13

Ich nahm mir eine Ta-Traube und wandte meine Aufmerksamkeit der Vorstellung zu, die zwischen den Tischen auf einer kleinen erhöhten Bühne ihren Lauf nahm.

»Ho, Schufte, Flegel, hinfort mit euch!« rief Petrucchio und zog das große Holzschwert aus der lächerlichen Scheide, die er hinter sich herzog. Das nahm eine gewisse Zeit in Anspruch. »Hinfort mit euch, hinfort, sage ich!« wiederholte er und hatte es endlich und stückchenweise geschafft, das Schwert aus der Hülle zu befreien. Er fuchtelte drohend damit herum, als wolle er jeden in unmittelbarer Reichweite enthaupten. Die drei Frauen, die von Kopf bis Fuß in Gewändern der Verhüllung steckten, kauerten dicht aneinandergedrängt hinter ihm und duckten sich bei jedem Schlag. Vor Petrucchio standen Chino und Lecchio in der Aufmachung von Schneidergesellen und mit Säcken auf dem Rücken. »Zurück, ihr Krieger und Feinde, selbst wenn ihr noch so viele seid!« rief Petrucchio grimmig. »Sonst schneide ich euch auseinander wie ein geröstetes Tarsk, sonst zerstückle ich euch wie Tur-Pah und ziehe euch die Haut ab wie Suls!«

Chino und Lecchio, die zwei einfache Reisende darstellten, waren unerwartet auf Petrucchio und dessen Gefährtinnen gestoßen und sahen sich nun verblüfft an.

»Hinfort, aber schnell!« rief Petrucchio und schwang das große Schwert erneut, was die Mädchen hinter ihm veranlaßte, sich wieder tief zu ducken.

»Aber edler Freund«, rief Chino aus sicherer Entfernung, »wir sind doch bloß bescheidene Schneidergesellen.«

»Versucht nicht, Petrucchio zu täuschen, den Kapitän aus Turia!« rief Petrucchio. »Für ihn sind eure Verkleidungen, so geschickt sie auch ersonnen sein mögen, um andere zu täuschen, so durchsichtig und fadenscheinig wie der Schleier von Anango!« In der nördlichen Hemisphäre stellt der Petrucchio meistens einen Kapitän aus Turia dar, einer fernen Stadt. Wie ich gehört habe, ist er in der südlichen Hemisphäre ein Kapitän aus Ar. Wichtig dabei ist nur, daß er aus einer großen und beeindruckenden Stadt kommt, die gewisse Erwartungen oder Neid schürt und gleichzeitig weit entfernt liegt. Es fällt einem immer leichter zu glauben, daß Leute aus der Ferne prahlerische Feiglinge sind. Man hat ihnen nur selten in der Schlacht gegenübergestanden. Die Wahl einer fernen Stadt hat auch den Vorteil, daß es ziemlich unwahrscheinlich ist, daß sich Bürger dieser Stadt im Publikum befinden; allerdings verstehen die meisten Goreaner, was auf der Bühne vor sich geht, und genießen die Farce, selbst wenn der Kapitän einer der Ihren sein sollte.

Zufälligerweise wiesen mich meine Ausweispapiere, die mir Zugang zu dem Bankettsaal verschafft hatten, als Bürger Turias aus. Die Papiere hatte mir ein Bursche geliehen, dem ich genug Tassapulver verabreicht hatte, daß ein Kailiauk mehrere Ahn lang außer Gefecht gewesen wäre. Um ganz sicher zu sein, hatte ich ihn gefesselt und geknebelt in einen Wandschrank gesperrt. Dort würde ihn vermutlich der Reinigungssklave am nächsten oder spätestens übernächsten Tag finden.

Die Anspielung auf den ›Schleier von Anango‹ bezog sich natürlich auf den Schleier der bekannten Farce ›Der Schleier von Anango‹. Tatsächlich war dies das meistgespielte Stück in Boots’ Repertoire. Normalerweise schlüpfte die Figur der Brigella – wie bereits erwähnt, dient der Rollenname meistens zugleich auch als Name der betreffenden Sklavin – in die weibliche Hauptrolle dieses Stückes, aber jetzt hatte Boots’ Sklavin Lady Telitsia diese Rolle übernommen.

»Du siehst unsere Kleidung«, protestierte Chino. »Sie ist eindeutig die der Schneiderzunft.«

»Genau«, bestätigte Lecchio.

»Ha!« rief Petrucchio skeptisch, stellte aber die Spitze des langen Holzschwertes auf die Bühne, reichte mit der Hand unter die langnasige Halbmaske und begann charakteristischerweise die eine Hälfte des riesigen, furchterregenden Schnurrbarts zu zwirbeln.

»Und hier sind unsere Rucksäcke!« rief Chino und nahm den Rucksack ab.

»Zweifellos mit Waffen vollgestopft«, vermutete Petrucchio und zwirbelte den Schnurrbart.

Die Mädchen in den Gewändern der Verhüllung, die noch immer hinter Petrucchio kauerten, schrien ängstlich auf.

»Zittert nicht vor Angst, meine Lieben«, sagte Petrucchio beruhigend. »In der Tat, es ist nicht einmal angebracht zu erbeben, es sei denn, es bereitet euch Vergnügen. Ihr könnt sogar ganz ruhig atmen, wenn ihr wollt, denn so sicher ihr in euren Betten innerhalb eurer Sternfestungen wart, beschützt von der Aufmerksamkeit tausend tapferer Wärter, so sicher seid ihr hier – ach was, noch sicherer, denn obwohl ihr euch auf einer Landstraße befindet, steht ihr hinter den stählernen Mauern, die meine Klinge webt!«

»Mein Held!« rief die erste.

»Mein Held!« rief die zweite.

»Mein Held!« rief die dritte.

Chino und Lecchio sahen sich an.

Petrucchio wandte sich schnurrbartzwirbelnd vertraulich ans Publikum. »Falls jemand noch immer nicht weiß, was hier vorgeht«, sagte er, »ich bin Petrucchio, ein Kapitän aus Turia, und die drei edlen Damen von hohem Rang und adliger Geburt hinter mir stehen unter meinem Schutz.«

Das Publikum lachte. Alle wußten natürlich, daß es sich bei den Mädchen um Sklavinnen handelte. Schließlich standen sie auf einer Bühne. Es waren Rowena, Lady Telitsia und Bina. Im Publikum saßen nur Männer. Zur rechten Hand Belnars, des Ubars von Brundisium, war allerdings noch ein Platz frei. Ich hatte Belnar schon einmal gesehen, und zwar damals in der Ubarloge über der Arenagrube. Er war ein dicker, schmierig aussehender Bursche. Zu seiner linken Hand saß Flaminius, der an diesem Abend schlechte Laune zu haben schien. Um die beiden Männer herum saßen Offiziere und Angehörige des Adels. Ein Stück von Belnar entfernt saß ein Mann, der das Gewand der Spielerkaste trug; es war Temenides aus Cos. Ich fand es bemerkenswert, daß ein Mitglied der Spielerkaste aus Cos am Ersten Tisch sitzen durfte, und das in einer Stadt, die mit Ar verbündet war. Allerdings können sich die Spieler frei auf ganz Gor bewegen. Sie reisen gern umher, und meistens haben sie freien Zutritt zu allen Orten; in der Mehrzahl der goreanischen Lager, Dörfer und Städte heißt man sie willkommen. In dieser Hinsicht ähneln sie den Musikanten, die im allgemeinen ähnliche Privilegien genießen. Es gibt auf Gor ein Sprichwort: Ein Musikant kann kein Fremder sein! Es bezieht sich manchmal auch auf die Mitglieder der Spielerkaste. Notgedrungen verliert es in der Übersetzung, denn im Goreanischen wird normalerweise dasselbe Wort für ›Fremder‹ wie für ›Feind‹ benutzt. Wenn man das aber weiß, wird die tiefere Bedeutung dieses Sprichworts verständlicher.

»Ist es die Wahrheit, daß du – wie du uns erzähltest, als du deinen Scharfblick hinsichtlich des Erkennens von Verkleidungen erwähntest – tatsächlich der berühmte Petrucchio bist?« fragte Chino.

»Ja.«

»Wer ist Petrucchio?« fragte Lecchio. »Ich habe noch nie von ihm gehört. Und du bestimmt auch nicht.«

»Der edle Petrucchio, der weithin bekannte Petrucchio?« fragte Chino.

