18

Ich fuhr herum.

»Ich hatte mir schon gedacht, daß du kommst«, sagte Flaminius. »Nein, zieh das Schwert nicht.«

Ich zögerte. Er hatte seine Waffe noch nicht gezogen. Neben ihm stand eine in Seidenfetzen gekleidete Sklavin.

»Du darfst dich hinknien, Yanina!« sagte er.

»Ja, Herr«, antwortete sie und gehorchte schnell.

»Ich habe sie mitgebracht«, erklärte er. »Sie war bei einem anderen Suchtrupp. Fast jeder, der wußte, wie du aussiehst, war bei irgendeinem Suchtrupp dabei.«

»Das dachte ich mir«, sagte ich.

»Belnar hat sie mir überlassen.«

»Belnar ist tot.«

»Das habe ich gehört.«

»Die Sklavin scheint ängstlich zu sein«, meinte ich.

»Du hast Grund zur Angst, nicht wahr, meine Liebe?« fragte Flaminius.

»Vielleicht, Herr«, flüsterte sie.

»Und du bist aus demselben Grund hier wie ich?« fragte ich Flaminius.

»Schon möglich.«

Ich hatte den Gang benutzt, der hinter der Ubarloge seinen Anfang nahm. Nach meiner Ankunft in den Privatgemächern des toten Ubars hatte ich mit der Suche nach bestimmten, offen herumliegenden Gegenständen begonnen, die etwas mit Kaissa zu tun hatten, Dingen wie Spielbrettern und Spielsteinen, Büchern, Papieren und Aufzeichnungen. Natürlich hatte ich bei meiner Rückkehr das Eisengitter hochgezogen, das den Raum in zwei Hälften geteilt hatte. Das war mir nicht schwergefallen, da ich ja von der abgesperrten Seite gekommen war. Die dazu nötige ausgeklügelte Apparatur hatte ich nach kurzer Suche gefunden.

In einem Raum, der anscheinend dem Kaissa gewidmet war, hatte ich schließlich gefunden, was ich gesucht hatte. Die Papiere lagen inmitten anderer Aufzeichnungen von Spielen. Es handelte sich zweifellos um die richtigen Unterlagen. Eine Seite war mit der numerierten Namensliste bekannter Kaissa-Spieler beschrieben. Selbst Scormus’ Name war vertreten. Auf einem anderen Blatt stand eine angebliche Liste von Turnier Städten, auf dem nächsten ein Namensverzeichnis von Leuten, die angeblich für ihre Kunstfertigkeit in der Herstellung von Spielbrettern und Steinen berühmt waren. Dann gab es noch numerierte Zeichnungen von Brettern.

Auf diesen Brettern standen jedesmal an anderer Stelle angeordnete Buchstaben, manchmal der Beginn eines Wortes, manchmal auch scheinbar zufällige Buchstabenanordnungen. Es waren alles Schlüssel für verschiedene Kaissa-Codes unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade.

Ich hatte die Papiere in meine Gürteltasche gestopft. Die so hastig geöffnete Kiste, die vorher so bedeutsam und unerreichbar ausgesehen hatte, war nur ein Ablenkungsmanöver gewesen. Das wahre Versteck, das alle die täuschen sollte, die eine Vorstellung vom Wert der Dokumente hatten, und das Belnars Klugheit zur Ehre gereichte, hatte einfach darin bestanden, die Codeschlüssel herumliegen zu lassen, sie zwischen ansonsten unwichtige Papiere zu stecken. So waren die Dokumente natürlich auch vor gewöhnlichen Dieben sicher, die bestimmt eher die Kiste aufgebrochen oder nach Geheimverstecken gesucht hätten. Zog man ihre leichte Zugänglichkeit und ihre scheinbare Wertlosigkeit in Betracht, hätte kein gewöhnlicher Dieb sie stehlenswert gefunden.

