19

»Wir haben uns Sorgen gemacht!« rief Boots. »Was hat dich aufgehalten?«

»Unter anderem die Aufmerksamkeiten einer schönen Sklavin«, sagte ich.

»Natürlich«, sagte Scormus.

»Kennen wir sie?« fragte Chino.

»Sie war einst die Lady Yanina und gehört jetzt mir. Flaminius hat sie mir geschenkt.«

»Ausgezeichnet!« sagte Chino.

»Man wird sie in einem Faß Parsitfische nach Port Kar bringen, betäubt mit Tassapulver«, sagte ich lachend und dachte an eine ähnliche Reise, die man mir aufgezwungen hatte. »Flaminius wird sich darum kümmern. Dafür darf er weiterleben.«

»Gut gemacht«, sagte Lecchio. Rowena und Telitsia klatschten begeistert in die Hände, erfreut darüber, daß die einst so stolze Lady Yanina nun eine von ihnen war. Bina, die sich in Scormus’ Nähe aufhielt, hatte nur Augen für ihren Herrn.

»Ihr habt die Stadt ohne Zwischenfall verlassen können?« fragte ich.

»Ja«, sagte Boots. »Genau wie später Andronicus und die anderen.«

»Wo ist Andronicus?«

»Er und Petrucchio sind da hinten, an ihrem Wagen«, sagte Boots. Die Wagen der Schauspielertruppe standen auf einem bewaldeten Hügel, von dem aus man auf das Thassa hinaussah konnte. Es war früh am Morgen. In der Ferne zeichneten sich die Türme Brundisiums ab.

»Ihnen geht es doch gut, oder?« Ich hatte sie noch nicht gesehen, denn sie waren nicht gekommen, um mich zu begrüßen.

»Nun«, sagte Boots ausweichend.

Ich eilte um den Wagenkreis herum, bis ich zu einer Stelle hinter den Bäumen gelangte, an der der Hügel in eine Klippe überging, die weit über das Thassa hinausragte. Dort stand Andronicus’ Wagen. Petrucchio saß aufgerichtet auf einigen Decken, an ein paar Kissen gelehnt. Ein großer Verband schmückte seinen Kopf. Er befand sich in schlechterer Verfassung als nach Flaminius’ Schwertstoß. Andronicus war an seiner Seite.

»Hallo!« rief er schwach und hob die Hand, um mich zu grüßen.

»Wir hätten uns den anderen angeschlossen, um dich willkommen zu heißen«, sagte Andronicus. »Aber Petrucchio geht es heute nicht besonders gut, und ich kümmere mich um ihn.«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte ich.

»Außerdem diskutieren wir gerade über die Haltungen des Kopfes«, sagte Andronicus. »Ich glaube, ich habe gerade eine neue entdeckt. Hast du je so eine gesehen?«

»Nein, ich glaube nicht«, sagte ich überrascht. »Zumindest nicht oft.«

»Diese Position wird nicht ausdrücklich in den Texten von Alamanius, Tan Sarto und Polimachus erwähnt.«

»Sollte sie als ernstzunehmend angenommen und in den Katalog aufgenommen werden, wäre es die Position einhundertundvierundsiebzig«, sagte Petrucchio. »Obwohl ich mich in der Theorie nicht so gut wie Andronicus auskenne, bin ich doch sehr stolz auf ihn.«

»Das sind wir alle«, sagte ich.

»Das Theater ist keine rein praktische Disziplin«, sagte Andronicus. »Es entwickelt sich auch durch Theorien weiter.«

»Davon bin ich überzeugt«, meinte ich. »Petrucchio, wie geht es dir?«

»Errichtet einen großen Scheiterhaufen«, sagte Petrucchio.

Ich warf einen prüfenden Blick unter den Verband.

»Er soll aus hundert Scheiten bestehen. Nein, aus tausend!«

»Das ist eine sehr häßliche Beule«, sagte ich und schob den Verband wieder zurecht. »Aber es ist nicht ernst.«

»Dann muß ich also nicht sterben?« fragte Petrucchio.

»Nein.«

»Auch gut.«

»Holzscheite sind so teuer«, mischte sich Lecchio ein.

»Wie ist er an diese Verletzung gekommen?« fragte ich. »Ist er auf der Wagentreppe ausgerutscht?«

»Nein«, antwortete Andronicus. »Er hat unerwartet einen Schlag von hinten erhalten.«

»Und welcher feige Sleen war das?« fragte ich wütend. Unter Umständen mußte hier Vergeltung erfolgen.