»Chino«, protestierte Lecchio.

Chino stieß seinen Begleiter verstohlen an.

»Ganz genau«, sagte Petrucchio.

»Der mutige Petrucchio?«

»Richtig.«

»Der schlaue und prächtige Petrucchio aus Turia?«

»Ja«, erwiderte Petrucchio. »Erzittere, wenn du magst. Du kannst auch verzagen, das bleibt dir überlassen!«

»Du mußt doch von diesem Mann gehört haben, Lecchio«, sagte Chino, an seinen Begleiter gewandt.

»Nein«, sagte Lecchio. Das brachte ihm einen Tritt gegen das Schienbein ein. »Ja, ja!« rief er sofort. »Natürlich, der große Petrucchio!«

»War nicht er es, der auf den sieben Wiesen von Saleria ganz allein eine Schneise in die Legionen der zehn Städte schlug?« fragte Chino.

»Ich sehe, mein Ruf eilt mir voraus«, sagte Petrucchio und zwirbelte den Schnurrbart.

»Der die Belagerung von elf Städten beendete?«

»Davon hörte ich, will mir scheinen«, sagte Lecchio.

»Der die Tore von fünfzehn Städten stürmte?«

»Das kann schon sein«, sagte Lecchio unsicher.

»Und der von zehntausend Tuchuks in deren eigenem Land angriffen wurde und sie in die Flucht schlug?«

»Elftausend«, sagte Petrucchio.

»Ja!« rief Lecchio. »Du hast recht. Ich kenne ihn. Das ist er.«

»Kein anderer«, sagte Petrucchio.

»Was führt dich in dieses Land, edler Kapitän?« fragte Chino. »Ist es deine Absicht, es zu vernichten, vielleicht aus Gründen einer kaum erwähnenswerten, eingebildeten Beleidigung?«

»Nein, nein«, sagte Petrucchio.

»Dann willst du also ein paar Städte brandschatzen?«

»Nein.«

»Nicht einmal ein kleines Heer besiegen?«

»Nein.«

»Was könntest du dann hier wollen?«

»Ich bin, wie du mittlerweile ja begriffen hast, Petrucchio, ein Kapitän aus Turia und beschütze diese edlen Damen« – er zeigte auf die Frauen hinter sich – »von hoher Geburt. Für diese Dienste hat man mich bezahlt.«

»Das sind alles freie Frauen?« fragte Chino.

»Natürlich!« erwiderte Petrucchio leicht verschnupft, anscheinend dazu bereit, an der geringsten Andeutung einer wie auch immer gearteten Unterstellung Anstoß zu nehmen, mit all den furchtbaren Konsequenzen, die sich daraus für den unglücklichen Übeltäter ergäben.

»Welch ein Glück für sie, daß sie unter dem Schutz eines so erfahrenen, mutigen und klugen Mannes stehen«, sagte Chino und raunte Lecchio zu: »Ob das alles so richtig ist, wird sich noch erweisen.«

»Warte!« brüllte Petrucchio. »Was bedeutet dieses

›Ob das alles so richtig ist, wird sich noch erweisen‹?«

»Sein Gehör ist schärfer als das einen jagenden Sleen«, sagte Chino zu Lecchio, der den Finger ins Ohr steckte und den Kopf schüttelte, als wäre er taub geworden.

»Oh, vermutlich ist es nichts, nehme ich an«, sagte Chino an Petrucchio gewandt.

»Und was soll dieses ›Nehme ich an‹ bedeuten?«

»Nun, eben nichts«, sagte Chino, um dann hinzuzufügen: »Nehme ich an.«

»Zweifelst du an meiner Fähigkeit, diese Damen, wenn es sein muß bis zum Tode zu verteidigen, wenn es sein muß, sogar gegen ganze Heere?«

»Natürlich nicht«, erwiderte Chino hastig. »Ich fragte mich lediglich, ob unter diesen Umständen solche Mühen gerechtfertigt sind.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Petrucchio.

»Es sind doch freie Frauen?« fragte Chino.

»Natürlich.«

»Dann sind meine Befürchtungen grundlos«, sagte Chino erleichtert.

»Welche Befürchtungen?«

»Aus welcher Stadt kommt ihr?« fragte Chino in einem Tonfall, als spiele es keine Rolle, obwohl es tatsächlich von enormer Wichtigkeit war.

»Wir kommen aus Pseudopolis«, erwiderte Petrucchio. Natürlich gibt es diese Stadt in Wahrheit nicht. Man hatte sie für das Stück erfunden. Der Name bedeutete übersetzt soviel wie ›Stadt der Betrüger ‹.

»Es ist, wie ich befürchtet habe«, stöhnte Chino an Lecchio gewandt.

»Tatsächlich?«

»Allerdings.«

»Einen Augenblick«, rief Petrucchio. »Was geht hier vor?«

»Nein«, sagte Chino fest. »Es ist unmöglich. Allein schon der Gedanke ist absurd.«

»Sprich deutlich, Kerl«, verlangte Petrucchio.

»Man hat dich natürlich im voraus bezahlt?« fragte Chino.

»Natürlich.«

»Mit beglaubigtem Gold?«

»Beglaubigtem Gold?«

»Ja«, sagte Chino. »Falls du dir die Echtheit der Münzen nicht hast beglaubigen lassen, mein Freund Lecchio hier ist von der Kaste der Münzpräger ermächtigt, die nötige Prüfung vorzunehmen.«

»Wir versichern dir, daß unser Gold in Ordnung ist«,

sagte Rowena.

»Es könnte nicht schaden, es zu überprüfen«, sagte

Petrucchio nachdenklich und sichtlich mißtrauisch.

»Unnötig!« rief Rowena.

»Beleidigend!« rief Lady Telitsia.

»Absurd!« rief Bina.

«Anscheinend wollen sie nicht, daß man die Münzen überprüft«, bemerkte Chino. »Dabei würde es sie gar nichts kosten«, fügte er bedeutungsvoll hinzu. »Ich frage mich, warum das wohl so ist.«

»Kostenlos, hast du gesagt?« fragte Petrucchio.

»Aber ja.«

»Dann erst recht«, rief Petrucchio, schob das große Holzschwert unter Schwierigkeiten in die Scheide und schüttelte drei gelbgefärbte Bühnenmünzen aus dem Geldbeutel.

Lecchio hielt eine Münze nach der anderen in die Höhe.

»Wie sind sie?« fragte Chino.

»An sich machen sie einen guten Eindruck«, murmelte Lecchio. »Aber viele Fälschungen bestehen die erste Überprüfung.« Er zog ein Münzprägerglas aus dem Rucksack, das dazu diente, weit entferne Objekte besser sehen zu können. »Oh, oh«, murmelte er düster.

»Was?« fragte Petrucchio besorgt.

»Es ist noch zu früh, um etwas sagen zu können«, meinte Lecchio und verstaute das Münzprägerglas wieder im Rucksack. »Ich muß mich vergewissern.«

»Sicher ist alles in Ordnung«, sagte Chino hoffnungsvoll.

»Zweifellos«, erwiderte Lecchio. »Zweifellos.« Aber er schien unsicher zu werden.

Er schüttelte die Münzen in der hohlen Hand und lauschte angestrengt. Dann spuckte er auf jede Münze und verrieb die Flüssigkeit mit dem Zeigefinger in exakt ausgeführten Kreisen und betrachtete sie. Dann hob er den Zeigefinger mit geschlossenen Augen und hielt ihn zuerst in den Wind und dann windabwärts; er wiederholte die Handlung mit geöffneten Augen und betrachtete den Finger mit bohrendem Blick. Dann nahm er die letzte, zweifellos entscheidende Prüfung vor. Er biß in eine der Münzen, holte ein kleines, mit weißen Kristallen gefülltes Glasfläschchen aus dem Rucksack und schnippte einige Kristalle auf die Münzen.

»Was ist das?« fragte Petrucchio.

»Mit Salz schmecken sie besser«, erklärte Lecchio. Er wiederholte den Vorgang und biß noch einmal auf jede der Münzen, dabei ließ er sich Zeit wie ein Kenner, der verschiedene Bazitees oder ausgezeichnete Weine probiert.

»Und?« fragte Chino.

Lecchios Gesicht war düster.

