissen den Sack auf und zogen ihn von der Gestalt herunter; Kopf und Schultern wurden sichtbar. Die Person trug eine Haube.

»Es ist eine Frau«, sagte jemand in die Stille hinein.

Der Sack wurde weiter nach unten geschoben. Die Frau war nackt. Sie warf den von einer Haube verhüllten Kopf in den Nacken. Dann riß sie wild an den Sklavenhandschellen, die ihre Handgelenke auf dem Rücken hielten. Das waren nicht die schweren Trickhandschellen, die man mir in Boots’ Lager angelegt hatte. Die hatte ich sofort abgestreift, nachdem man mich in den Sack gesteckt hatte.

»Wer hat eine Sklavin in die Truhe gesteckt?« brüllte Belnar, außer sich vor Wut. »Soll das ein Scherz sein?«

»Wo ist Bosk aus Port Kar?« fragte ein Gast.

»Nehmt der Sklavin die Haube ab!« befahl Belnar.

»Sie hat ja gar kein Brandzeichen«, rief einer der Soldaten Belnar zu. Er hatte den Sack gerade bis zu ihren Knien hinuntergeschoben und drehte sie auf der Suche nach dem Brandmal grob hin und her.

»Die Haube ab!« brüllte Belnar.

Ein Soldat hielt die Frau fest, während der andere an den Schnallen der Haube herumfingerte, die sich unter dem Kinn befanden.

»Schnell!« brüllte Belnar.

Die Truhe auf der Bühne war dieselbe, in die man mich in Boots’ Lager gesteckt hatte. Allerdings hatte ich für ein paar Veränderungen gesorgt. Ich hatte Hinterseite und Boden, die man beide von innen und von außen öffnen konnte – das richtete sich danach, ob zum Ausstieg auf der Bühne eine Falltür oder eine Öffnung in der Wand benutzt wurde –, fest verschlossen, und zwar mit Hilfe der dort angebrachten Riegel. So wurde aus der Tricktruhe eine ganz normale Truhe. Das war nicht nur dann nützlich, wenn man sie zum Transport von Gegenständen benutzte, sondern auch für den Fall, daß sie bei einer Vorstellung von einem Zuschauer überprüft wurde. Danach ist es nicht schwer, unter irgendeinem Vorwand die Riegel in die Lage zu schieben, die man wünscht; natürlich befinden sie sich an der Außenseite der Truhe, so daß sie von dem Zauberer auf der Bühne bedient werden können. Sollte er das vergessen, ist der Darsteller in der Truhe natürlich gefangen. Genau das hatte ich getan. So war es der Person in der Truhe unmöglich, aus ihr zu entkommen – auch dann, wenn sie nicht gefesselt gewesen wäre und in einem Sack gesteckt hätte.

»Schnell!« brüllte der Ubar.

Man riß der Frau die Haube vom Kopf. Sie rollte wild mit den Augen. Ihr Gesicht war rot angelaufen. Sie warf den Kopf zurück und befreite ihr Antlitz von dem feuchten Haar.

»Lady Yanina!«

Sie konnte nicht sprechen. Sie wimmerte. Der von einem Tuch gehaltene Knebel saß noch immer fest in ihrem Mund.

»Nehmt ihr den Knebel ab!« rief Belnar. Lady Yanina legte den Kopf in den Nacken, während einer der Soldaten sich mit den Knoten des Tuches abmühte. Nachdem mir die List mit der Truhe den Zutritt zur Stadt und zum Palast verschafft hatte, hatte ich einige Stunden gewartet, bis ich sie verließ und die Uniform eines brundisischen Soldaten anlegte. Die Uniform war aus Kostümen in Boots’ Fundus zusammengestellt worden. Spät in der Nacht hatte ich, einen Sklavensack mit den nötigen Utensilien unter dem Arm, die Gemächer von Lady Yanina aufgesucht. Ein Pochen an der Tür und die Nachricht, daß Belnar sie wegen eines Notfalls dringend brauche, hatten gereicht. Sie war zur Tür geeilt, nur mit einem dünnen Gewand bekleidet. Ich war eingetreten, hatte sie überwältigt, ausgezogen und verpackt. Ein paar Augenblicke später war ich durch die Gänge des Palastes geeilt, einen vollen Sklavensack mit mir schleppend. In einem Raum abseits des großen Saales hatte ich sie dann in die dort stehende Truhe verfrachtet, und zwar durch die hintere Seite. Dann hatte ich die Riegel vorgeschoben. Die Schlösser, an denen die Schlüssel hingen, waren nicht berührt worden. Alles sah so aus wie zuvor. Nur daß die Truhe jetzt einen neuen Gefangenen hatte. Dann hatte ich mit Hilfe meiner Maske als angeblicher Offizier das Gemach gesucht, in dem der Mann aus Turia schlief. Er war so freundlich gewesen, mir seine Papiere zu leihen, durch die ich mir am darauffolgenden Abend den Zugang zum Bankett verschafft hatte.

