»Halt!« rief der eine der beiden Wächter, die auf einer der langen, geländerlosen und schmalen Brücken standen, die die Türme Brundisiums miteinander verbanden. Solche anmutigen gewölbten Brücken sind ein charakteristischer Bestandteil vieler goreanischer Städte. Sie sind leicht zu verteidigen und dienen dazu, verschiedene Türme in unterschiedlicher Höhe miteinander zu verbinden, Türme, die in Zeiten der Belagerung als Festungen dienen, sollten die Verteidiger sich entscheiden, die Brücken zu blockieren oder zu zerstören. Jeder Turm war ein fast uneinnehmbares, gut ausgerüstetes Bollwerk. In Brundisium gab es elf solcher Türme.
In vielen der großen Städte gibt es noch mehr davon, in Ar beispielsweise sogar Hunderte. Von ihrer militärischen Bedeutung abgesehen sind solche Brücken natürlich auch wunderschöne Bauwerke; in praktischer Hinsicht dienen sie dazu, die Städte in eine Vielzahl von Ebenen aufzuteilen. Goreanische Städtearchitektur weist seltener die Form niedriger, sich ausbreitender konzentrischer Ringe auf; viele Städte bestehen aus Türmen und mehrschichtigen Ebenen, die durch emporstrebende, miteinander verbundene Brücken und Laufgänge verbunden werden. Das Sicherheitsdenken der Brundisianer zeigt sich auch in dem Tarndraht, der oftmals zwischen den Türmen gespannt ist und sich an manchen Stellen bis zu niedrigeren Dächern und sogar bis zu den Häuserwänden erstreckt. Solcher Draht kann sehr gefährlich sein, er kann einem landenden Tarn den Kopf oder die Schwingen abschneiden. Normalerweise wird er nur in Zeiten einer klaren Bedrohung gespannt, wenn die Stadt zum Beispiel einen Angriff erwartet oder belagert wird. Wenn alles gut ging, hoffte ich, ihn in meine Pläne mit einzubeziehen zu können.
»Aus dem Weg, Männer!« rief ich.
»Du kannst nicht passieren«, sagte der Wächter. »Das ist die Brücke zu Belnars privater Residenz.«
»Wir suchen nach Bosk aus Port Kar«, informierte ich ihn.
»Ich habe ihn nicht gesehen.«
»Sei dir da nicht zu sicher.«
»Du kannst nicht passieren«, sagte er.
»Dir ist doch wohl die Dringlichkeit der Suche klar?« fragte ich.
»Natürlich.«
»Dann tritt beiseite.«
»Das darf ich nicht«, protestierte er.
»Du hast doch bestimmt von der geheimnisvollen Flucht des Kerls aus dem Palast unten gehört?« fragte ich.
»Ja.«
»Wer kann schon wissen, wo er steckt?«
»Er hat recht«, sagte der andere Wächter.
»Aber diese Brücke führt zu Belnars Residenz«, sagte sein Kamerad.
»Und ist das nicht der letzte Ort, an dem man Bosk vermuten würde?«
»Vielleicht«, sagte der Wächter.
»Welch besseren Ort gibt es dann für einen so hinterhältigen Schurken als Versteck?« fragte ich.
»Vielleicht hat er recht«, sagte der zweite Wächter.
Der erste Wächter wurde bleich.
»Dort will ich suchen«, sagte ich.
»Du darfst passieren«, sagte er. Ich schritt energisch an ihm vorbei, gefolgt von den fünf Fußsoldaten, denen ich befohlen hatte, mich zu begleiten. Ich hatte sie innerhalb der Palastmauern in der Nähe des Osttores gefunden, wo sie auf Befehle warteten. Wie ich von dort oben gesehen hatte, brannte es in den von meinem Standpunkt aus rechts befindlichen Stadtteilen. Ich wußte nicht, ob die Brände in der Verwirrung nach dem Schlagen der Alarmstäbe entstanden waren oder ob die fliehenden Gefangenen sie als Ablenkungsmanöver gelegt hatten, um ihre Flucht zu decken oder Männer von der Verfolgung abzuhalten.