Allerdings hatte Belnar einen meiner Meinung nach kleinen Fehler begangen. Die Spielsteine in dem Kaissa-Zimmer und die Bretter erweckten nicht den Eindruck häufigen Gebrauchs. Das Holz war nicht vom Spiel glattpoliert, die Oberfläche der Bretter wiesen keine Abnutzungserscheinungen wie winzige Kratzer oder kleine Schleifspuren auf. Wie die meisten Goreaner war Belnar zweifellos mit dem Kaissa-Spiel vertraut gewesen. Andererseits schien er nicht oft gespielt zu haben. Und so hätte die Menge handschriftlicher Notizen und Aufzeichnungen zumindest einigen Beobachtern ziemlich ungewöhnlich erscheinen müssen.

Ich hatte die Seiten gerade eingesteckt, als ich hinter mir einen Laut hörte und mich umdrehte.


»Nein«, sagte Flaminius. »Laß das Schwert stecken.«

»Warum? Glaubst du etwa, du würdest diesen Ort lebend verlassen?«

»Natürlich«, erwiderte er, machte aber keine Anstalten, nach der Waffe zu greifen.

»Du wirst mir jetzt natürlich sagen, daß ich umstellt bin.«

»Natürlich habe ich Männer in der Nähe«, sagte er. »Einige sind in der Nähe der Ubarloge und anderen mir bekannten Ausgängen des Geheimganges postiert. Glaub nur nicht, du könntest auf diesem Weg entkommen. Weitere Männer befinden sich in einiger Entfernung auf den Brücken und vor dem Eingang zum Garten.«

»Diese Entfernung könnte ein Fehler in deinem Plan sein.« Ich legte die Hand auf den Schwertgriff.

»Das glaube ich nicht«, meinte er. »Wir wollen die Soldaten doch sicherlich nicht bei den Gesprächen dabeihaben, die wir führen wollen, oder?«

»Da hast du wohl recht«, sagte ich. »Hast du dir auch überlegt, wie du dein Leben hättest retten können, bevor ich dich erreicht habe?«

»Natürlich.«

»Ach ja?«

»Komm mit zum Hingang«, sagte er. Er drehte sich um, wandte mir den ungeschützten Rücken zu und ging voraus. Ich war neugierig geworden. »Du darfst mitkommen, Yanina«, sagte er.

»Ja, Herr.«

Ich folgte Flaminius und Yanina durch das Haus. Ich wollte beide vor mir haben. Wir gingen durch Türen und Torbogen, und ich blieb auf der Hut.

»Siehst du?« fragte Flaminius, als wir draußen auf der Treppe zum Balkongarten standen.

»Was denn?« fragte ich.

Er hob den Arm und gab den Soldaten ein Zeichen, die vor dem Gartentor auf der schmalen Brücke standen.

»Nein«, stöhnte ich auf.

Seine Männer hielten eine hochgewachsene, schlanke Gestalt bei den Armen gepackt; sie war zusammengesackt und blutete.

»Das ist doch dein Freund Petrucchio«, meinte Flaminius. »Ich bin ihm auf der Brücke begegnet. Anscheinend hat er dein Interesse für die Gemächer des Ubars vorausgesehen und ist gekommen, um die Brücke zu verteidigen und dich zu beschützen. Er hatte bloß sein riesiges, lächerliches Schwert dabei. Ich konnte ihn mühelos niederstrecken.«

»Er sollte aus der Stadt fliehen«, sagte ich.

»Er ist offensichtlich zurückgekehrt, wohl in der Hoffnung, dir helfen oder dich retten zu können«, sagte Flaminius.

Ich stöhnte. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sich Petrucchio, der arme, tapfere Petrucchio, Boots Tarskstücks ›Kapitän‹, auf der Brücke aufbaute. Welch eine absurde, schwache, großartige Gestalt mußte er dort abgegeben haben, mit seinem lächerlichen Holzschwert und dem wilden Schnurrbart.

»Welch einfältiger Narr«, sagte Flaminius. »Kannst du dir das vorstellen? Ein Schauspieler, der es wagt, mit mir die Klingen zu kreuzen?«

»Du hast dich tapfer geschlagen gegen einen ungeübten Kämpfer, gegen einen Mann, der es gewagt hat, dir allein mit Mut und einem Holzschwert gegenüberzutreten«, sagte ich. »Mach dich bereit, gegen ein anderes Mitglied der Truppe von Boots Tarskstück anzutreten, dessen Klinge allerdings aus Stahl ist.«

»Ich habe nicht vor, gegen dich zu kämpfen«, sagte Flaminius. »Glaubst du etwa, ich kenne den Ruf von Bosk aus Port Kar nicht? Glaubst du, ich bin verrückt?«

»Dann knie nieder und entblöße den Nacken«, sagte ich.