»Nun, wenn du es unbedingt wissen willst«, sagte Andronicus. »Ich war es.«

»Du?«

»Ja. Er wollte erneut nach Brundisium aufbrechen, um dich zu retten.«

»Ein guter Treffer«, beglückwünschte ich ihn.

»Vielen Dank.«

»Wie ist deine Flucht aus der Stadt verlaufen?« fragte Lecchio.

»Gut«, meinte ich. »Ich hätte nie gedacht, daß man bei der Abfahrt mit einem Handrad auf einem Tarndraht eine solche Geschwindigkeit erreichen würde. Ich prallte mit ziemlicher Gewalt gegen eine Häuserwand.«

»Der schwierigste Teil der Reise war vermutlich die Stelle, an der sich der Tarndraht von den niedrigen Dächern zur Stadtmauer erstreckt«, sagte Lecchio. »Dort nutzen dir die Schwerkraft und das Handrad nämlich nichts.«

»Das kann schon sein«, bestätigte ich.

»Glücklicherweise waren es ja höchstens drei oder vier Meter über dem Boden«, meinte er.

»Also praktisch nichts.«

»Hat dich jemand gesehen?«

»Ich habe gehört, wie ein paar Männer hinter mir hergerufen haben«, gab ich zu.

»Hast du der Versuchung widerstanden, für sie einen Salto auf dem Draht zu schlagen?«

»Ich konnte mich gerade noch zurückhalten«, sagte ich. »Ich bin siebenmal abgerutscht. Glücklicherweise konnte ich jedesmal gerade noch rechtzeitig den Tarndraht packen. Den Rest der Strecke habe ich mich an den Händen weitergehangelt.«

»Vermutlich bist du noch nicht soweit, so etwas zum Broterwerb zu machen«, meinte er.

»Nein, das denke ich auch.« Ich war froh, daß ich mir nicht das Genick gebrochen hatte. Sobald ich die Stadtmauern erreicht hatte, war der Rest einfach gewesen. Ich hatte eine Drahtschlinge über eine der Brustwehren geworfen und war geschützt durch Lederhandschuhe die achtzehn Meter bis zum Boden hinuntergeklettert.

»Hast du gehört, was Temenides und seinen Männern zugestoßen ist?« fragte Boots.

»Nein.«

»Man hat sie mit durchschnittener Kehle in den Straßen Brundisiums gefunden«, sagte er. »Anscheinend wollte man uns für ihre Ermordung verantwortlich machen, denn dieses Gerücht wurde absichtlich in Umlauf gesetzt. Aber Soldaten, die vermutlich nicht in die Verschwörung eingeweiht waren, haben uns von dem Verdacht reingewaschen. Als wir Brundisium verließen, wurde das ins Stadttorbuch eingetragen, und zwar zu einer Ahn, da Temenides und seine Männer noch am Leben waren. Das ist den Soldaten aufgefallen. Wir haben es von Andronicus erfahren; er hatte es gehört, als er mit Chino und Lecchio die Stadt verließ.«

»Ich verstehe«, sagte ich. Ich erinnerte mich, daß ich im Bankettsaal gesehen hatte, daß Belnar jemandem einen Befehl zugeflüstert hatte, als Temenides aus dem Saal floh. Es war wohl sein Pech gewesen, den Ubar zu enttäuschen. Belnar hatte allem Anschein nach geplant, die Schuld an diesen Morden der Schauspielertruppe von Boots Tarskstück anzulasten. Bei der Feindschaft zwischen Cos und Ar hätte ihm diese Strategie nicht nur die Möglichkeit verschafft, gegen Verdächtige vorzugehen und die Aufmerksamkeit von den wahren, in seinem Sold stehenden Mördern abzulenken, sondern ihm auch einen bequemen Vorwand geliefert, einige Fremde loszuwerden, die ihm möglicherweise irgendwann einmal hätten gefährlich werden können. Was wäre geschehen, wenn sie am falschen Ort die seltsame Tatsache angesprochen hätten, daß Temenides, ein einfacher Spieler aus Cos, in Brundisium am Tisch des Ubars gesessen hatte? Belnar hatte jedoch nicht wissen können, daß die Schauspielertruppe von Boots Tarskstück nicht ihre Quartiere im Palast aufsuchen, sondern sofort aus der Stadt fliehen würde.