»Wartet hier«, befahl ich meinen Männern vor dem Eingang zu den Balkongärten, die sich vor Belnars Gemächern erstreckten. Dann begab ich mich zu den Gitterstäben des Gartentores. »Ich bringe wichtige Nachrichten für den Ubar«, sagte ich.
»Er darf nicht gestört werden«, erwiderte der Wächter. »Er hat sich zurückgezogen.«
»Ich weiß, wo sich Bosk aus Port Kar aufhält!«
»Komm rein. Schnell!«
Er führte mich durch den Garten, dessen Büsche schwarz in den Schatten und silbern im Mondlicht wirkten. Mir kam der Gedanke, daß es in einem solchen Garten viele Verstecke gab. Vielleicht war es sogar möglich, ihn zu erreichen, indem man an den steinernen Verzierungen der Turmwand hinaufkletterte. Ich selbst wäre dieses Wagnis nur ungern eingegangen. Mir reichten die Brücken; ich hatte auch einen einfacheren Ausgang im Sinn. Außerdem gab es hier vermutlich ständige Patrouillen. »Neuigkeiten über Bosk aus Port Kar«, sagte der Torwächter zu den Soldaten am Eingang.
Ich wartete, während zwei Männer sich mit Wachen im Inneren des Gebäudes besprachen. Die schwingenden Tarndrähte über unseren Köpfen funkelten im Mondlicht. »Du darfst auf deinen Posten zurück«, sagte ich zu meinem Führer. Er gehorchte. Dann gab ich meinen Männern, die ein paar Meter hinter dem Tor warteten, ein Zeichen. Sie betraten den Garten. »Durchsucht den Garten«, befahl ich. Es konnte nicht schaden, sie beschäftigt zu halten. Außerdem wirkte ich dadurch vielleicht wie ein tüchtiger Offizier. Davon abgesehen erwarteten die Männer vermutlich einen solchen Befehl. Soweit sie wußten, sollten sie nach Bosk aus Port Kar suchen, einem Mann im gelbweißen Gewand eines Kaufmanns. Der Torwächter konnte von mir aus glauben, was er wollte, zum Beispiel daß die Soldaten den Auftrag hatten, nach entflohenen Gefangenen zu suchen. Vielleicht hatten sich welche von ihnen ja hier oben versteckt, obwohl es zugegebenermaßen nicht sehr wahrscheinlich war.
»Tritt ein«, sagte ein Offizier.
Ich betrat das Gebäude. »Ich habe Nachricht für Belnar. Sie betrifft Bosk aus Port Kar.«
»Belnar ist nicht hier«, sagte der Offizier.
»Das ist unmöglich«, erwiderte ich. »Er muß hier sein. Vielleicht hat er sich zurückgezogen.«
»Alle sollen glauben, daß er hier ist, daß er sich zurückgezogen hat«, sagte der Offizier. »Aber er ist nicht hier. Er ist wieder gegangen. Wenn du gehst, dann gib vor, ihn gesehen zu haben. Alle sollen glauben, daß er in seinen Gemächern ist.«
»Er kann nicht gegangen sein«, widersprach ich. »Dann wäre er mir doch auf der Brücke begegnet.«
»Sei doch nicht so einfältig.«
»Ich verstehe.« Ich hatte Belnar eindeutig unterschätzt. Wie naiv war die Annahme gewesen, ich konnte ihn so einfach aufspüren. Vermutlich dachten sogar die Soldaten draußen, daß er sich in seinen Gemächern befinde. Wie sollte ich ihn fassen, wenn nicht einmal die Mehrzahl seiner Leute wußte, wo er steckte? Er konnte überall in der Stadt sein. Ich war wütend. Aber anscheinend war er kurz in seinen Gemächern gewesen. Ich konnte mir den Grund denken. Er hatte sich vergewissern wollen, daß etwas von großer Wichtigkeit sicher aufbewahrt wurde. Zweifellos hatte er es mitgenommen. Er war mir unterwegs nicht begegnet, also mußte es noch einen anderen Ausgang geben.