»Ubar!« rief Lady Yanina, als ihr der feuchte Knebel aus dem Mund gerissen worden war.

»Wer hat dir das angetan?« wollte Belnar wissen.

»Bosk aus Port Kar!« rief sie und zerrte hilflos an den Ketten, die sie fesselten.

»Wo ist er?«

»Ich weiß es nicht«, schluchzte sie.

»Du Närrin!« brüllte Belnar.

»Er muß noch irgendwo im Palast sein«, rief Flaminius und sprang auf. Im Saal entstand Unruhe.

»Eilt zu den Quartieren der Schauspieler!« sagte Belnar. »Verhaftet sie. Sie müssen in die Sache verwickelt sein.«

»Sie sind nicht in Richtung ihrer Quartiere gegangen«, rief ein Mann, der in der Nähe der Tür saß.

»Sie wollen sicherlich aus der Stadt fliehen!«

»Haltet sie auf!« befahl Belnar.

»Wartet!« rief da ein Höfling. »Ich höre Alarmstan gen.«

Er hatte recht. Als einen kurzen Augenblick lang

Stille in den Saal einkehrte, hörte man deutlich das ge dämpfte Geklirr von Alarmstangen.

»Was ist da los?« wollte Belnar wissen.

In diesem Moment stürmte ein Soldat in den Saal.

»Im Gefängnis hat es einen Ausbruch gegeben!« rief er. »Gatch ist erschlagen worden. Die Zellen sind alle leer. Gefangene laufen durch die Straßen.«

Ich hatte gehofft, dies werde eine Ausnahmesituation von solchem Ernst schaffen, daß Belnar sich dazu werde hinreißen lassen, bestimmte Wertsachen an einen anderen, sichereren Ort zu schaffen.

»Ab sofort herrscht das Kriegsrecht«, verkündete Belnar. »Ruft alle Soldaten zusammen. Sichert den Palast!«

Falls der Ausbruch der Gefangenen für diesen Zweck nicht ausreichte, dann auf jeden Fall das Wissen, daß ich auf geheimnisvolle Weise freigekommen war und mich irgendwo im Palast aufhielt. Ich verließ mich darauf, daß Boots außerhalb des Bankettsaales die Spiegel an der abgesprochenen Stelle aufgestellt hatte. Sollte er es nicht getan haben, war es unter diesen Umständen allerdings ziemlich unwahrscheinlich, daß er jemals deswegen zur Rechenschaft gezogen würde.

»Ubar!« rief Lady Yanina.

»Ergreift sie!« befahl Belnar den Soldaten. »Werft sie in den Kessel mit dem Öl. Nein, wartet. Das Öl ist zu gut für sie. Bringt sie nach unten in die Sklavengehege. Legt ihr einen Kragen an.«

»Nein! Nein, Ubar, bitte!« schluchzte Lady Yanina.

Ein Soldat warf sich die am ganzen Leib zitternde Lady Yanina über die Schulter. Nachdem sie zur Sklavin gemacht worden war, konnte Belnar noch immer in aller Ruhe entscheiden, was er mit ihr anstellen wollte.

»Ich grüße euch!« rief ich da mit lauter Stimme.

Ein paar der Gäste sahen mich befremdet an.