»Ich habe deinen Freund Petrucchio«, sagte Flaminius.

»Ich habe dich.«

»Wenn ich getötet werde, wird Petrucchio natürlich ebenfalls sterben.«

»Stirbt Petrucchio, wirst du sterben.«

»Nun ist wohl der Zeitpunkt gekommen, an dem wir miteinander sprechen sollten«, sagte Flaminius.

»Sprich.«

»Laß uns ins Haus gehen.«

»Einverstanden.«

Er schloß die Tür.

»Also?«

»Belnar und andere Mitglieder des Hohen Rates standen in Verhandlung mit einzelnen Personen verschiedener anderer Stadtstaaten, insbesondere von Cos und Ar. Ich kenne nicht alle Einzelheiten, aber ich habe eine ziemlich genaue Vorstellung. Diese Verhandlungen fanden grundsätzlich mit verschlüsselten Botschaften statt. Ich würde gern die Sicherheit dieser Codes garantieren. Mindestens ein Satz der Codeschlüssel ist hier irgendwo. Wenn du sie gefunden hast, gib sie mir. Außerdem wirst du dich ergeben und mein Gefangener.«

»Was passiert, wenn ich zustimme?«

»Du mußt zustimmen«, lächelte er. »Du hast keine

Wahl, zumindest keine ehrenvolle Wahl.«

»Du würdest die Ehre eines Mannes dazu benutzen, ihn gefangenzunehmen?«

»Oder seine Habgier, seinen Ehrgeiz, und was sich sonst noch anbietet«, sagte Flaminius.

»Ich verstehe.«

»Beuge dich meinen Wünschen, und Petrucchio ist frei.«

»Und was wird aus mir?«

»Über dein Schicksal werden andere bestimmen«, sagte Flaminius. »Wer weiß? Vielleicht darfst du ja weiterleben, möglicherweise als gebrandmarkter, zungenloser Sklave, der an die Ruderbank einer cosischen Galeere gekettet ist.«

»Einer cosischen Galeere?« fragte ich.

»Vielleicht.« Er lächelte.

Ich zögerte.

»Petrucchio blutet«, sagte er. »Ich habe angeordnet, daß man ihn nicht verbindet. Er scheint nicht gerade von kräftiger Statur zu sein. Es ist fraglich, wie lange er ohne Hilfe überleben wird.«

»Ich verstehe.«

»Dein Schwert, Kapitän?«

Ich griff nach dem Schwert, um es ihm zu geben.

In diesem Augenblick klopfte es lautstark und befehlsgewohnt an der Tür.

»Ich habe doch Befehl gegeben, daß man mich nicht stört«, sagte Flaminius ärgerlich.

»Öffnet im Namen von Saphronicus, dem General aus Ar! Öffnet im Namen der Allianz!«

»Ein General aus Ar, hier?« fragte Flaminius.

Ich trat zurück, die Hand auf dem Schwertgriff.

Erneut wurde gegen die Tür gehämmert. Man gewann unwillkürlich den Eindruck, als werde jede Verzögerung beim Öffnen schlimme Konsequenzen nach sich ziehen.

Flaminius sah mich an. Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht solltest du öffnen«, schlug ich vor.

Flaminius eilte zur Tür und schob den Riegel zurück. Eine hochgewachsene, eindrucksvolle Gestalt mit breiten Schultern stand auf der Schwelle. Sie trug einen stoffreichen Umhang, das Gesicht wurde von einem Helm verdeckt. »Ich bin Saphronicus, General aus Ar, Gesandter des Stadtstaates Ar«, verkündete der Mann. »Ich habe die Stadt erst vor einer Ahn betreten und sofort den Stadtkapitän zu mir befohlen. Ich finde hier getötete Ubars, Chaos und Brände vor! Ich habe das Kommando über die Stadt übernommen, bis der Hohe Rat einen neuen Ubar ernennt! Der Stadtkapitän hat mir berichtet, er bekomme seine Befehle von einem Mann namens Flaminius, und daß der hier sein könne. Wer ist dieser Flaminius?«

»Ich bin Flaminius, der Vertraute von Belnar«, sagte Flaminius. »Belnar hat mir den Befehl erteilt, mich um eine Ausnahmesituation zu kümmern und alles weitere an den Stadtkapitän weiterzudelegieren. Seine Autorität ist nun natürlich erloschen. Mein Schwert steht dir zur Verfügung.«

»Die Stadt steht in Flammen«, sagte der Fremde.