»Selbst wenn man eure Namen reingewaschen hat«, sagte ich, »glaube ich nicht, daß ihr Brundisium in absehbarer Zeit einen erneuten Besuch abstatten solltet.«

»Nein«, sagte Boots, »wir werden es eine Zeitlang von unserer Route streichen.«

»Gut«, meinte Andronicus.

»Es ist ihr Verlust«, sagte Boots.

Lecchio nickte. »Genau.«

»Ich nehme an, euch allen geht es gut, und ihr werdet bald aufbrechen.«

»Ja. Bloß fürchte ich, daß wir einen neuen mutigen Burschen aufspüren müssen, einen Kerl von großer Kraft und bescheidenem Talent, der uns hilft, die Bühne und die Zelte aufzubauen«, sagte Boots.

Ich lächelte. »Das fürchte ich auch.«

»Vielleicht übernehme ich die Messerwerfernummer«, sagte Boots.

Rowena und Telitsia wurden bleich.

»Aber wer zahlt schon, nur um zu sehen, wie man Messer auf Sklavinnen wirft?« meinte Chino.

»Das ist wahr«, meinte Boots.

Die Sklavinnen atmeten auf.

»Wir werden dich vermissen«, sagte Andronicus.

»Ich werde euch auch vermissen«, erwiderte ich. »Euch alle.«

»Zweifellos werden wir uns auch einen neuen Spieler suchen müssen«, sagte Boots.

»Ja«, lächelte Scormus aus Ar. »Ich kehre nach Ar zurück.«

»Und eine Bina auch«, stöhnte der Theaterdirektor.

»Ja, Herr«, sagte Bina, die neben Scormus kniete.

»Rowena, Telitsia!« sagte Boots.

Die beiden Sklavinnen knieten sofort nieder.

Ich sah sie an, Rowena mit ihren langen blonden Zöpfen und die dunkelhaarige Telitsia, die einst eine Schriftgelehrte gewesen war.

»Sind sie nicht wunderschön?« meinte Boots.

»Ja«, sagte ich.

»Rowena hat das Zeug zu einer wunderbaren schönen Kurtisane, und Telitsia wird bestimmt die beste Brigella, die ich je hatte.«

»Vielen Dank, Herr«, sagte Rowena.

»Vielen Dank, Herr«, sagte Telitsia.

»Diese Sklavin da«, sagte Boots und zeigte auf Telitsia, »diese wohlgeformte Brünette, hat um die Erlaubnis gebeten, unsere Stücke niederzuschreiben. Ist das nicht lächerlich?«

»Warum sollte das lächerlich sein?« fragte ich.

»Weil sich die Stücke ständig verändern, ständig verbessert und verfeinert werden und weil sie ständig anderen Auftrittsorten angepaßt werden«, meinte er.

»Davon abgesehen – wie sollte eine Niederschrift den Geist des lebendigen Dramas einfangen können?«

»Davon abgesehen sind es die Stücke nicht wert, daß man sie niederschreibt«, sagte Lecchio.

»Ich weiß, daß du meine Meinung in solchen Angelegenheiten nicht schätzt«, sagte ich zu dem Theaterdirektor. »Aber ich muß Lecchio widersprechen.«

»Also neigst du eher dazu, mir zuzustimmen?« fragte Boots.

»Ja.«

»Deine Meinung ist nicht ohne Wert.«

»Selbst wenn es sich bei den Stücken um keine klassischen Dramen von der Art handelt, von der vielleicht Andronicus träumt, so sind sie doch ein ehrlicher Teil des lebendigen Theaters. Das ist das wahre Theater, ob es an einer Straßenkreuzung stattfindet oder im Haus eines Ubars. In diesem Sinne sind diese Stücke nicht nur Teil seiner Tradition und Geschichte, sondern sind auch zutiefst menschlich, sind trotz ihrer Grobheit und Unflätigkeit kostbar und einzigartig. Es wäre eine Tragödie, wenn sie der Nachwelt nicht aufbewahrt würden, gleichgültig, auf welche Weise auch immer.«

»Es ist unmöglich, daß sie in Vergessenheit geraten könnten«, meinte Boots.

»Ich kenne eine Welt, auf der genau das passiert ist.«

»Wie dem auch sei«, sagte Boots fort. »Ich habe ihr die Erlaubnis und die nötigen Utensilien gegeben, um wenigstens ein paar Dinge niederschreiben zu können.«

»Ausgezeichnet!« sagte ich. »Es ist eine gute Idee.« Ich sah auf Telitsia hinunter, die neben Rowena kniete. »Warum willst du das tun?«

»Ich habe gelernt, die Stücke zu lieben«, antwortete sie. »Sie sind etwas Kostbares. Ich will nicht, daß sie der Vergessenheit anheimfallen.«

Ich sah sie mir beide noch einmal an, wie sie dort in ihrer ganzen Schönheit knieten.