Ich hatte mich unauffällig in den hinteren Teil des Saales begeben und stand jetzt neben dem großen Kessel mit dem siedenden, blubbernden Öl. Ich legte die Hände auf eine der langen Stangen, mit denen man den Kessel in den Saal getragen hatte.

»Das ist er!« rief ein Mann. »Das ist Bosk aus Port Kar!«

»Ergreift ihn!« befahl Belnar.

»Vorsicht!« schrie einer der Gäste. »Paßt auf!« rief ein anderer. Sklavenmädchen flohen kreischend.

»Nein!«

Ich packte die Stange und benutzte sie als Hebel, stieß sie unter die überdimensionale Kochplatte und kippte sie mitsamt dem Kessel um. Eine Flutwelle kochenden Öls ergoß sich über den Kesselrand und schoß über den Boden. Männer sprangen auf die Tische. Schmerzensschreie ertönten. Der Kessel krachte auf die Fliesen. Ich trat einen brennenden Scheit in das Öl, das sich heiß und glitschig über den Saalboden ausbreitete. Männer und Sklavinnen flohen schreiend, als eine furchteinflößende Flammenflut, eine schmale, prasselnde Feuerwand, losraste und einen Augenblick später den ganzen Raum erfaßt hatte. Ich schlug einen heranstürmenden Soldaten mit der Stange nieder. Ein kreischender Mann versuchte die Flammen zu löschen, die den Saum seines Gewands erfaßt hatten. Andere Bankettgäste flohen zu den Wänden. Ich schlug noch einen Soldaten nieder. Er flog gegen einen Tisch. Die Temperatur im Saal hatte sich dramatisch erhöht. Rauchschwaden erschwerten das Atmen. Ich entdeckte Belnar durch die Flammen hindurch, Männer husteten. Sklavinnen drückten sich an die Wände. Waffen wurden gezogen. »Dich erwische ich!« brüllte ein Mann und stürmte durch Feuer und Qualm direkt auf mich zu. Die Stange traf ihn genau in den Magen, und er brach zusammen. Ich sah mich um, Nur noch einen Augenblick, dann wäre das Öl verbrannt, und die Flammen wären zu flackernden Pfützen geworden, durch die man hindurchwaten konnte.

»Ergreift ihn!« schrie Belnar hustend; er hielt den Ärmel des Gewandes vor Mund und Nase gedrückt. Ich warf die Stange ein paar wütenden Gästen entgegen und trieb sie zurück. Es war Zeit, hier zu verschwinden. Ich widerstand dem Impuls, der Menge fröhlich zuzuwinken. Solche Gesten haben ihren Wert, aber es sind schon zu viele Männer dabei von Armbrustbolzen durchbohrt worden. Ich eilte aus dem Saal.

»Rettet euren Ubar!« rief ich den beiden verwirrten Wächtern zu, die treu auf ihrem Posten ausgeharrt hatten, und deutete auf den Saal. Sie konnten dieser Bitte nicht widerstehen und verschwanden in dem Rauch und dem Tumult. Ich warf hinter ihnen die Türen ins Schloß und band die Klinken mit dem seidenen Gürtel meines Gewandes zu. Fast im gleichen Augenblick stürmte man von der anderen Seite gegen die Tür; eine Schwertklinge schob sich durch den Spalt und hackte auf die Seidenschnur ein. Auf dem Korridor gab es nur verschlossene Türen, Sklavenringe, Säulen, Nischen, Vasen und dekorative Gemälde. Jeden Augenblick würde die Menge – die Soldaten und die Wächter an der Spitze – durch die aufgebrochene Tür gestürmt kommen.

Ich sah mich in dem Korridor nach beiden Seiten um. Er war ausgesprochen lang. Es war niemand zu sehen. An der nächsten Abzweigung standen vermutlich Wachen postiert. Ich setzte mich in Bewegung.

Die Flügeltür zum Bankettsaal wurde aufgestoßen, die Türhälften krachten gegen die Wand. Ich hörte Gebrüll, keuchende Männer, das Getrampel von Füßen. Dann kehrte plötzlich Stille ein.