»Ja!« drängte Petrucchio.

»Falsch!« verkündete Lecchio unheilvoll.

»Nein!« rief Rowena.

»Was hat das zu bedeuten?« wandte sich Petrucchio streng an die Frauen.

Lecchio steckte die Münzen ein.

»Falls tatsächlich etwas mit den Münzen nicht in Ordnung sein sollte, versichere ich dir, daß wir davon nichts wissen«, sagte Rowena. »Falls es trotz unserer Sorgfalt zu einem Versehen oder Irrtum gekommen sein sollte, kannst du unbesorgt sein. Das wird sofort in Ordnung gebracht.«

»Zeig uns deine anderen Münzen«, verlangte Lecchio.

»Was?« rief Rowena.

»Damit wir sehen können, ob sie echt sind«, sagte er drohend.

»Ich versichere dir, daß sie echt sind.«

»Laß sie untersuchen, damit die Angelegenheit ein Ende hat.«

»Er ist von den Münzprägern ermächtigt«, erinnerte Chino die Frauen.

»Wird es etwa nötig sein, sie euch mit Gewalt abzunehmen?«

»Nein«, sagte Rowena und reichte Lecchio unter den mißtrauischen Blicken Petrucchios ihren Geldbeutel. Die anderen Mädchen schlossen sich ihr an.

»Und jetzt eure versteckten Geldbeutel, die ihr unter euren Gewändern verborgen haltet, die an euren linken Oberschenkel geschnallt sind«, sagte Lecchio grimmig.

Die Mädchen protestierten empört, wandten sich von den Männern ab, beugten sich vornüber und hoben die hinderlichen Gewänder der Verhüllung. Lecchio erhielt weitere Geldbeutel.

Diesmal brauchte er für seine Überprüfung nur einen flüchtigen Blick. »Die Münzen sind echt«, sagte er ernst. »Aber sie sind zweifellos gestohlen.«

»Was!« schrie Rowena.

»Wieviel ist es?« fragte Chino.

»Drei Doppeltarn, fünfzehn Tarn, achtzehn Silbertarsk, siebenundzwanzig Kupfertarsk und einhundertundfünf Tarskstücke«, sagte Lecchio.

»Es ist, wie ich befürchtet habe!« rief Chino,

»Genau«, nickte Lecchio.

»Ich verstehe nicht«, sagte Petrucchio.

»Das ist genau der Betrag, den man dem Weinhändler Groppus aus Pseudopolis gestohlen hat.«

»Was?« brüllte Petrucchio entsetzt.

»Es könnte natürlich ein Zufall sein«, sagte Chino. »Wann hast du Pseudopolis verlassen?«

»Vor zwei Tagen, am Nachmittag.«

»Der Diebstahl geschah vor genau zwei Tagen, am Vormittag«, sagte Lecchio.

»Es könnte ein Zufall sein«, meinte Chino.

»Natürlich«, stimmte Lecchio ihm zu.

»Das Ganze ist lächerlich!« rief Rowena.

»Es ist unser Geld!« rief Lady Telitsia.

»Gebt es uns zurück!« rief Bina.

»Seid geduldig, meine Damen«, meinte Chino, um dann hinzuzufügen: »Falls ihr tatsächlich Damen seid.«

»Was soll das heißen?« fragte Petrucchio besorgt.

»Oh, nichts«, wich Chino aus.

»Bursche, sprich!« rief Petrucchio und riß an seinem Schwert. Dann gab er es auf, da es sich anscheinend in der Scheide verklemmt hatte.

»Du kennst diese Frauen doch persönlich, und das seit vielen Jahren, oder?« fragte Chino.

»Nein«, erwiderte Petrucchio. »Ich komme aus Turia.«

»Es ist sicher nichts«, meinte Chino beruhigend.

»Gebt uns unser Geld zurück!« rief Rowena.

»Sprich!« verlangte Petrucchio.

»Es ist gerade zwei Tage her, daß in Pseudopolis drei als freie Frauen verkleidete Sklavinnen am Vormittag dem Weinhändler Groppus die Summe von drei Doppeltarn, fünfzehn Tarn, achtzehn Silbertarsk, siebenundzwanzig Kupfertarsk und einhundertundfünf Tarskstücke stahlen und sich dann Augenzeugen zufolge in diese Richtung absetzten, in genau solchen Gewändern.«

»Das ist doch die Summe, die ihr bei den Frauen entdeckt habt, nicht wahr?« fragte Petrucchio.

»Ja, du hast recht«, sagte Lecchio und sah noch einmal schnell in die Geldbeutel.

»Da scheint vieles zusammenzupassen«, sagte Petrucchio mißtrauisch.

»Es könnte alles ein Zufall sein«, sagte Lecchio.

»Natürlich«, beeilte sich Chino zuzustimmen.

»Vielleicht erscheint es euch als ein Zufall, aber jemandem wie mir, einem Mitglied der Kriegerkaste, dem man Mißtrauen und Urteilsvermögen beigebracht hat, kommt es so vor, als stecke mehr dahinter«, sagte Petrucchio.

»Ach ja?« meinte Chino.

»Ja.«

»Es gibt in Pseudopolis gar keinen Weinhändler namens Groppus!« sagte Rowena.

»Die Diebinnen sollen auch geschickte Lügnerinnen sein«, sagte Chino.

»Ich vermute, daß die drei Frauen in meiner Begleitung nicht das sind, was sie zu sein vorgeben«, deutete Petrucchio düster an.

»Was!« rief Chino.

»Was!« rief Lecchio.

»Es könnte durchaus möglich sein«, sagte Petrucchio und beugte sich zu Chino und Lecchio hin, »daß die Frauen in meiner Begleitung die entflohenen Sklavinnen sind, von denen ihr gesprochen habt.«

»Nein!« entfuhr es Chino.

»Nein!« entfuhr es Lecchio.

»Denkt doch einmal nach«, sagte Petrucchio. »Sie haben meine Dienste mit Falschgeld bezahlt. Das ist doch schon verdächtig. Wie wir uns vergewissert haben, macht ihr Geld genau die Summe aus, die dem geschädigten Groppus aus Pseudopolis gestohlen wurde. Außerdem fand der Diebstahl statt, kurz bevor wir die Stadt verließen, also hatten sie die Gelegenheit, am Ort des Verbrechens zu sein, so wie sie genug Zeit hatten, aus der Stadt zu fliehen. Dann sind sie zu dritt, und sie reisen in diesen Gewändern in diese Richtung.«

Chino und Lecchio sahen sich beeindruckt und furchtsam an.

Petrucchio richtete sich wieder auf und zwirbelte bedeutsam den Schnurrbart.

»Was sollen wir tun?« fragte Chino und sah Petrucchio hilfesuchend an, was in dieser Situation völlig natürlich war.

»Erst einmal müssen wir das Geld behalten, bis festgestellt werden kann, wer der wahre Besitzer ist«, sagte Lecchio.

»Ganz genau«, sagte Petrucchio.

»Worüber unterhaltet ihr euch da?« fragte Rowena.

»Gebt uns unser Geld zurück«, sagte Lady Telitsia.

Petrucchio drehte sich um und sah die Frauen stirnrunzelnd an. Sie schreckten unter dem finsteren Blick zurück.

Lecchio und Chino füllten in der Zwischenzeit schnell die Münzen in ihre Geldbeutel um.

»Seid ihr freie Frauen?« fragte Petrucchio.

»Aber sicher!« sagte Rowena.

»Aber sicher!« sagte Lady Telitsia.

»Aber sicher!« rief Bina.

»Wie hießen die entflohenen Sklavinnen?« fragte Petrucchio.

»Lana, Tana und Bana«, sagte Chino schnell.

»Ja, das stimmt«, bestätigte Lecchio.

»Seid ihr Lana, Tana und Bana?« fragte Petrucchio.

»Nein«, rief Rowena, »Ich bin Lady Rowena aus Pseudopolis!«

»Und ich bin Lady Telitsia aus Pseudopolis!« sagte Lady Telitsia.

»Und ich Lady Bina aus Pseudopolis!« sagte Bina.

»Wie es scheint, ist unser Verdacht unbegründet«, sagte Petrucchio erleichtert. »Denn es handelt sich nicht um Lana, Tana und Bana, entflohene Sklavinnen, sondern um die Ladies Rowena, Telitsia und Bina aus Pseudopolis.«

Chino und Lecchio tauschten einen ungläubigen Blick. Dann sagte Chino: »Es sei denn, sie lügen.«

»Hm«, machte Petrucchio nachdenklich und zwirbelte den Schnurrbart.