»Ich werde die Mädchen vermissen, so wie ich euch alle vermissen werde«, sagte ich.

»Wir werden dich auch vermissen«, sagte Chino.

Ich wandte mich an Scormus. »Ich nehme an, Andronicus hat dir die Papiere aus Brundisium gegeben, die Codeschlüssel?«

Er nickte.

»Ich hoffe, sie gehörten zu den anderen Dokumenten, die ich Lady Yanina abgenommen hatte.«

»Das taten sie, wie wir es uns gedacht hatten.« Er reichte mir ein dickes Bündel. »Ich habe dir die entschlüsselten Botschaften aufgeschrieben. Mit den Schlüsseln gab es keine Schwierigkeiten. Ich habe es in der letzten Nacht erledigt. Es ist alles da, die Schlüssel wie auch die Geheimbotschaften.«

Ich nahm die Seiten. »Ich danke dir.« Es waren persönliche Gründe gewesen, die mich nach Brundisium gebracht hatten: Ich hatte herausfinden wollen, wer für den Angriff auf mich in Port Kar verantwortlich war. Es hatte mich wirklich überrascht, daß es weder die Priesterkönige noch die Kurii gewesen waren, sondern Lurius aus Jad, der Ubar von Cos. »Und was besagen die Botschaften?«

»Verrat an Ar, Verrat an dem Bündnis«, sagte er. »Cos marschiert mit Hilfe von Tyros gegen Ar. Tausende von Männern, die in Cos und Tyros bis zur Vollkommenheit ausgebildet worden sind, begeben sich auf Schiffe. Die Invasionsflotte soll in Brundisiums Hafen unbehelligt ankern. Schon seit Monaten wurden in Brundisium heimlich Vorräte und Kriegsmaterial gelagert. Die Stadt soll als Nachschubbasis für die Invasion des Kontinents dienen.«

»Angesichts solcher Überlegungen ist es kein Wunder, daß man in Brundisium so über die Sicherheit besorgt war«, meinte Boots.

»In der Stadt hat es gebrannt«, sagte ich. »Vielleicht wurden die für die Invasion gedachten Vorräte beschädigt oder vernichtet, und es kommt zu einer Verzögerung.«

»Da man annehmen muß, daß solche Dinge in der Nähe des Hafens aufbewahrt werden, halte ich das für sehr unwahrscheinlich«, sagte Scormus. »Es gab wohl keine Brände im Hafenviertel, wie ich von Andronicus gehört habe.«

»Das stimmt.«

»Viele Dinge ergeben jetzt einen Sinn«, sagte Scormus.

»Ja. Am bedeutsamsten war wohl die Anwesenheit von Temenides in Brundisium, der offensichtlich in Belnars Gunst stand.«

»Vielleicht war er ein Kurier«, spekulierte Boots. »Spieler dürfen kommen und gehen, wie es ihnen gefällt.«

»Ich vermute, er war mehr als ein einfacher Kurier«, widersprach Scormus. »Solche Männer dürften selten mit einer Eskorte cosischer Speerträger reisen.«

»Du vermutest, daß seine Anwesenheit auf eine Beschleunigung der Ereignisse hindeutet?«

Scormus lächelte. »Ganz genau.«

»Ar hat die mächtigsten Landstreitkräfte von ganz Gor. Cos und Tyros sind verrückt, Ar auf dem Land herauszufordern«, sagte ich.

»Marlenus, der Ubar von Ar, hält sich nicht in der Stadt auf«, sagte Scormus. »Wie ich gehört habe, ist er in der Voltai, auf einer Strafexpedition gegen Treve.«

»Andere werden die Führung übernehmen.«

»Das ist richtig«, sagte Scormus.

»Ich glaube, Ar hat wenig zu befürchten.«

»Es herrscht schon lange Krieg zwischen Cos und Ar«, meinte Scormus. »Nun ist Tyros, ein traditioneller Konkurrent von Cos, was die Seeherrschaft angeht, dazu bereit, cosische Pläne Öffentlich auf dem Land zu unterstützen. Man sollte die vereinigten Streitkräfte dieser beiden Ubarate nicht unterschätzen.«

»Aber du weißt nicht, von wie vielen Männern wir hier sprechen?« fragte ich.