»Wo ist er?« fragte ein Mann überrascht.

»Er muß hier irgendwo stecken!«

»Der Saal ist leer!«

»Das kann nicht sein«, sagte ein anderer Mann. »Er hat nur wenige Ihn Vorsprung.«

»Er ist weg!«

»Die Korridortüren!« rief Belnar. »Er ist durch eine von ihnen hindurchgeschlüpft. Beeilt euch! Findet ihn!«

Ich hörte, wie Männer den Korridor in beide Rich tungen entlangstürmten. Einer lief keinen Meter von mir entfernt vorbei. Bald darauf hallten erneut Rufe durch den Korridor. »Die Türen sind verschlossen!« hörte ich. »Hier auch!« ertönte es aus der anderen Richtung. »Keine Tür ist aufgebrochen worden.«

»Vielleicht hat er ja einen Schlüssel«, sagte jemand.

»Aber er hatte doch gar keine Zeit ihn zu benutzen«, sagte ein anderer Mann verstört.

»Die Schlüssel zu diesen Türen werden in der Stube des Kapitäns der Wache aufbewahrt«, sagte ein anderer Mann, offensichtlich ein Soldat.

»Überprüft sofort alle Schlüssel«, befahl Belnar. »Wir werden sehen, welcher Schlüssel fehlt. Und genau durch diese Tür wird er geflohen sein.«

»Wir haben den Saal doch nur einen Augenblick nach ihm verlassen«, sagte ein Mann unbehaglich.

»Ich glaube nicht, daß er Zeit genug hatte, eine dieser Türen zu erreichen.«

»Und wenn er sie doch erreicht hätte, wäre ihm nicht genug Zeit geblieben, sie auf zuschließen.«

»Vielleicht war die Tür ja offen«, meinte jemand. »Vielleicht hat er sie ja vorher geöffnet.«

»Und dann hat er sie von der anderen Seite aus zugeschlossen.«

»Ich glaube nicht, daß er Zeit genug hatte, eine dieser Türen zu erreichen«, wiederholte der Mann, der das schon vorher gesagt hatte.

»Was willst du damit sagen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete der Mann unbehaglich.

»Narren!« rief Belnar. »Laßt die Wachen an beiden Enden des Korridors Rapport erstatten. Vielleicht haben sie ihn ja längst in ihrer Gewalt!«

Ich hörte Schritte, die sich in beide Richtungen entfernten.

»Da kommt der Wachoffizier«, sagte ein Mann.

»Borto ist bei ihm.«

»Ubar!«

»Welche zu diesem Korridor gehörenden Schlüssel fehlen? Schnell!« sagte Belnar.

»Keine, Ubar«, sagte der Neuankömmling. »Es fehlen keine Schlüssel. Weder von diesem Korridor noch von einem anderen.«

Diese Verkündigung wurde mit Schweigen aufgenommen.

»Ubar«, rief ein Mann, »wir haben den Bericht von den Wachen im Westen. Es ist niemand an ihnen vorbeigekommen.«

»Na also«, sagte Belnar zufrieden. »Die Sache ist erledigt. Die Ostwachen werden ihn gefangengenommen haben.«

»Da kommt Elron«, sagte ein Mann. »Er war bei den Ostwachen.«

»Bosk ist in ihrem Gewahrsam«, sagte Belnar.

»Ubar!«

»Sprich«, sagte Belnar. »Hatte man Mühe, den Kerl zu überwältigen?«

»Ubar?«

»Du kommst doch von den Ostwachen, oder nicht?« verlangte Belnar zu wissen.

»Ja, Ubar. Aber sie haben den Mann nicht gesehen!«

»Was?« brüllte Belnar.

»Er ist nicht an ihnen vorbeigekommen.«

»Unmöglich«, sagte Belnar.

»Es stimmt, Ubar.«

»Er muß an ihnen vorbeigekommen sein«, sagte ein anderer Mann.

»Nein«, erwiderte Elron.

»Er muß es aber«, beharrte der Mann.