Schließlich räusperte er sich. »Ich weiß, was wir tun«, sagte er. »Ich werde die Frauen nach Pseudopolis zurückbringen. Dort wird sich herausstellen, ob sie die Wahrheit sprechen. Sind sie Sklavinnen, werde ich zweifellos eine hohe Belohnung erhalten.«

Die Frauen protestierten empört, aber Petrucchio warf ihnen nur einen finsteren Blick zu. Sie wichen zurück und verstummten mit hängenden Köpfen.

»Nun, meine Freunde«, sagte Petrucchio, »dann laßt uns aufbrechen.«

»Wir heißen deine Gesellschaft willkommen«, sagte Chino. »Es wird eine ungefährliche Reise werden, es sei denn, man kommt aus Turia. Übrigens, woher sagtest du, stammst du?«

»Aus Turia«, sagte Petrucchio verblüfft.

Chino runzelte die Stirn. »Das könnte schlimme Folgen haben«, sagte er besorgt.

»Wieso denn das?«

»Aber andererseits wird es sicher keine Rolle spielen, bei deinen Kampfeskünsten.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Petrucchio.

»Du hast es vermutlich noch nicht gehört«, sagte Chino. »Vielleicht aber doch. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer.«

»Welche Nachricht?«

»Der Krieg«, sagte Chino.

»Welcher Krieg?« fragte Petrucchio.

»Der Krieg mit Turia«, sagte Chino.

»Welcher Krieg mit Turia?«

»Zehn Dörfer im Umkreis von Pseudopolis haben Turia gerade den Krieg erklärt. Alle Männer sind unterwegs. Sie sind auf der Suche nach Leuten aus Turia.«

»Wieso denn das?« fragte Petrucchio aufgeregt.

»Das weiß ich nicht genau«, sagte Chino. »Bei dem ganzen Gebrüll und Waffengeklirr war es schwer zu verstehen. Es ging wohl darum, sie in Tarskfett zu braten oder sie lebendig in Tharlarionöl zu kochen. Ich weiß es wirklich nicht genau.«

Petrucchio begann vor Entsetzen am ganzen Leib zu zittern.

»Ich sehe, daß du vor Kampfeslust bebst«, sagte Chino.

»Genau«, versicherte Petrucchio hastig.

»Du bist uns willkommen. Die Abwehr blutrünstiger Soldaten und entfesselter feindseliger Horden dürfte für dich ja nicht schwierig sein.«

»Das ist wahr«, sagte Petrucchio. »Doch bin in trotz meines wilden Erscheinungsbildes manchmal ein sanftmütiger Bursche, der oft zögert, blindlings alle zu massakrieren, die sich ihm in den Weg stellen. Welch ein Zufall, erst heute morgen habe ich mein Schwert von den Spuren der letzten Schlägerei gesäubert und würde es nur ungern so schnell wieder in Blut tauchen.«

»Du würdest die entfesselten Horden und Stadtmilizen also verschonen?«

»Vielleicht.«

»Das ist ein glücklicher Tag für dieses Land«, sagte Chino.

»Bringt die Frauen fort«, schlug Petrucchio vor. »Ich werde hier auf euch warten.«

»Es könnte schwierig werden, einen Weg zurück durch das Kriegsgebiet zu finden«, sagte Chino. »Es könnte auch gefährlich sein, an diesem Ort zu verharren.«

»Gefährlich?« fragte Petrucchio.

»Ja, für die Horden und die Soldaten«, sagte Chino. »Sie durchstreifen das Land auf der Suche nach Turianern. Sollten sie dich hier finden, erginge es ihnen schlecht, selbst wenn es viele wären.«

»Gewiß, gewiß«, sagte Petrucchio und sah sich besorgt um. »Was also schlagt ihr vor?«

Chino sah zum imaginären Horizont. »Ich frage mich, wovon der Staub am Horizont herrührt?«

»Ich sehe nichts.«

»Vielleicht ist es auch nur meine Einbildungskraft.«

»Kapitän Petrucchio, darf ich sprechen?« rief da Rowena.

»Natürlich«, sagte Petrucchio.

»Laß dich nicht von diesen Schurken täuschen. Ich versichere dir, wir sind freie Frauen. Diese Unholde wollen uns nur in die Sklaverei führen!«

»Tatsächlich?« fragte Petrucchio und wurde erneut schwankend.

»Ja!«

»Ich bin verblüfft«, sagte Petrucchio ans Publikum gewandt. »Und doch glaube ich, daß ich als Soldat sofort zur Tat schreiten muß!« Er wandte sich an Chino und Lecchio. »Wartet ihr Schurken!« rief er dann. »Ich vermute eine Täuschung, für die ihr teuer bezahlen sollt. Zittert! Erbebt! Schüttelt euch vor Angst, denn ich, Petrucchio, ziehe jetzt mein Schwert!« Er wollte das große Holzschwert aus der Scheide zerren. Wie so oft schien es sich verklemmt zu haben. Chino trat vor und half Petrucchio, die hölzerne Klinge Stück für Stück aus der Scheide zu ziehen. Dann trat Lecchio dazu und half ebenfalls.

»Danke«, sagte Petrucchio.

»Keine Ursache!« sagten Chino und Lecchio wie aus einem Munde.

»Und jetzt, ihr feigen Sleen«, rief Petrucchio und fuchtelte mit der riesigen Klinge herum, »verschwindet!«

»Gut«, sagte Chino. »Kommt, Mädchen.«

»Halt!« rief Petrucchio.

»Ja?«

»Übergebt mir diese armen, zu Unrecht beschuldigten Frauen!«

»Was?«

»Das sind keine Sklavinnen. Das sind freie Frauen! Übergebt sie mir«, verlangte Petrucchio erbarmungslos und stützte die Schwertspitze auf den Bühnenboden. Mit der anderen Hand zwirbelte er den Schnurrbart. »Wenn ihr sie sofort freigebt, ohne Kampf, werde ich vielleicht euer wertloses Leben verschonen.«

»Das hört sich gut an«, sagte Lecchio.

»Wir überließen sie dir nur zu gern«, sagte Chino und beachtete seinen Kameraden nicht.

»Gut«, meinte Petrucchio und nahm das Schwert in die linke Hand, um den Schnurrbart jetzt mit der rechten zu zwirbeln.

»Unglücklicherweise zwingt uns der Kodex unserer Kaste dazu, sie nicht ohne Kampf herauszugeben.«

»Was?« fragte Petrucchio und erbleichte.

»Es tut mir sehr leid«, sagte Chino. »Aber der Kodex der Schneidergesellen ist in diesem Punkt sehr streng.«

»Ach ja?« meinte Petrucchio mit bebender Stimme.

»Ja. Nun, laß uns anfangen. Ein Duell bis zum Tod.«

»Bis zum… Tod?« fragte Petrucchio entsetzt.

»Ja, ich fürchte schon. Nur einer von uns darf das Feld der Ehre lebend verlassen.«

»Nur einer?«

»Genau.«

»Das sind nicht viele.«

»Das mag schon sein«, räumte Chino ein.

»Aber du hast keine Waffen!«

»Da befindest du dich im Irrtum«, sagte Chino und zog eine lange Schneiderschere aus dem Rucksack.

»Was ist das?« fragte Petrucchio entsetzt.

»Schreckliche Werkzeuge der Zerstörung«, sagte Chino. »Die gefürchteten Zwillingsklingen von Anango. Mit ihnen habe ich noch kein Duell bis zum Tod verloren.« Er ließ die Schere zweimal zuschnappen. »Natürlich könnte es immer das erste Mal sein. In solchen Angelegenheiten gibt es ja selten ein zweites Mal«, fügte er schwermütig hinzu.

»Die Sonne funkelt schaurig auf den blitzblanken Klingen!«

»Ich werde mich nach allen Kräften bemühen, dich nicht mit der Sonne zu blenden und auf diese Weise hilflos zu machen!« versprach Chino.

»Ist das eine brauchbare Waffe?« fragte Petrucchio und erschauderte sichtlich.