»Die Brände sind schwierig unter Kontrolle zu bringen«, sagte Flaminius. »Wir bekämpfen sie schon die ganze Nacht.«

»Ich habe gehört, daß Hunderte von Männern, die besser dazu abkommandiert worden wären, die Stadt zu schützen, sich auf die fruchtlose Suche nach einem Flüchtigen begeben mußten.«

»Das war keine fruchtlose Suche, General!« rief Flaminius. »Hier ist er! Ich habe ihn gefangengenommen!«

»Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher«, sagte ich. Ich war neugierig, wie die Ankunft des Fremden die Dinge verändern würde.

»Er scheint nicht in Ketten zu sein«, meinte der General. »Er trägt noch immer sein Schwert.«

»Er ist hilflos, General«, versichterte Flaminius. »Sein Freund ist in meiner Gewalt, und der wird sterben, wenn er sich nicht ergibt.«

»Handelt es sich da zufällig um den großen dünnen Burschen mit dem Holzschwert?« fragte der General.

»Ja, General!« sagte Flaminius.

»Ich habe ihn von meinen Männern in den Garten bringen lassen. Er war verwundet, und man hat sich nicht um die Wunde gekümmert, ein erstaunliches Beispiel unmenschlicher Barbarei. Meine Leute kümmern sich jetzt um ihn.«

Flaminius wurde blaß. »Wo sind dann meine Männer, General?« fragte er unbehaglich.

»Ich habe ihnen befohlen, sich zurückzuziehen, und sie dorthin abkommandiert, wo sie zu diesem Zeitpunkt sein sollten, bei der Bekämpfung der vielen Brände!«

»Und wo genau sind deine Leute?«

»Keine Angst«, sagte der General. »Die stehen vor der Tür.«

Flaminius entspannte sich sichtbar.

»Der eine jongliert mit Larmas«, sagte der General. »Der andere spaziert über den Tarndraht, der zwischen zwei Brücken gespannt ist.«

»Was?« stieß Flaminius entsetzt hervor.

Der General nahm den Helm ab.

»Publius Andronicus!« rief ich.

»›Der gebieterische General‹ gehört zu meinen besten Rollen«, sagte Publius Andronicus.

»Du bist ein wahrer Schauspieler«, sagte ich.

»Aber natürlich«, entgegnete er. »Hat Boots Tarskstück dir das nicht erzählt?«

»Doch, schon«, gab ich zu.

»Ich wähle meine Rollen stets mit großer Sorgfalt aus«, sagte Andronicus.

Ich packte Flaminius am Hals und drängte ihn gegen die Wand.

»O nein, meine Liebe«, sagte Andronicus, packte die fliehende Yanina am Arm und stieß sie zu Boden. »Du entwischst uns nicht.«

»Bringt Petrucchio herein«, sagte ich. »Wir müssen uns um ihn kümmern.«


»Ich sterbe!« schrie Petrucchio.

»Unsinn«, sagte ich. »Das ist bloß ein Kratzer.«

»Errichtet einen Scheiterhaufen aus Hunderten von Scheiten«, rief er.

»So ein Begräbnis steht dir überhaupt nicht zu«, sagte Chino. »Du bist bloß ein Schauspieler.«

»Du wirst Glück haben, wenn die Leute dich zum Unrat werfen«, sagte Lecchio.

»Es ist nur eine Schramme«, wiederholte ich.

»Oh?« machte Petrucchio.

»Ja«, sagte ich und legte einen Verband an. »Die würde nicht einmal einen verrückten Urt stören.«

»Hat man mein Schwert gefunden?« fragte Petrucchio.