»Nein. Davon stand in den Dokumenten nichts. Doch ich gehe davon aus, daß es ein beträchtliches Heer sein wird.«

»Du mußt handeln«, sagte ich. »Du mußt schnell nach Ar reisen, um den Rat von Brundisiums Verrat zu unterrichten und um die Stadt auf die Invasion vorzubereiten.«

»Ich glaube, Ar wird auch so bald Bescheid wissen.«

»Ich verstehe nicht.«

»Es ist zu spät.«

»Was?«

»Ist heute nicht der Siebzehnte Se’Kara?«

»Ja. Und?«

»Dann sieh einmal aufs Meer.«

Rowena schrie überrascht auf. Die anderen auch. Selbst Petrucchio stand mühsam auf.

Am Horizont waren Segel zu sehen. Wir standen lange Zeit am Rand der Klippe, an deren Fuß sich die Wellen des Thassa, des Meeres, brachen.

»Es ist kein Ende in Sicht!« sagte Boots.

Eine Reihe von Schiffen nach der anderen erschien am Horizont. Die winzigen weißen Segel hielten langsam auf Brundisium zu; es waren Hunderte.

»Es hat angefangen«, sagte Scormus.

»Standen Namen in den Geheimbotschaften?« fragte ich.

»Ja, Mitglieder des Hohen Rates von Brundisium sind darin verwickelt. Belnars Tod wird nichts ändern.«

»Es gibt doch sicherlich auch Kontaktpersonen in Ar.«

»Ja, das ist richtig.«

»Damit war zu rechnen«, sagte ich. »Lurius ist ein vorsichtiger Bursche. Er ließe sich ohne beträchtliche Unterstützung von innen niemals auf ein so gefährliches Unternehmen ein.«

»Nein. Aber was viel schlimmer ist. Es hat den Anschein, als hätten gewisse Personen in Ar dieses gewagte, finstere Unternehmen überhaupt erst ersonnen und ihm den Weg geebnet.«

»Also gibt es Verräter in Ar«, sagte ich.

»Ja«, sagte Scormus.

»Es ist in Ar Brauch, mit Verrätern gnadenlos zu verfahren.«

Scormus nickte.

»Wer sind diese Verräter?«

»Das ist schwer zu sagen«, meinte Scormus. »In den Papieren tauchen nur wenige Namen auf. Doch davon abgesehen scheinen es viele Personen zu sein, und vermutlich haben einige von ihnen die höchsten Stellen inne.«

»Werden einige der Verräter in den Dokumenten beim Namen genannt?« fragte ich.

»Ja. Zwei Verräter werden genannt.«

»Und?«

»Flaminius.«

»Mit dem hatten wir zu tun. Er ist zweifellos ein Verräter. Ich habe ihn gefesselt zurückgelassen. Mittlerweile dürfte er frei sein.«

Scormus nickte.

»Wer ist der andere?«

»Es ist eine Frau.«

»Bemerkenswert.«

»Ich glaube nicht, daß dir der Name etwas sagt.«

»Sag ihn mir trotzdem.«

»Sie lebt schon seit Jahren sehr zurückgezogen in Ar. Sie heißt Talena.«

»Talena!«

»Stimmt etwas nicht?« fragte er.

»Nein, schon gut.«

»Kennst du eine Talena?«

»Ja, aber das ist schon lange her.«

»Dann kann sie es nicht sein.«

»Nein«, sagte ich. »In Ar muß es tausend Talenas geben.«

»Vermutlich. Und mit allem nötigen Respekt, es ist unwahrscheinlich, daß jemand von deiner doch wohl eher niederen Herkunft sie kennen dürfte.«

Ich runzelte die Stirn.

»Ja, diese Frau nahm einst eine hohe Stellung ein«, sagte Scormus. »Sie gehörte einer hohen Kaste an und entstammte einem adligen Geschlecht, sie war ein Geschöpf sorgfältiger und guter Erziehung, deren Stellung allgemein anerkannt wurde. Sie gehörte zu den vornehmsten der freien Frauen Ars. Bei Festen wie dem Pflanzfest wurde es ihr erlaubt, den Heimstein zu ehren, sie durfte den besten Kala-na-Wein und das nahrhafteste Sa-Tarna-Korn auf ihn tröpfeln. Sie war die Tochter von Marlenus, des Ubars von Ar.«

»Ich habe von ihr gehört«, sagte ich.