»Gegen einen Krieger wie dich kann sie zweifellos nichts ausrichten«, meinte Chino nachdenklich. »Aber gegen geringere Kämpfer, Generäle, Kapitäne, Kriegshäuptlinge und Fechtlehrer hat sie sich als eine mehr als brauchbare Waffe erwiesen. Laß es mich so ausdrücken: Zu ihrer Zeit hat sie die Gewänder Hunderter von Kriegern zerteilt.«

»Vielleicht haben die Frauen ja doch gelogen«, meinte Petrucchio plötzlich.

»Was!« schrie Rowena.

»Still!« donnerte Petrucchio. Rowena und die beiden anderen Frauen duckten sich. Er wandte sich wieder an Chino. »Vielleicht wäre es eine rohe Tat, dich hier auf der Straße zu töten, nachdem wir doch in so kurzer Zeit Freunde geworden sind!«

»Also ganz ehrlich, das finde ich auch«, meinte Chino.

»Ich schenke euch das Leben«, verkündete Petrucchio großzügig.

»Ich danke dir vielmals«, sagte Chino herzlich.

»Das ist eine Erleichterung«, sagte Lecchio. »Ich stand schon im Begriff, Chino ein Tarskstück zurückzugeben, das ich mir voriges Jahr geliehen hatte. Jetzt hat das keine Eile mehr.«

»Außerdem könnt ihr die Frauen nach Pseudopolis zurückbringen und die Belohnung behalten.«

»Das ist ein Akt wahrer Größe!« rief Chino überwältigt.

»Das ist doch gar nichts«, winkte Petrucchio ab, als wäre die erstaunliche Großmut einer solchen Geste tatsächlich nicht der Rede wert.

»Ich kann deine Großzügigkeit nicht hoch genug preisen«, sagte Chino.

»Es ist wirklich nicht der Rede wert, mein Freund«, sagte Petrucchio bescheiden.

»Sicherlich wird der Ruhm einer solchen Tat noch lange in den Liedern Petrucchios, des Kapitäns aus Turia, besungen werden.«

»Hast du solche Lieder irgendwo gehört?« fragte Petrucchio begierig.

»In Hunderten von Sälen, an tausend Lagerfeuern.«

»Tatsächlich?«

»Du kennst sie doch sicher, oder etwa nicht?«

»Nun, einige schon.«

»Deine Bescheidenheit und die knappe uns noch verbleibende Zeit verbieten es mir, sie dir vorzutragen.«

»Das verstehe ich«, sagte Petrucchio.

»Wir wünschen dir alles Gute, edler Kapitän«, sagte Chino und schüttelte Petrucchio herzlich die Hand. »Ich glaube nicht, daß wir die Begegnung mit dem großen Kapitän Petrucchio so schnell vergessen werden.«

»Bestimmt nicht«, sagte Lecchio.

»Das tun die wenigsten«, sagte Petrucchio bescheiden.

»Vielen Dank!«

»Das ist doch nicht der Rede wert«, sagte Petrucchio erneut, als wäre die Überlassung einer so hohen Belohnung etwas Alltägliches.

Chino und Lecchio gingen zu den niedergeschlagenen Frauen und führten sie von der Bühne.

»Ich wünsche euch alles Gute!« rief Petrucchio ihnen herzlich hinterher. Dann wandte er sich dem Publikum zu und zwirbelte sich den Schnurrbart.

»Und so endet ein weiteres der Abenteuer von Kapitän Petrucchio aus Turia«, sagte er. »Das war die Geschichte, wie Petrucchio die Verkleidungen dreier entflohener, diebischer Sklavinnen durchschaute, sie gefangennahm und sie zurück an den Ort ihrer Schandtat schickte, sie großzügig zwei Wanderern überließ und auf jede Belohnung verzichtete.«

Dann blickte er zum imaginären Horizont.

»Oh! Oh!« rief er. »Sind das Staubwolken am Horizont? Oder ist es nur meine Einbildung? Es könnte eine Schar Verr sein, die auf den Feldern umherstreifen. Vielleicht ist es auch nichts. Aber es könnten ebensogut die Männer aus den kriegerischen Dörfern sein, von denen die Wanderer erzählt haben, die Hügel und Felder nach harmlosen Turianern absuchen. Vielleicht sollte ich ihnen eine Lektion erteilen. Andererseits, vielleicht ist es ja tatsächlich nur meine Einbildung. In welche Richtung soll ich nur gehen? Ich werde mein Schwert entscheiden lassen!« Er schloß die Augen und fuchtelte mit dem Schwert herum. »Also gut, Schwert«, sagte er dann. »Du hast die Entscheidung herbeigeführt. Auch wenn ich zögere, muß ich mich daran halten. In dieser Richtung werden wir neue Abenteuer suchen: Länder, die verwüstet, Heere, die besiegt, Städte, die unterworfen und freie Frauen, die auf gefährlichen Straßen beschützt werden wollen.« Er ging in der Richtung, die das Schwert gezeigt hatte, von der Bühne ab. Es handelte sich natürlich genau um die entgegengesetzte Richtung, in der er eben noch Staubwolken am Horizont entdeckt zu haben glaubte.

Im nächsten Augenblick betraten alle Schauspieler unter lautstarkem Beifall wieder die Bühne. Rowena, Lady Telitsia und Bina hatten die Gewänder der Verhüllung abgelegt und waren nackt.

Boots Tarskstück sprang ebenfalls auf die Bühne, verbeugte sich vor dem Publikum und präsentierte mit stolzen Gesten seine Schauspieler. Petrucchio trat vor und erhielt den größten Anteil des Applauses.

»Danke, großzügige Leute, edle Herren und stolze Bürger Brundisiums, Gaste und Freunde Brundisiums!« rief Boots. Keine Kupferschüsseln wurden herumgereicht. Keine Münzen landeten auf der Bühne. Belnar, der Ubar von Brundisium, hatte der Truppe vorher einen goldgefüllten Geldbeutel zukommen lassen. Als Belohnung für ihre Rolle bei meiner Gefangennahme hatte Lady Yanina wie von Boots erhofft dafür gesorgt, daß sie beim Bankett auftreten durften. Boots hatte bei seiner Rede ja von einem Bankett mit bester Unterhaltung gesprochen. Natürlich hatte er dabei an sich und seine Truppe gedacht. »Danke! Danke!« rief Boots jetzt und warf den Zuschauern Kußhände zu, und zwar auf goreanische Weise, bei der sie dem Publikum von der Seite aus mit offenen Händen zugeschoben werden.

Ich sah zu Belnars Tisch. Links von ihm saß Flaminius, der keinen Applaus spendete. Anscheinend gefiel ihm der Verlauf des Abends nicht. Ein wenig von ihm entfernt saß Temenides, ein Mitglied der Spielerkaste aus Cos. Rechts neben Belnar war ein freier Platz. Da dieser Abend ein großer Triumph für Lady Yanina sein sollte, an dem ihr Sieg über Bosk und die Erneuerung ihrer Privilegien gefeiert werden sollten, war dieser Platz vermutlich für sie freigehalten worden.

»Zeigt euch«, sagte Boots zu Rowena und Lady Telitsia.

Rowena trat an den Rand der niedrigen Bühne. Sie warf den Kopf zurück, legte die Hände in den Nacken und drückte mit leicht gebeugten Knien den Rücken durch. Dann nahm sie die Arme herunter, drückte die Schultern nach hinten und streckte die Brüste heraus. »Wer will mich haben?« rief sie. Unter viel Gebrüll und Beifallskundgebungen eilten Männer nach vorn, hoben sie von der Bühne und brachten sie zu den Tischen. Lady Telitsia trat als nächste vor. Sie schob die Hüften nach links und streckte die Arme in die Luft. Auch sie wurde sofort von der Bühne geholt.

Die lächelnde Bina stand zwischen Petrucchio und Chino. Am linken Handgelenk trug sie ein Besitzerarmband. Der Spieler hatte es ihr angelegt. Ich sah, wie sich Temenides aus Cos zu dem Ubar beugte und etwas sagte. Belnar nickte. Temenides stand auf.

»Schauspieler!« rief er in verächtlichem Tonfall.

»Ja, Herr?« fragte Boots höflich.

»Was ist mit der da?« wollte Temenides wissen und zeigte auf Bina.

»Das ist Bina«, sagte Boots. Bina kniete sofort nieder.

