Ich blickte gelangweilt vom Spielbrett auf, als zwei Wächter die sich wehrende Frau in der Nähe unseres Tisches zu Boden stießen.
»Du bist am Zug«, sagte Samos.
Ich studierte das Brett, dann schob ich meinen Ubars-Tarnkämpfer auf Ubars-Tarnkämpfer fünf und brachte ihn mit diesem Zug in Angriffsstellung. Der Tarnkämpfer darf bei einem Positionszug nur ein Feld weiterbewegt werden. Ein Angriff ist nur mit einem Flugzug möglich.
Die Frau wehrte sich mit allen Kräften gegen den Griff der Wachen. Natürlich vergeblich.
Samos betrachtete das Spielbrett. Er plazierte seinen Heimstein. Dem winzigen Zähler am Brettrand zufolge war es sein zehnter Zug. Nur wenige Kaissa-Bretter verfügen über einen derartigen Zähler. Er besteht aus zehn kleinen Holzperlen, die auf einem Draht aufgefädelt sind. Der Heimstein muß beim zehnten Zug gesetzt worden sein. Samos hatte ihn auf das Feld Ubars-Wissender eins gestellt. Auf dieser Position kann der Heimstein nur mit drei Reihen angegriffen werden. Bei den anderen regelkonformen Plazierungen muß er sich fünf Angriffsreihen stellen. Samos setzte den Heimstein gern spät, gewöhnlich beim neunten oder zehnten Zug. So konnte er die bis dahin erfolgten Züge seines Gegners in Betracht ziehen.
Ich hatte meinen Heimstein wie gewöhnlich bereits plaziert, denn ich zog die zentralere Position vor. Ich wollte nicht gezwungen werden, in einer Situation, die sich unter Umständen zu meinem Nachteil entwickeln konnte, einen Zug für die Heimstein-Plazierung opfern zu müssen. Natürlich macht die zentrale Position den Heimstein verwundbarer, aber sie verleiht ihm auch größere Beweglichkeit und somit die Möglichkeit, Angriffen auszuweichen. Allerdings sind diese Überlegungen in der Theorie des Kaissa umstritten. Es hängt immer viel vom einzelnen Spieler ab.
Es gibt auf Gor viele verschiedene Versionen des Kaissa-Spiels. Manchmal haben die Spielsteine andere Namen, oder, was viel schlimmer ist, sie verkörpern andere Eigenschaften und Spielstärken. Die Kaste der Spieler versucht schon seit Jahren, das Kaissa zu standardisieren.
Vor ein paar Jahren wurde in dieser Angelegenheit ein wichtiger Sieg errungen, als die Kaste der Kaufleute, die für die Organisation und Ausrichtung des Jahrmarkts von Sardar verantwortlich ist, einer standardisierten Version zustimmte, die der Hohe Rat der Kaste der Spieler für die Sardar-Turniere – eine der Attraktion des Jahrmarkts – vorschlug. Diese Version, die nun bei den Turnieren gespielt wird, bezeichnet man landläufig ebenso wie die anderen Versionen als Kaissa. Manchmal nennt man sie jedoch zur Unterscheidung gegenüber abweichenden Versionen Kaufmanns-Kaissa, wegen der Bemühungen der Kaufmannskaste, diese Version zum offiziellen Kaissa aller Jahrmärkte zu machen. Man nennt sie allerdings auch Spieler-Kaissa, wegen der Rolle der Spieler bei der Kodifizierung, oder auch En’Kara-Kaissa, da es auf einem Jahrmarkt von En’Kara zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Dies geschah 10124 C.A., Contasta Ar, also nach der Gründung von Ar, oder im Jahr 5 der Herrschaft des Kapitänrates von Port Kar.
Der Jahrmarkt von En’Kara findet im Frühling statt. Im Reigen der Jahreszeiten ist er der erste der Jahrmärkte von Sardar, riesiger Veranstaltungen, die auf den Ebenen am westlichen Fuß des Sardargebirges abgehalten werden. Diese Jahrmärkte spielen eine wichtige Rolle in der goreanischen Kultur und Wirtschaft. Es sind bedeutende Umschlagplätze für Ideen und Waren, zu denen auch Sklavinnen zählen.
Die Frau unterdrückte einen Aufschrei und stampfte mit dem Fuß auf.
Samos schaute auf, nachdem er den Heimstein plaziert hatte.