»Wo ist Belnar?« fragte ich.
»Das weiß ich nicht«, sagte der Offizier.
Vermutlich sagte er die Wahrheit. Zweifellos kannten nur wenige den Aufenthaltsort des Ubars.
»Was ist mit meinem Bericht?«
»Überbring ihn doch Flaminius, dem Vertrauten des Ubars«, schlug er vor.
»Natürlich«, sagte ich und wollte mich umdrehen. Ich war wütend. Das ist genau das, was ich brauche, dachte ich. Flaminius Bericht erstatten. Plötzlich ertönten im Garten Schreie. Einer der Türwächter kam zusammen mit zweien meiner Männer herein.
»Was ist los?« fragte der Offizier.
Die Männer zitterten am ganzen Leib. Andere drängten sich hinter ihnen hinein. Einer von ihnen wandte sich ab und erbrach sich ins Gras. »Lysimachus ist tot«, sagte der Türwächter.
Der Offizier, der hier in der Residenz den Oberbefehl zu haben schien, folgte den Männern durch den Garten; ich schloß mich ihm an. Augenblicke später kamen wir zu einer Lichtung. »Ich habe ihn dort gefunden«, sagte einer der Soldaten, die mit mir gekommen waren, und zeigte auf einen Busch. »Dort habe ich ihn herausgezogen.«
»Es ist Lysimachus«, bestätigte ein Soldat.
»Das war Lysimachus«, sagte ein anderer Soldat.
»Zumindest ein Teil von ihm«, sagte ein dritter Soldat.
Lysimachus’ Kehle fehlte fast vollständig.
Ich kniete neben der Leiche nieder. Ich berührte die dunklen nassen Stellen. »Das ist vielleicht vor einer Ahn geschehen«, meinte ich.
»Wer könnte das getan haben?« flüsterte der Offizier.
»Kannst du dir das nicht vorstellen?« fragte ich.
»Ich wage es nicht«, flüsterte er.
»Solch eine Bestie schleicht in der Stadt herum?« fragte ein Mann.
»Offensichtlich.«
»Warum sollte sie hierherkommen?«
»Weil sie genau wie jeder Mann mehr als eine Bestie ist«, sagte ich.
»Ich verstehe nicht«, meinte der Soldat.
»Sie ist auf der Suche«, sagte ich und starrte düster auf die Leiche.
»Armer Lysimachus«, sagte ein Soldat.
»Schrecklich«, meinte ein anderer.
Der Mord war ziemlich sauber ausgeführt worden, verglichen mit der Art, wie solche Angriffe sonst abliefen. Doch das hätten die Männer nicht verstanden. Zog man in Betracht, welches Wesen die Tat vollbracht hatte, mochte man bei Art der Ausführung fast an so etwas wie Kunstfertigkeit denken. Der Mörder hatte nur einen Mann zum Schweigen bringen wollen. Tatsächlich war bloß der Teil eines Arms abgenagt worden, und das vermutlich auch nur deshalb, um für die nötige Kraft zu sorgen, ein weniger materielles Ziel zu verfolgen. Bei der Größe, den Bedürfnissen und der Wildheit des Wesens deutete die ganze Ausführung auf eine beinahe furchteinflößende Geduld und Zurückhaltung hin. Das Ding war nicht hinter Lysimachus hergewesen. Es hatte etwas anderes gewollt. Ich spürte eine unglaubliche Bedrohung und Zielstrebigkeit. Mir lief ein Schauder über den Rücken.
Der Offizier stand auf. »Der das hier angerichtet hat, könnte noch in der Nähe sein«, sagte er. »Durchsucht den Garten. Durchsucht das Haus. Findet ihn! Tötet ihn!«
Männer eilten voller Angst los. Fackeln wurden entzündet. Ich erhob mich ebenfalls, beeilte mich aber nicht, mich den Suchenden anzuschließen. Sie würden den Mörder nicht finden. Er war nicht mehr hier.