Chino nickte. »Ja, wir haben es aufgehoben.«

»Es waren Hunderte«, versicherte Petrucchio mir. »Ich habe wie ein Larl gekämpft. Einmal habe ich elf Männer zugleich aufgespießt!«

»Das ist eine Menge«, bestätigte ich.

»Man wird sich noch lange daran erinnern, wie Petrucchio die Brücke gehalten hat«, sagte er.

»Davon bin ich überzeugt.«

»Und wie er am Ende doch fiel, blutüberströmt unter den Klingen wilder Feinde!«

»Ganz genau.«

Plötzlich sackte Petrucchio in meinen Armen zusammen.

»Er ist tot!« rief Chino.

»Petrucchio?« fragte ich.

»Ja?« Er schlug die Augen auf.

»Laß das.«

»Habe ich gut gespielt?« wandte sich Petrucchio an Andronicus, seinen Mentor in diesen Dingen.

»Hervorragend, alter Freund«, sagte Andronicus.

»Es war nett, daß ihr euch nach mir auf die Suche gemacht habt«, sagte Petrucchio.

»Das war doch selbstverständlich«, versicherte Andronicus ihm.

»Obwohl ich keine Hilfe gebraucht hätte.«

»Natürlich nicht.«

»Hätten die Aufzeichnungen über die genaue Haltung des Kopfes und der Hände in der Schauspielkunst, die Publius Andronicus dir gegeben hat, Flaminius’ Klinge nicht ein Stück abgelenkt, wäre es vermutlich anders ausgegangen«, informierte ich Petrucchio.

»Vielleicht«, räumte er großzügig ein. »Ich war immer der Meinung, daß solche Theorien eines Tages ihren Wert erweisen würden.«

»Petrucchio«, warnte Andronicus.

»Ihr müßt ihn hier wegschaffen«, sagte ich Andronicus. »In deiner Verkleidung als General müßte es dir eigentlich gelingen.«

»Ich fürchte, für dich wird es wesentlich schwieriger werden, die Stadt zu verlassen«, sagte er. »Anscheinend ist jeder Soldat auf der Suche nach dir. Und ich vermute, daß an jedem Tor ein Sklave oder ein Höfling steht, der dich erkennen könnte.«

»Ich werde die Stadt so verlassen, wie wir es ursprünglich geplant hatten«, sagte ich. »Es scheint die einzige Möglichkeit zu sein.«

»Hast du noch den Apparat, den ich dir gegeben habe?« fragte Lecchio.

»Ja.«

»Denk daran, du darfst nie auf deine Füße blicken«, erinnerte er mich. »Du mußt in die Richtung blicken, in die du dich bewegst. Du mußt mit deinem ganzen Körper denken, die geringsten Eindrücke ausnutzen.«

»Ich kann mich gut an unsere Übungen erinnern«, versicherte ich ihm.

»Ich auch. Darum dränge ich dich ja dazu, vorsichtig zu sein.«

»Ich verstehe.«

»Wir sollten uns auf den Weg machen«, sagte Andronicus. »Bevor die Menschen Brundisiums wieder zu Bewußtsein kommen.«

Ich wandte mich an Andronicus, »Nimm diese Papiere. Sie sind wichtig. Gib sie Scormus. Er wird wissen, was er damit machen soll. Er hat auch die anderen Dokumente, die er dazu braucht.«

»Wo treffen wir dich?«

»Wenn alles gut geht, am vereinbarten Ort.«

»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte Andronicus.

»Ich wünsche dir auch alles Gute, euch allen«, sagte ich.

Andronicus setzte wieder den Helm auf, der seine Gesichtszüge verbarg. Dann richtete er sich majestätisch zu seiner vollen Größe auf. Er war wieder der General.

»Kommt, Männer«, sagte er. »Und bringt den Gefangenen mit, der in Ar gesucht wird.«

Er war wirklich beeindruckend.

»Nicht schlecht, was?«

»Vergeßt mein Schwert nicht«, sagte Petrucchio.

»Wir heben es unterwegs auf«, beruhigte Lecchio ihn.

»Kommt, meine Männer!« sagte Andronicus der General. Er trat herrisch durch die Tür, gefolgt von Chino und Lecchio, die Petrucchio in die Mitte genommen hatten.