Wir schrieben das Jahr 10129 C.A., und es fehlten noch zwei Tage bis zur zwölften Passage-Hand. Bald würden wir das Jahr 11 in der Herrschaft des Kapitänrates von Port Kar schreiben. Es schien erst gestern gewesen zu sein, daß die fünf Ubars gestürzt worden waren, die Port Kar untereinander aufgeteilt hatten. Der untersetzte und glänzende Chung und der hochgewachsene langhaarige Nigel, der soviel Ähnlichkeit mit einem Kriegsherren aus Torvaldsland hatte, hatten an unserer Seite gegen die Flotten von Cos und Tyros gekämpft und ihren Anteil an dem Sieg gehabt, der am fünfundzwanzigsten Se’Kara im Jahr 1 der Herrschaft des Kapitänrates von Port Kar errungen worden war; beide Männer waren als Kapitäne in Port Kar geblieben und dienten als Admiräle unserer Flotte. Sullius Maximus lebte zur Zeit als verachteter und untergeordneter Höfling am Hofe Chenbars aus Kasra, dem Ubar von Tyros, dem See-Sleen. Der freigelassene Henrius Sevarius, mittlerweile ein junger Mann, war Eigner eines eigenen Schiffes in Port Kar. Er besaß die sinnliche junge Sklavin Vina, die er ausgezeichnet im Griff hatte. Die Vergnügungssklavin war einst Chenbars Mündel gewesen und sollte die Freie Gefährtin des abstoßenden Lurius aus Jad, des Ubars von Cos, und damit zur Ubara von Cos werden. Diese Verbindung hätte die Beziehungen zwischen den beiden mächtigen Insel-Ubaraten noch enger gemacht. Vina war auf See gefangengenommen und zur Sklavin gemacht worden. Nachdem sie den Sklavenkragen und das Brandzeichen erhalten hatte, waren ihre politischen Interessen verschwunden. Sie hatte ein neues Leben begonnen, das einer einfachen Sklavin. Wo sich Eteocles, der fünfte Ubar, zur Zeit aufhielt, wußte ich nicht.
Wir saßen im großen Saal von Samos’ Haus in Port Kar. Der Raum wurde von Fackeln erhellt. Viele seiner Gefolgsleute waren anwesend; wie wir saßen sie mit untergeschlagenen Beinen an niedrigen Tischen. Sklaven trugen Getränke und Essen auf. Wir saßen ein Stück abseits von ihnen. Ein paar Musikanten waren ebenfalls anwesend, doch im Augenblick ruhten ihre Instrumente.
Irgendwo im Saal lachte ein Sklavenmädchen.
Draußen auf dem Kanal ertönten eine Trommel, Zymbeln und Trompeten. Ein Mann beschrieb lautstark die vorzüglichen Leistungen einer Theatertruppe, den Witz ihrer Spaßmacher und die Schönheit der Schauspielerinnen, die vermutlich Sklavinnen waren. Angeblich hatten sie in großen Städten und vor Ubars gespielt. Solche umherziehenden Schauspielertruppen und Karnevalsgaukler sind auf Gor nichts Ungewöhnliches. Normalerweise setzen sie sich aus Schurken und Ausgestoßenen zusammen. Sie reisen mit ihren Wagen und Zelten von Ort zu Ort, Gläubigern und Magistraten meist nur einen kleinen Schritt voraus, und bauen auf öffentlichen Plätzen, Hinterhöfen, Märkten und sogar an den Kreuzungen staubiger Landstraßen ihre einfachen Bühnen auf, eben überall da, wo sie sich ein Publikum versprechen. Mit ein paar Brettern, Masken und einer gewissen Dreistigkeit erwecken sie die Magie des Theaters zum Leben. Sie sind bizarre, einzigartige Vagabunden. Die Würde des Scheiterhaufens und andere Formen des ehrenvollen Begräbnisses bleiben ihnen verwehrt.
Die Truppe, die dort draußen zweifellos auf einer gemieteten Barke fuhr, war nicht die erste, die an diesem Abend unter den schmalen Fenstern von Samos’ Haus vorbeikam. Es hielten sich viele derartige Gruppen in der Stadt auf. Überall stieß man auf ihre handgedruckten Flugblätter und Plakate, die man auf Häuserwänden und Nachrichtentafeln fand. Das lag am Herannahen der zwölften Passage-Hand, die der Wartenden Hand vorangeht.