»Das ist sehr ungewöhnlich«, sagte ein anderer Mann. »Der Korridor ist schmal. Dort stehen fünf Wächter.«

»Er hätte sowieso nicht die Zeit gehabt, bis dorthin zu kommen«, meldete sich der nächste Mann zu Wort. »Wir waren ihm dicht auf den Fersen.«

Wieder kehrte Schweigen ein.

»Er muß hier irgendwo stecken.«

»Aber er ist nicht in diesem Korridor«, erhielt der Sprecher zur Antwort. »Wir haben ihn genau durchsucht. Du siehst doch, daß er leer ist.«

»Wo kann er nur sein?«

»Wo steckt er?«

»Das gefällt mir nicht.«

»Er ist weg. Einfach weg!«

»Er ist verschwunden!« flüsterte jemand.

»Ubar«, meldete sich Flaminius zu Wort. »Die Alarmstangen werden noch immer geschlagen. Ich schlage vor, daß wir unsere Aufmerksamkeit ernsteren Angelegenheiten als der Gefangennahme eines flüchtigen Briganten zuwenden.«

»Ich will, daß er gefunden wird!« brüllte Belnar. »Durchsucht den Palast! Findet ihn!«

»Ja, Ubar«, riefen die Soldaten und liefen los.

»Ubar!« protestierte Flaminius.

»Benachrichtige die zuständigen Offiziere der Wache und des Heeres!« rief Belnar. »Gib die Befehle heraus! Sie sollen für Sicherheit auf den Straßen sorgen, die Stadttore bewachen und nach entflohenen Gefangenen suchen!«

»Sicherlich willst du das Kommando höchstpersönlich übernehmen«, sagte Flaminius.

»Ich muß mich um andere Angelegenheiten kümmern.«

»Dann werde ich mit deiner Erlaubnis das Kommando übernehmen«, sagte Flaminius. »Keine Angst. Ich werde in kürzester Zeit für Ordnung gesorgt haben.«

»Du wirst genau das tun, was ich dir befohlen habe«,

sagte Belnar. »Und zwar nur das.«

»Ubar?« fragte Flaminius.

»Du wirst die Dinge schnell organisieren«, fauchte

Belnar. »Du wirst die Oberaufsicht dem Stadtkapitän übertragen und dich danach den Suchtrupps nach Bosk aus Port Kar anschließen. Ich will, daß jeder, der ihn identifizieren kann, ob Wächter, Mann oder Frau, freier Mann oder Sklavin, sich an der Suche beteiligt!«

»Ist er so wichtig, Ubar?« fragte Flaminius. »Ubar?« rief er. Vermutlich war Belnar gegangen und hatte sein Gefolge mitgenommen.

Einen Augenblick später erklangen wieder Schritte; Flaminius rief nach seinen Untergebenen, und seine Stimme wurde dabei leiser.

»Wohin könnte Bosk geflohen sein?« fragte ein Mann.

»Das gefällt mir nicht, das gefällt mir kein bißchen«, sagte ein anderer.

»Er ist einfach verschwunden«, flüsterte ein dritter furchtsam. Ich hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um ihn zu berühren. Das hätte ihm bestimmt einen ordentlichen Schrecken versetzt.

»Laß uns gehen«, sagte die erste Stimme.

»Du hast recht.« Auch ihre Schritte entfernten sich.

Die Illusion hatte natürlich sorgfältig in Szene gesetzt werden müssen. Die Position der Spiegel mußte nach genauen Berechnungen erfolgen. Das angewandte Prinzip besteht darin, daß Dinge so reflektiert werden, daß der Betrachter veranlaßt wird, das Gesehene falsch zu deuten; so hält er zum Beispiel das Spiegelbild eines bestimmten Ortes für einen anderen Ort. Er rechnet nicht mit Spiegeln und denkt auch nicht daran, und selbst wenn das doch der Fall sein sollte und er das damit verbundene Prinzip versteht, wird er trotzdem genau das sehen, was der Illusionskünstler will. Auf diese Weise kann sich nicht nur der unwissende Betrachter an solchen Illusionen erfreuen, sondern auch der kritische, gebildete Betrachter; selbst andere Illusionskünstler haben ihr Vergnügen daran, wenn die Nummer mit der nötigen Kunstfertigkeit ausgeführt wird.