»Sollen wir bei der Suche helfen, Herr?« fragte einer der Männer, die mich begleitet hatten.
»Ja«, sagte ich müde.
Kurze Zeit später betrat auch ich das Haus und ging durch die Gemächer. In einem abgelegen Raum blockierte ein Eisengitter mit dicken Stäben den Weg. Es war anscheinend schon vor einiger Zeit von der Decke herabgesenkt worden; es diente eindeutig dazu, den Raum in zwei Hälften zu teilen. Ich lächelte. Es wäre durchaus möglich gewesen, daß sich die Stahlwand zwischen Belnar und mir herabgesenkt hatte. Das Gitter hätte ihn vor allem schützen können. Vor fast allem. Im Licht einer Fackel sah ich eine Kiste – die nach dem am Boden liegenden Vorhängeschloß zu urteilen – hastig geöffnet worden war. Der Gegenstand meiner Suche hatte vermutlich schon nicht mehr in der Kiste gelegen, als ich begonnen hatte, die hohen Brücken zu erklimmen. Belnar hatte sich mit ihm aus dem Staub gemacht. Wie sich herausgestellt hatte, war das eine glückliche Fügung für ihn gewesen. So war er nicht anwesend gewesen, um seinen dunklen Gast begrüßen zu können. Das hatte ihm zweifellos das Leben gerettet. Er war in Sicherheit.
»Was ist das?« fragte ich den Offizier und deutete auf eine dunkle Öffnung in der Wand.
»Das ist nichts«, sagte er ausweichend.
Es handelte sich natürlich um die geöffnete Geheimtür, durch die Belnar verschwunden war, einen Gang, der in die Tiefe führte.
»Heb die Fackel ein wenig höher«, bat ich einen Mann, der in der Nähe stand. Dann sah ich mich genau in dem Raum auf der anderen Seite des Gitters um.
»Die Suche ist abgeschlossen«, sagte ein Soldat, der gekommen war, um dem Offizier Bericht zu erstatten. »Wir haben das Gebäude gründlich durchsucht, sowohl innen als auch von außen. Kein Zeichen von der Bestie.«
»Zumindest einen Hinweis gibt es«, sagte ich.
»Was?« fragte der Offizier.
»Sieh!« sagte ich und zeigte auf eines der Fenster im abgesperrten hinteren Teil des Raums, dessen Schutzgitter offen stand.
»Es steht offen, und?« fragte der Offizier verblüfft.
»Sieh dir die Scharniere an, wenn du sie aus dieser Entfernung und in diesem Licht erkennen kannst.«
»Sie scheinen aufgebrochen zu sein«, sagte er.
»Sie sind aufgebrochen.«
»Also hat man das Schutzgitter aufgebrochen.«
»Von außen«, sagte ich.
»Unmöglich!«
»Sieht es denn nicht genau so aus?«
»Doch«, flüsterte er.
»Sucht Belnar«, sagte ich. »Er schwebt in tödlicher Gefahr.«
Soldaten setzten sich eilig in Bewegung, darunter auch die Männer, die ich mitgebracht hatte. Wieder war ich allein. Ich blieb noch eine Zeitlang vor dem Gitter stehen und schnupperte angestrengt. Schließlich entdeckte ich einen kaum wahrnehmbaren Geruch. Er war mir nicht unbekannt. Ich hatte ihn schon öfter gerochen und kannte ihn gut. Er erfüllte mich mit Verbitterung. Ich war nicht der erste, der Belnars Gemächer betreten hatte.
Mir wäre es schwergefallen, den Ubar in Brundisium aufzuspüren, aber ich konnte ihm auch nicht lautlos und schnell mit der Hartnäckigkeit eines Sleen und der Bösartigkeit eines Larl durch zahllose Gänge folgen.
Ich rüttelte wütend an den Gitterstäben. Ich hatte keine Vorstellung davon, wohin Belnar gegangen sein mochte. Dann wurde mir plötzlich ganz kalt.
Ich drehte mich um und lief aus dem Raum.