»Dann fiel sie in Ungnade, da sie versklavt wurde und deshalb keinen Heimstein mehr besaß. Da sie darum gefleht hatte, gekauft zu werden, eine Tat, die die Rechtmäßigkeit ihrer Gefangenschaft offiziell bestätigte, wurde sie von ihrem Vater verstoßen und aus der Familie ausgeschlossen.«

»Auch davon habe ich gehört.«

»In den letzten Jahren hat sie zurückgezogen und in Schande in Ar gelebt; sie ist zwar frei, hat aber keinen Heimstein.«

Ich nickte.

»Allem Anschein nach ist sie jetzt irgendwie in eine Verschwörung verwickelt, mit der Marlenus gestürzt werden soll. Sie gehört wohl zu den Anführern des heimtückischen Verrates und der geplanten Revolte, eines Verrates, der den Feinden Ars das Tor der Stadt öffnen könnte. Es sieht so aus, als wollte man sie auf den Thron von Ar setzen, gelenkt von den Räten von Cos und Tyros.«

»Die Heere Ars werden die Streitkräfte von Cos und Tyros vernichten«, sagte ich.

»Davon bin ich nicht überzeugt«, sagte Scormus. Wir sahen wieder aufs Meer hinaus. Es schien mit Schiffen bedeckt zu sein. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so viele Schiffe auf einmal gesehen. Sogar in diesem Augenblick kamen am Horizont neue Segel in Sicht.

»Nein«, sagte ich. »Ar wird die Heere von Cos und Tyros vernichten.«

»Deine Zuversicht übersteigt die meine, besonders unter diesen Umständen.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Sollte das jedoch geschehen und man die Verräter entlarven, wird man Talena zweifellos hart bestrafen.«

Ich verließ die Klippe, von der aus wir die riesige Flotte beobachtet hatten. Die anderen schlossen sich mir an. Ich begab mich zu dem kleinen Lagerfeuer, das in dem Kreis zwischen den Wagen brannte. Mit einem Ast fachte ich die Glut an, dann warf ich das Bündel Papiere in die Flammen und sah zu, wie sie verbrannten.

»Hast du eine Kopie von den Botschaften angefertigt?« fragte ich Scormus.

»Nein. Aber ich habe sie gelesen. Ich kenne ihren Inhalt. Werde ich jetzt getötet?«

»Nein«, sagte ich. »Natürlich nicht.«

»Was soll ich tun?«

»Was auch immer du für das Richtige hältst.«

»Selbst wenn ich die Papiere hätte, gäbe es doch keine Möglichkeit, ihre Echtheit zu beweisen.«

Ich nickte und sah zu, wie die letzten Blätter sich zusammenrollten und verkohlten.

»Wem sollte ich berichten, was wir herausgefunden haben? Wir wissen nicht, wer zu den Verschwörern gehört und wer nicht.«

»Das ist wahr«, sagte ich. Mit dem Ast stocherte ich in den verkohlten Überresten der Papiere und zerdrückte sie zu Asche.

»Das bist nicht du«, sagte Scormus.

»Was?«

»Das!« sagte er.

»Was meinst du?« fragte ich ärgerlich.

»Ich glaube nicht, daß du dich auf so einfache Weise von unangenehmen Wahrheiten befreien kannst, mein Freund«, sagte Scormus. »Wie auch immer du sie einschätzt.«

Ich antwortete nicht.

»Glaubst du, du hast die Wahrheit verbrannt?«

Ich antwortete nicht.

»Das ist unmöglich.«

»Vielen gelingt das«, sagte ich. Ich kannte eine Welt, die auf Lügen und der Zerstörung der Natur basierte. Sie hieß Erde.

»Vielleicht.«

Ich stocherte wütend in der Asche herum. Dann warf ich den Ast weg.

»Aber ich bezweifle, daß du besonders gut darin bist.«

»Nein«, sagte ich. »Ich glaube nicht, daß ich besonders gut darin wäre.«

»Du kannst nicht einmal auf einem Seil laufen«, bemerkte Lecchio.

»Das ist wahr«, erwiderte ich.

»Wie auch immer diese Sache ausgeht, sie hat in diesem Augenblick ihren Anfang genommen«, sagte Scormus. Er kehrte zurück zur Klippe, an deren Fuß sich die Wellen brachen. Ich gesellte mich mit meinen Freunden, die ich bald verlassen mußte, zu ihm. Wir alle sahen auf das Meer hinaus. Es war eine große Flotte. Die ersten Schiffe hatten den Hafen von Brundisium bereits erreicht.

»Es hat angefangen«, sagte Scormus.

»Ja«, sagte ich. »Es hat angefangen.«

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