Im Palast von Brundisium war niemand auch nur auf die Idee gekommen, mit einem solchen Trick zu rechnen, und genau darauf hatte ich mich verlassen. Wäre ihnen der Verdacht gekommen, hätten sie schnell die Wahrheit herausgefunden; sie hätten nur die Korridorwände einer genauen Untersuchung unterziehen müssen. Aber bis jemand an meine Verbindung zur Truppe von Boots Tarskstück dachte und darauf kam, daß ein so geschicktes Zauberkunststück nicht nur möglich, sondern in Anbetracht der seltsamen Umstände meines Verschwindens sogar wahrscheinlich war, wäre ich nicht länger in meinem bizarren Versteck geblieben.

Ich stand natürlich hinter einem Spiegel, das heißt, am Schnittpunkt zweier Spiegel, und zwar in einer der Nischen. Die Ränder der beiden Spiegel wurden von einer freistehenden Säule verdeckt, die dort zur Dekoration stand und an der man Pflanzen aufhängen konnte. Dank Boots stand die Säule jetzt ein Stück näher an der Nische. Für den zufälligen Betrachter war das Spiegelbild der gegenüberliegenden Wände eine einzelne feste Wand, die sich hinter der Säule erstreckte. Das Zurücksetzen der Säule, die Verbindung der beiden dahinter befindlichen Spiegel und der dadurch entstandene Winkel machten es dem Betrachter unmöglich, sein eigenes Spiegelbild zu sehen; es sei denn natürlich, er hätte die Nische betreten.

Der Korridor schien mittlerweile verlassen zu sein. In der Ferne war Gebrüll zu hören. Ich schlüpfte aus dem Gewand. Die Suchmannschaften würden vermutlich nach einem Mann im gelbweißen Kaufmannsgewand suchen, das nach turianischer Mode geschnitten war. Darunter trug ich eine Uniform, die der eines brundisischen Soldaten stark ähnelte. Ich hielt es für ziemlich unwahrscheinlich, daß man mich in einer Stadt von der Größe Brundisiums, in einer Stunde des Aufruhrs und der Verwirrung, in der überall Soldaten umhereilten, Befehle gaben und erhielten, in der Agenten in Uniform und in Zivilkleidern ihrer Aufgabe nachgingen, so ohne weiteres erkennen würde. Außerdem hatte ich den Eindruck gewonnen, daß viele der Höflinge, die mich in dem Saal gesehen hatten – Männer, die nicht gerade für ihren Mut bekannt sind – der Versuchung widerstehen würden, begeistert an einer Suche teilzunehmen, die nicht ohne Gefahr war. Sie würden sicherlich zu dem Schluß kommen, daß es vermutlich besser war, wenn sie sich in ihren Gemächern tapfer in Reserve hielten, sich auf den Augenblick vorbereiteten, an dem ihr Ubar sie wirklich brauchte. In der Zwischenzeit würden sie sich natürlich auf dem laufenden halten. Ich bereitete mich darauf vor, den Korridor zu betreten. Mit etwas Glück würde ich sogar ein paar Soldaten um mich scharen und meine eigene Suchmannschaft gründen können. Das schien eine gute Möglichkeit zu sein, sich an fast jeden Ort begeben zu können. Wer konnte schon wissen, wo sich der Schurke Bosk aus Port Kar verbarg?

Ich schob vorsichtig den Kopf aus meinem Versteck. Der Korridor war leer. Ich trat mutig vor, blieb lange genug dort stehen, um die Spiegel ein Stück auseinanderzustellen. So würde der Sklavenaufseher, der die Reinigungskolonne beaufsichtigte, sich vielleicht über ihre Anwesenheit in dem Korridor wundern und sie einfach in irgendeinen Lagerraum bringen lassen. Einen Augenblick später schritt ich energisch den Korridor entlang, in den Ferne ertönte weiterhin Gebrüll. Außerhalb des Palastes schlug man beim Gefängnis und in verschiedenen Stadtteilen noch immer die Alarmstäbe.

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