»Gehört sie dir?«

»Ja, Herr.«

»Schick sie an meinen Tisch.«

»Das ist nicht so einfach.«

»Sofort«, sagte Temenides.

»Sie ist zwar meine Sklavin, aber ich habe sie dem Spieler gegeben, der sich meiner bescheidenen kleinen Truppe angeschlossen hat.«

Bina streckte sofort den Arm aus und zeigte das Armband.

»Ich will sie haben«, sagte Temenides.

»Aber Herr, bitte versteht, ich habe sie jemand anderem gegeben«, sagte Boots verzweifelt.

»Die Zeit ist gekommen, deine fehlgeleitete und bedeutungslose Höflichkeit zurückzunehmen«, sagte Temenides. »Ich befehle es dir.«

»Bitte, Herr«, sagte Boots. »Denkt an meine Ehre.«

»Denk lieber an etwas anderes«, erwiderte Temenides, der Spieler aus Cos. »Denk an dein Leben.«

»Herr?« fragte Boots und wurde bleich.

Ich fand die Dreistigkeit des Spielers von großem Interesse, schließlich befand er sich nicht in Cos. Es war sogar ziemlich seltsam, daß er überhaupt hier war und an Belnars Tisch saß. Brundisium war nicht einmal mit Cos verbündet – sondern mit Ar.

»Ich warte«, sagte Temenides. Belnar trank lustlos Paga, statt in seinem Haus Höflichkeit zu verlangen.

Plötzlich stand der maskierte Spieler, den man das Ungeheuer nannte, von seinem Platz am Tisch auf und stieg auf die Bühne. Er blickte sich verächtlich, fast schon majestätisch um, ein Verhalten, das überhaupt nicht zu seinem gesellschaftlichen Rang als Mitglied einer reisenden Schauspielertruppe paßte. Er drückte Boots Tarskstück eine goldene Tarnscheibe in die Hand. Boots starrte die Münze ungläubig an. Vermutlich hatte er in seinem Leben noch nicht viele derartiger Münzen zu Gesicht bekommen. Und ohne jeden Zweifel hätte er nie erwartet, eine solche von dem Spieler zu erhalten.

»Sie gehört mir nicht!« rief Boots plötzlich Temenides erleichtert zu. Er zeigte auf den maskierten Spieler. »Sie gehört ihm! Er hat sie gerade gekauft!«

Bina stieß einen ungläubigen Schrei aus und sah zu dem Spieler hoch.

Plötzlich kehrte Stille in den Saal ein. Anscheinend hatte jeder der Anwesenden begriffen, daß auf der Bühne etwas Bemerkenswertes geschah. Rowena und Lady Telitsia sahen keuchend auf, hielten inne in ihrem Tun und starrten zur Bühne. Selbst die zahllosen nackten Sklavinnen, die die Tische und nach Wunsch auch die Gäste bedienten, stellten ihre Arbeit ein und blickten zur Bühne.

Bina starrte den Spieler mit strahlendem Gesicht an. »Ich gehöre dir«, sagte sie.

»Ja.«

»Ich liebe dich«, sagte sie.

Er schwieg.

»Ich liebe deine Kraft und deine Männlichkeit«, sagte Bina.

Der Spieler nickte nur.

»Also gehört sie jetzt dir«, sagte Temenides. »Du bist ein Narr, für eine solche Frau eine goldene Tarnscheibe bezahlt zu haben. Aber das ändert nichts. Schick sie an meinen Tisch.«

Bina sah den Spieler unverwandt an. In ihren Augen funkelten Tränen. »Ich liebe dich«, sagte sie.

»Wie kannst du ein Ungeheuer lieben?« fragte er.

»Ich liebe dich insgeheim schon seit Monaten«, sagte sie. »Ich habe dich schon geliebt, als ich dich verabscheut und gehaßt habe und dich für schwach hielt. Jetzt liebe ich dich tausendmal mehr, da du stark bist.«

»Aber ich bin ein Ungeheuer«, erinnerte er sie.

»Mir ist es gleich, was du bist.«

»Aber was ist mit meinem Aussehen?«

»Dein Erscheinungsbild ist mir gleichgültig«, sagte Bina. »Mir ist es gleich, wie du aussiehst. Ich liebe dich, den Mann!«

Der Spieler wendete sich Temenides zu. »Sagtest du etwas?«

»Du sollst die Sklavin an meinen Tisch schicken«, verlangte Temenides wütend.

»Nein!«

»Ubar!« rief Temenides wütend und wandte sich an den fetten Belnar, der hinter dem niedrigen Tisch lümmelte und Trauben aß.

»Vielleicht kannst du sie ihm ja abkaufen«, schlug Belnar vor und schob sich eine Traube in den Mund.

»Er hat gerade eine goldene Tarnscheibe für sie bezahlt«, protestierte Temenides.

Belnar legte wortlos zwei Münzen dieses Wertes auf den Tisch.

»Ich danke dir, Ubar!« sagte Temenides. Er nahm die beiden Münzen. »Hier, du Narr«, sagte er und hielt das Geld in die Höhe. »Hier ist doppelt soviel dessen, was du bezahlt hast! Jetzt gehört sie mir!«

»Nein«, sagte der Spieler.

Temenides warf Belnar einen überraschten Blick zu. Der Ubar legte wortlos noch drei Tarnscheiben auf den Tisch. Ein Stöhnen ging durch den Saal. Dann hielt Temenides aus Cos, einer der Großmeister des Kaissa des mächtigen Inselubarats, fünf goldene, aus Ar stammende Tarnscheiben in der Faust.

»Nein«, sagte der Spieler,

»Nimm sie ihm ab«, verlangte Temenides von Belnar. »Gib deinen Soldaten den Befehl.«

Belnar sah sich um, bis sein Blick auf ein paar Wächter fiel, die am Saalrand standen.

»Ich bin Bürger Ars«, sagte da der Spieler. »Soweit ich weiß, sind die Städte Brundisium und Ar in Freundschaft miteinander verbunden, sie haben zusammen Wein getrunken und Salz und Feuer geteilt. Sie haben sich geschworen, in militärischen und politischen Dingen verbündet Seite an Seite zu stehen. Falls das nicht der Wahrheit entspricht, möchte ich darüber in Kenntnis gesetzt werden, damit Ar davon erfährt. Außerdem bin ich neugierig, warum ein Spieler aus Cos, der weder offizieller Botschafter noch Herold ist, am Ersten Tisch Belnars sitzt, des Ubars dieser Stadt. Wie kommt es, daß Temenides, der nur ein Spieler ist und noch dazu aus Cos stammt, dem sowohl Ar als auch Brundisium in Feindschaft gegenüberstehen, es wagt, so unverschämt zu sprechen? Hat sich soviel verändert, von dem ich nichts weiß, nehmen Ubars jetzt von ihren Feinden Befehle entgegen, und dann auch noch von Feinden, die nicht einmal einer hohen Kaste angehören?«

Belnar schüttelte kaum merklich den Kopf, und die Wächter entspannten sich.

»Ich habe eigene Soldaten«, sagte Temenides. »Mit deiner Erlaubnis, Ubar, werde ich nach ihnen schicken.«

Das war interessant. Es war nicht gerade allgemein üblich, daß Angehörige der Spielerkaste von einer Militäreskorte begleitet reisten.

Belnar zuckte mit den Schultern.

Temenides drehte sich triumphierend um und sah sich nach seinen Männern um.

»Ich kann nicht glauben, daß der große Belnar das ernst meint«, sagte der Spieler. »Halten sich innerhalb der Mauern Brundisiums Soldaten aus Cos auf, die die offizielle Erlaubnis haben, Bürger Ars zu bestehlen? Sieht so unser Bündnis aus?«

Belnar steckte sich die nächste Traube in den Mund.

»Ubar?« fragte Temenides.

»Ich habe eine bessere Idee«, sagte Belnar lächelnd. »Er ist ein Spieler. Du wirst um sie spielen.«

Der Spieler verschränkte die Arme vor der Brust und sah Temenides an.

»Ubar!« protestierte Temenides. »Bedenkt meine Ehre! Ich spiele mit den Großmeistern von Cos. Das da ist ein Betrüger, ein Karnevalspieler, der nicht einmal der Spielerkaste angehört!«

Belnar zuckte mit den Schultern.