»Ich wußte gar nicht, daß Petrucchio in Ar gesucht wird«, sagte Lecchio ganz im Einklang mit seiner Rolle.

»Halt den Mund!« meinte Chino, der das gar nicht witzig fand.

Ich sah ihnen nach, um sicherzugehen, daß sie nicht in Schwierigkeiten gerieten – zumindest soweit ich sie beobachten konnte. Dann ging ich durch die Räume, bis ich zu der Stelle kam, an der wir die Gefangenen sicher aufbewahrt hatten. Wir hatten sie entkleidet und dann mit ausgebreiteten Armen an die Stäbe des erneut heruntergelassenen Gitters gebunden, das mich daran gehindert hatte, Belnar zu verfolgen. Natürlich hatten wir auch ihre Handgelenke an die Stäbe gebunden.

»Töte mich nicht!« rief Flaminius und kämpfte gegen die Fesseln an, als er mich mit gezücktem Schwert näher kommen sah. »Bitte, nein, Herr!« rief Yanina und zerrte hilflos an den Stricken. »Habt Gnade mit einer Sklavin! Bitte tötet mich nicht!« Zweifellos hatten beide verzweifelt gehofft, daß wir alle gegangen waren. Aber ich war zurückgekehrt.

Ich setzte Flaminius die Schwertspitze an die Kehle. Er brach in Schweiß aus. »Töte mich nicht«, flüsterte er. Ich senkte das Schwert ein Stück. »Nein«, flehte er. »Bitte!«

»Zweifellos werden deine Männer bald kommen, um nach dir zu suchen«, sagte ich. »Also sollte ich dich schnell töten und mich dann auf den Weg machen.«

»Es gibt keinen Grund, das zu überstürzen«, rief Flaminius. »Vermutlich wissen sie nicht einmal, daß wir hier sind. Es könnte noch Ahn dauern, bis jemand kommt!«

»Tatsächlich?« Ich hob das Schwert.


Ich stand auf. Es war später Nachmittag. Über Brundisium schwebten nur noch wenige Rauchwolken, vermutlich waren die meisten Brände gelöscht. Niemand hatte Belnars Residenz einen Besuch abgestattet. Ich hatte auch nicht damit gerechnet. Es hatte anderswo einfach zuviel zu tun gegeben. Ich ging davon aus, daß der Stadtkapitän die Macht übernommen hatte, nachdem Belnar tot aufgefunden worden war. Flaminius’ Macht hatte sich hauptsächlich auf seine Nähe zum Ubar und dem Kommando über die vom Ubar geleiteten Sonderaufgaben gestützt. Soweit mir bekannt war, war er kein Mitglied der Verwaltung; er bekleidete auch keinen offiziellen Rang im Heer oder in der Wache. Vermutlich hatte er nur durch Belnar Verbindungen zu Mitgliedern des Hohen Rates gehabt, die zweifellos eng mit dem Ubar bei seinen verschiedenen Planungen zusammengearbeitet hatten. So wie es aussah, war noch kein neuer Ubar ernannt worden. Zumindest waren die Alarmstäbe nicht geschlagen worden, was sicher geschehen wäre, um solch eine Ernennung anzukündigen.

Ich sah auf Yanina hinunter. Sie lag bäuchlings auf ein paar Fellen, die ich vor das Gitter geworfen hatte. Sie hatte mir eine Ahn lang gedient; unter anderem hatte sie mir eine Mahlzeit zubereitet.

Ich warf Flaminius einen Blick zu. Er hockte mittlerweile auf dem Boden, mit dem Rücken am Gitter, die Arme ausgebreitet und mit den Handgelenken an die Eisenstäbe gefesselt. Ich hatte ihn so festgebunden, da ich der Meinung gewesen war, daß es bequem für ihn war.

Mein Gefangener Flaminius sah weg und mied meinen Blick.

Ich trat zur Seite und wickelte eine Schale aus dem Tuch. Der Inhalt – gekochter Vulo und Reis – war noch warm.

»Iß«, sagte ich zu Flaminius und löffelte ihm etwas Vulo und Reis in den Mund.

Dann stellte ich die Schale beiseite und hob die Schwertscheide mit der darin befindlichen Klinge auf.