»Glaub bloß nicht, daß ich meine Kaste entehre, indem ich mich so weit erniedrige und diesem hochmütigen Krüppel eine Lektion erteile. Da wäre es ja noch ehrenvoller, wenn du deinen besten Schwertkämpfer gegen einen dummen Bauerntölpel mit einem Löffel in der Hand antreten ließest.«

»Hätte der Hof an einem solchen Wettkampf sein Vergnügen?« fragte Belnar.

Mehrere Männer schlugen sich zustimmend auf die Schultern. Andere verlangten lautstark ein Spiel. Ich gewann den Eindruck, daß einigen der Anwesenden Temenides’ Unbehagen, gegen einen solch wertlosen und lächerlichen Gegner antreten zu müssen, durchaus nicht ungelegen kam. Man sah es als Witz, vielleicht als groben Streich, aber sicherlich ein typisch goreanischer Streich.

»Ubar«, sagte Temenides, »verlang dieses Spiel nicht. Ich habe keine Lust, diese verunstaltete Mißgeburt noch mehr zu demütigen, als ich es bereits getan habe. Befiehl, daß man mir die Frau bringt.«

Bina warf sich vor dem Spieler voller Angst auf den

Bauch. Dann hob sie den Kopf und sah ihn mitleidsvoll

an. »Geh in diesem Saal dieses Risiko nicht ein, Herr«,

schluchzte sie. »Erlaube mir, ihm zu dienen.«

»Nein!«

»Es hat den Anschein, daß der Spieler nicht bereit ist,

dir die Sklavin zu überlassen«, sagte Belnar vergnügt

zu Temenides.

»Zwing uns kein Spiel auf, Ubar«, erwiderte Te menides. »Ich denke nicht daran, mit so einem Kerl zu

spielen, mit einer solch niederen Kreatur. Ich spiele nicht

gegen jemanden, der allen Berichten zufolge nichts weiter als ein schrecklich entstelltes Ungeheuer ist.«

»Spiel«, sagte Belnar.

»Mich zu einer solch ehrlosen Tat zu zwingen,

könnte beim Hohen Rat von Cos als Beleidigung des

Staates aufgefaßt werden.«

Diese Bemerkung überraschte mich. Wie sollte eine solch banale Sache wie ein Scherz in Brundisium, bei dem es lediglich um ein Mitglied der Spielerkaste ging, diplomatische Beziehungen betreffen?

»Also gut«, sagte Belnar liebenswürdig, »Aber dann verzichtest du auf die Frau.«

Temenides ballte die Fäuste. Er starrte Bina wütend an.

»Spiel, spiel!« rief mehr als nur ein Höfling.

Temenides sah sich wütend um. Dann richtete er den Blick auf den Spieler.

»Vielleicht fürchtet sich der große Temenides, der Großmeister aus Cos, vor einem freundschaftlichen Spiel bei einem Bankett, wenn der Gegner ein Betrüger, ein Ungeheuer ist«, meinte der Spieler.

Ein paar Männer lachten. Temenides lief im Gesicht rot an.

»Habe ich recht?« fragte der Spieler.

»Ich spiele nicht mit Bauerntrampeln!«

»Ich andererseits habe nichts dagegen«, erwiderte der Spieler.

Diese Bemerkung rief schallendes Gelächter hervor. Selbst Belnar kicherte. Temenides’ Gesicht verfärbte sich noch mehr, und er ballte wild die Fäuste. Seine Stimmung schlug ins Bösartige um.

Bina zitterte am ganzen Leib.

Temenides stand langsam auf. In der Bewegung lagen einstudierte Entschlossenheit und Drohung. »Also gut«, sagte er. »Ich werde gegen dich spielen, aber nur eine Partie, und die auch nur unter der Bedingung, daß es das Spiel auch wert ist.«

In den Saal kehrte plötzlich Schweigen ein. Temenides harte leise und deutlich gesprochen, mit einer großen Kälte. Seine Wut war jetzt wie die Bewegung einer großen Bestie, die unter dem zugefrorenen Meer lauerte, deren Umrisse nur angedeutet waren, aber in der Tiefe lauernde Macht und Wut erkennen ließen. »Wir werden spielen«, sagte er. »Um den Besitz der Frau. Aber nicht nur darum. Das Leben des Verlierers soll dem Gewinner gehören, der damit verfahren kann, wie es ihm gefällt.«

Ein paar der Höflinge stöhnten auf. »Aber er ist ein freier Mann«, protestierte jemand lautstark. Es ist eine Sache, um eine Frau zu spielen, das ist für Goreaner etwas Alltägliches, aber es ist etwas völlig anderes, das Leben eines freien Mannes zum Einsatz zu machen.

Temenides achtete nicht auf den Protest.

»Und falls du gewinnen solltest«, fragte der Spieler, »welches Vergnügen erwartet mich dann als Verlierer?«

»Du wirst bei lebendigem Leib in kochendes Tharlarionöl geworfen«, sagte Temenides.

»Ich verstehe«, sagte der Spieler. Bina stöhnte auf.

»Es wird kein Spiel geben«, sagte ein Mann am Tisch des Ubars überzeugt.

»Nun, Bursche, was ist?« fragte Temenides.

»Einverstanden«, sagte der Spieler.

Einige der Anwesenden stöhnten entsetzt auf, freie Männer wie auch nackte Sklaven. »Nein, nein, Herr, bitte!« rief Bina.

»Sei still«, befahl der Spieler.

»Ja, Herr«, schluchzte sie.

»Bindet die Frau«, sagte Belnar. »Dann bringt Spielbrett und Figuren.«

Bina wurde ergriffen und zur Seite geführt. Man brachte einen Tisch und stellte ihn auf. Bina wurde in seiner unmittelbaren Nähe an einen Ring im Boden gekettet.

Der Spieler und Temenides aus Cos traten an den Tisch. »Wenn du willst, kannst du die Frau aufgeben und dich zurückziehen«, bot Temenides an.

»Temenides ist großzügig«, erwiderte der Spieler.

Temenides nickte kühl. »Macht die Frau frei und bringt sie an meinen Tisch.«

»Nein«, sagte der Spieler.

»Nein?« fragte Temenides überrascht.

»Stell die Spielsteine auf«, sagte der Spieler.

»Du bist ein Narr«, sagte Temenides. »Du wirst teuer für deine Dummheit bezahlen.«

Bis auf die Heimsteine wurden die Spielsteine aufgestellt. Sie waren groß und bestanden aus beschwertem bemalten Holz. Die beiden Heimsteine dürfen nicht vor dem zweiten und nicht später als beim zehnten Zug gesetzt werden.

»Wer macht den ersten Zug?« fragte der Spieler.

»Du darfst den ersten Zug machen«, sagte Temenides.

»Nein«, sagte Belnar, Ubar von Brundisium.

»Was denn, Ubar?« fuhr Temenides auf. »Laß den Narr doch anfangen, dann hält er vielleicht zwei oder drei Züge länger durch.«

»Der Mann aus Cos ist unser Gast«, sagte Belnar. »Er wird anfangen.«

»Man könnte Speerträger wählen«, schlug ein Gast vor.

»Ja«, sagte ein anderer.

Es gibt viele Verfahrensweisen, Gelb und damit den Eröffnungszug auszulosen. Sind die Spielsteine klein genug, hält man den roten Speerträger in der einen und den gelben in der anderen Hand. Der andere Spieler muß dann eine Hand auswählen. Wählt er den gelben Speerträger, hat er den ersten Zug. Wählt er den roten Speerträger, hat sein Gegner den ersten Zug. Oft wird auch so verfahren, daß man die beiden Spielsteine hinter einem Tuch oder einem Brett aufstellt oder sie in undurchsichtige Tücher einwickelt und dann rät.

»Ich werde die Spielsteine verbergen«, bot sich Boots Tarskstück an.

»Nein«, sagte der Spieler.

»Ich werde sie nehmen«, sagte Belnar.

»Ubar«, willigte Temenides ein.

Belnar, der keinen Widerspruch duldete, nahm zwei gelbe Speerträger. Einige der Gäste stöhnten auf. Bina stieß ein leises Wimmern aus. Selbst sie wußte genug über das Spiel, um zu begreifen, daß man ihrem Herrn kategorisch das Privileg des ersten Zuges verweigerte, der den Verlauf des ganzen Spiels bestimmt.