»Töte mich nicht«, sagte er plötzlich.

»Mittlerweile müßten die Dokumente, die ich gesucht habe und deren Sicherheit du garantieren wolltest, aus der Stadt sein.«

»Das spielt keine Rolle mehr.«

»Vor langer Zeit«, fuhr ich fort, »als du mich der Gnade der Urts überlassen wolltest, habe ich dir ein paar Fragen gestellt. Wenn ich mich recht erinnere, wolltest du sie nicht beantworten.«

Er sah mich furchtsam an.

Ich zog das Schwert aus der Scheide.

»Vielleicht willst du sie ja jetzt beantworten.«

»Ich weiß nur wenig über die Dinge, die zwischen Cos und Brundisium vorgehen«, sagte er. »Es hat etwas mit Ar zu tun. Es haben auch Geheimverhandlungen mit bestimmten Leuten in Ar stattgefunden, Leuten von verräterischer Gesinnung.«

»Leuten wie du?« fragte ich.

»Schon möglich«, sagte er ängstlich. »Aber was geht dich das an? Kommst du aus Ar?«

»Nein. Aber ich respektiere den Heimstein Ars genau wie den anderer Städte auch.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Deine Antwort ist nicht zufriedenstellend.« Meine Schwertspitze berührte seinen Hals.

»Du mußt die geheimen Botschaften haben«, sagte er. »Sonst hättest du die Codeschlüssel nicht so hartnäckig gesucht. Lies sie dir durch. Die Antworten, die du suchst, müssen dort stehen.«

»In Port Kar ist ein Anschlag auf mich erfolgt«, sagte ich. »Warst du dafür verantwortlich?«

»Nein«, sagte er. »Wir haben nur Belnars Befehle befolgt.«

»Welches Interesse könnte Belnar gehabt haben, mich zu töten?«

»Keines«, sagte er und zuckte zusammen, als der Stahl wieder seine Haut berührte. »Er hat sich des Willens einer anderen Person unterworfen, einer viel mächtigeren Person.«

»Und wer ist das?«

»Lurius«, sagte er. »Lurius aus Jad, der Ubar von Cos!«

»Lurius?«

»Ja!« rief er. »Töte mich nicht!«

Ich nahm das Schwert fort, und er zitterte in seinen Fesseln, Der abstoßende Lurius aus Jad, der Ubar von Cos, war mir die ganze Zeit über nicht einmal in den Sinn gekommen. Vor langer Zeit hatte ich eine Schatzflotte gekapert, die von Tyros nach Cos segelte und die für Lurius bestimmt war. Damals hatte ich die schöne junge Vivina gefangengenommen und als Zeichen meines Triumphes nackt an den Bug meines Flaggschiffes gekettet. Auch sie war nach Telnus, der Hauptstadt von Cos, unterwegs gewesen, wo sie Lurius’ Gefährtin werden sollte. In Port Kar hatte ich sie zur Sklavin gemacht. Jetzt hieß sie Vina und war die Lieblingssklavin von Kapitän Henrius.

»Warum hat Lurius erst jetzt etwas in dieser Angelegenheit unternommen?« wollte ich wissen.

»Das weiß ich nicht«, sagte Flaminius ängstlich.

Es mußte etwas mit den politischen Abenteuern zu tun haben, in die sich die Städte gestürzt hatten, da war ich mir sicher. Und ich war auch davon überzeugt, daß es dabei nicht allein um mich ging, sondern auch um Port Kar. Lurius hatte offensichtlich ein langes Gedächtnis.

»Ich bin nackt und gefesselt«, sagte Flaminius. »Du kannst mich nicht kaltblütig umbringen.«

»Doch, ich kann!«

Er starrte mich entsetzt an.

»Falls du dich an dem Wort Umbringen störst«, sagte ich, »sieh es doch einfach als Hinrichtung an.«

»Mit welcher Begründung?« rief er.

»Verrat an Ar!«

»Ich bin in deiner Hand«, sagte er. »Verschone

mich!«

Ich wog nachdenklich das Schwert in der Hand,

dann warf ich der nackt am Boden liegenden Yanina

einen Blick zu. Was sollte ich tun?

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