»Wähle«, wandte sich Belnar an Temenides. Der Mann aus Cos zuckte mit den Schultern. »Wähle«, sagte Belnar. Temenides zeigte ärgerlich auf Belnars rechte Hand.

Belnar hob grinsend den gelben Speerträger in die Höhe und zeigte ihn den Zuschauern, Dann stellte er die Spielsteine ab.

»Du hast den ersten Zug gewonnen«, bemerkte der Spieler. »Gratulation.«

»Ich war bereit, dir gegenüber Gnade walten zu lassen, und sei es auch nur darum, meine Ehre zu beschützen«, sagte Temenides. »Aber jetzt werde ich dich vernichten, schnell und grausam.«

»Ich dagegen werde mir mit dir Zeit lassen«, erwiderte der Spieler.

»Hochmütiger Sleen!« rief Temenides. »Denk an meine Bedingungen!«

»Das tue ich.«

»Der Bauerntrampel wird ermüdend«, sagte Belnar. »Bereitet einen Kessel mit Tharlarionöl vor, der groß genug ist, um einen Menschen hineinzutauchen.«

»Ja, Ubar«, sagte ein Soldat.

»Mit starken Halsketten.«

»Ja, Ubar«, sagte der Soldat und verließ den Saal. Die Halsketten, die man durch Öffnungen im oberen Kesselrand zieht, sollen dazu dienen, das Opfer festzuhalten, dem man die Hände auf den Rücken fesselt. Damit verhindert man nicht nur, daß es aus dem Kessel springt, sondern unterbindet auch jeden Versuch, sich zu ertränken. Das Öl wird langsam heiß gemacht.

»Spielt«, befahl Belnar.

»Ich bitte dich noch einmal, Ubar«, sagte Temenides. »Laß diese Farce nicht zu.«

»Spielt«, riefen einige der Höflinge. Bina stöhnte,

»Spielt«, befahl Belnar.

»Ubars-Speerträger auf Ubar fünf«, sagte Temenides wütend.

Ein Mann führte für ihn den Zug aus.

»Ubaras-Tharlarionreiter nach Ubaras-Hausbauer drei«, sagte der Spieler.

»Hast du überhaupt schon einmal gespielt?« fragte Temenides sofort.

»Gelegentlich«, antwortete der Spieler.

»Kennst du die Regeln?« fragte Temenides.

»Mehr oder weniger.«

»Das ist ein absurder Zug!«

»Soviel ich weiß, ist es ein ordnungsgemäßer Zug.«

»Ich habe so etwas noch nie gesehen«, sagte Temenides. »Er verstößt gegen alle konventionellen Prinzipien einer Eröffnung.«

»Konventionell zu sein, heißt nicht unbedingt, das Richtige zu tun«, sagte der Spieler. »Dein großer Meister Centius aus Cos hätte dir das beibringen sollen. Davon abgesehen, woher, glaubst du, stammt das Konventionelle? Erwächst es nicht aus der Wurzel der Ketzerei? Entspricht es nicht der Wahrheit, daß das Konventionelle der Gegenwart meistens wenig mehr ist als die siegreiche Ketzerei der Vergangenheit?«

»Du bist ja verrückt«, sagte Temenides.

»Außerdem, je konventioneller du spielst, desto berechenbarer wird dein Spiel; das kann man sich zunutze machen!«

»Sleen!« fauchte Temenides.

Der Zug des Spielers sorgte dafür, daß Temenides’ Ubars-Speerträger sofort vom Ubaras-Wissender angegriffen wurde. Es war durchaus möglich, daß sich Temenides dazu hinreißen ließ, einen Zug zu verschwenden, indem er den Speerträger ein weiteres Feld vorrückte und sich zu weit vorwagte; vielleicht führte dies sogar zu einer vorzeitigen Niederlage. Dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, an Stelle des Spielers diesen Zug gemacht zu haben.

»Würde ich dich mehr respektieren, hätte ich vielleicht einen anderen Eröffnungszug gewählt«, sagte der Spieler.

»Sleen! Urt!« wütete Temenides.

»Bleibt es bei dem Zug?« fragte der Mann, der die Steine auf dem Brett bewegte.

»Ja«, sagte der Spieler.

Der Mann setzte den Spielstein.

»Vielen Dank«, sagte der Spieler.

»Ich glaube, dieser Kerl ist vielleicht gar nicht der Narr, für den wir ihn gehalten haben«, sagte Belnar.

»Unsinn!« widersprach Temenides zornig. »Er ist ein Betrüger, ein Bauerntölpel!«

»Es ist warm hier drinnen«, sagte der Spieler. Er öffnete lässig den dunklen Mantel, den er trug. Darunter kam das rot-gelb-gemusterte Gewand der Spielerkaste zum Vorschein, ganz wie ich vermutet hatte. Sicherlich hatte er es seit Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit getragen. Erstaunte Ausrufe ertönten. Bina sah ihn überrascht an.

»Er gehört zur Spielerkaste«, sagte ein Mann.

»Damit habe ich gerechnet«, sagte Belnar. »Er kam mir von Anfang an nicht verrückt vor.«

»Das spielt keine Rolle«, sagte Temenides. »In Cos bin ich Großmeister. Ich werde ihn vernichten. Es bedeutet nur, daß das Spiel sich vielleicht etwas abwechslungsreicher als angenommen gestaltet.«

»Bist du tatsächlich Mitglied der Spielerkaste?« fragte ein Höfling.

»Ja«, sagte der Spieler. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Ich glaube, dies war der Augenblick, da der Spieler mit seiner Vergangenheit ins reine kam.

»Und welchen niedrigen Rang hast du eingenommen?« fragte Temenides verächtlich. Auf den Rang eines Spielers, der auf bestimmten Turnieren und bei öffentlichen Spielen erkämpft werden muß, wird mit peinlicher Genauigkeit geachtet.

»Ich war ein Meisterspieler!«

»Und in welchem Dorf?«

»In Ar.«

»Ar!« rief Temenides. Andere nahmen den Ruf erstaunt auf.

»Vielleicht ist dir der Name dieser Stadt schon einmal begegnet«, meinte der Spieler.

»Wer bist du?« flüsterte Temenides verstört.

Der Spieler griff an die dunkle Kapuzenmaske, die er trug. Er riß sie sich herunter. Bina kniff die Augen zu. Erstaunte Ausrufe hallten durch den Saal, von freien Männern wie von Sklaven. Bina öffnete die Augen. Sie stieß einen überraschten Schrei aus. Der Spieler trug nicht länger die verhüllende Maske. Er sah sich majestätisch um. Seine Gesichtszüge waren unversehrt, es gab weder Narben vom Wüten eines Feuers noch von menschlichen Folterinstrumenten. Es war ein stolzes, ernstes Gesicht, das Klugheit, Macht und Durchsetzungsvermögen verriet; es war ein unglaublich männliches Gesicht.

»Ich bin Scormus aus Ar.«

»Scormus aus Ar ist vom Antlitz der Welt verschwunden!« rief Temenides.

»Er ist zurückgekehrt«, sagte der Spieler.

»Ich kann nicht gegen diesen Mann spielen«, rief Temenides. »Er ist einer der besten Spieler Gors!«

»Aber das Spiel hat begonnen«, erinnerte Scormus ihn.

»Herr«, rief Bina, »Herr! Ich liebe dich!« Er beachtete sie nicht.

»Du hattest den ersten Zug«, sagte Scormus zu Temenides. »Ich werde den letzten haben.«

Temenides sah Belnar mit einem gequälten Gesichts ausdruck flehend an. »Ich kann nicht gegen einen solchen Mann spielen.«

»Spiel«, sagte Belnar.

»Ubar!« flehte Temenides.

»Es ist amüsant«, sagte Belnar.

»Bitte, Ubar.«

In diesem Augenblick trugen ein paar Männer mit Hilfe von langen Stangen einen riesigen Kessel voller Tharlarionöl in den Saal; er ruhte auf einem Stahlgerüst, das mit einem großen flachen Eisenkasten verbunden war. Die Holzscheite in dem als Ofen dienenden Kasten wurden entzündet.

»Ubar!« protestierte Temenides schrill.

»Spielt«, sagte Belnar.

Ich verließ unauffällig den Saal. Ich hatte etwas zu erledigen. Doch ich brauchte mich nicht zu beeilen. Der Spieler würde sich mit Temenides Zeit lassen.

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