Die Wartende Hand, eine Periode von fünf Tagen, die mit der Frühlings-Tag-und-Nachtgleiche endet also dem ersten Tag des Frühlings, ist für die meisten Goreaner eine ernstzunehmende Zeit. Während dieser Tage wird kaum ein Wagnis eingegangen, man schließt nur wenige oder gar keine Geschäfte ab. Die meisten Goreaner bleiben in ihren Häusern. Türen werden mit Teer versiegelt, man nagelt Zweige des Brak-Busches an ihnen fest, dessen Blätter eine reinigende Wirkung haben. Diese Vorkehrungen, von denen es noch andere gibt, sollen verhindern, daß das Unglück in die Häuser Einzug hält.
Es wird nur wenig gesprochen und nicht gesungen. Es ist im allgemeinen die Zeit der Trauer, der Meditation und des Fastens. Das ändert sich natürlich alles mit der Ankunft der Frühlings-Tag-und-Nachtgleiche, die in den meisten goreanischen Städten das Kommen des neuen Jahres symbolisiert.
Im Morgengrauen des ersten Frühlingstages wird die Ankunft der Sonne mit einer Begrüßungszeremonie gefeiert, die gewöhnlich der Ubar oder der Administrator der Stadt durchführt. Damit heißt die Stadt das neue Jahr willkommen. In Port Kar fällt diese Ehre Samos, dem ersten Kapitän des Kapitänrates, und den Vollzugsbeamten des Rates zu. Das Ende der Begrüßungszeremonie wird mit dem Schlagen der in der ganzen Stadt aufgehängten Signalstangen gefeiert. Dann strömen die Leute fröhlich aus ihren Häusern, die Brak-Büsche werden auf der Türschwelle verbrannt, und der Teer wird abgewaschen. Man veranstaltet Prozessionen und verschiedene Veranstaltungen wie Wettkämpfe und Spiele. Dieser Tag ist ein Feiertag.
Die Festlichkeiten stehen natürlich in krassem Gegensatz zu dem Ernst und den Entbehrungen der Wartenden Hand. Diese Tage des Fastens, Schweigens und der allgemeinen Trübsal sind für viele Goreaner – vor allem die Angehörigen der niederen Kasten – eine Zeit der Sorge und der Angst. Wer kann schon wissen, welche sichtbaren oder unsichtbaren Dinge in dieser schrecklichen Zeit umhergehen? Und so ist es nur folgerichtig, daß in vielen goreanischen Städten die Zwölfte Passage-Hand, die fünf Tage, die der Wartenden Hand vorangehen und die alle Goreaner mit Freude erwarten, die Zeit des Karnevals ist. Es waren nur noch zwei Tage bis zum Beginn des Karnevals, was die ungewöhnlich hohe Anzahl von Theater- und Gauklertruppen in der Stadt erklärte.
Schauspieler und Artisten müssen eine Bittschrift einreichen, wenn sie das Recht erhalten wollen, innerhalb der Stadtmauern aufzutreten. Normalerweise müssen sie eine Kostprobe ihrer Kunst oder eine Szene eines Theaterstückes darbieten, und zwar vor dem Hohen Rat oder einem Komitee, das vom Rat für diesen Zweck eingesetzt wird. Manchmal wird von den Schauspielerinnen eine Privatvorstellung erwartet, bei der ihre Künste von auserwählten Beamten ›geprüft‹ werden. Findet die Truppe Zustimmung, erhält sie für eine Gebühr die Auftrittserlaubnis.
Ohne dieses Dokument darf keine Gruppe innerhalb der Stadtmauern auftreten. Für gewöhnlich gilt die Erlaubnis für die fünf Tage einer goreanischen Woche, manchmal aber auch nur für einen bestimmten Abend oder eine Vorstellung. Innerhalb einer Spielzeit kann sie für eine sehr geringe Gebühr erneuert werden. Im Zusammenhang mit dieser Gebühr kommt es oft vor, daß Bestechungsgelder gezahlt werden. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die Erlaubnis von kleinen Komitees oder Einzelpersonen wie dem Herren der Vergnügungen erteilt wird, den man auch Herrn der Lustbarkeiten nennt. Die Bestechungen finden nicht einmal im verborgenen statt. Es gibt sogar allgemein anerkannte Bestechungstarife, die sich nach der Art des Ensembles, seinen mutmaßlichen Vermögensverhältnissen, der Anzahl der für die Erlaubnis benötigten Tage und dergleichen mehr richten. Diese Dinge geschehen in aller Öffentlichkeit und sind allgemein bekannt; vielleicht sollte man sie nicht einmal als Bestechungsgelder bezeichnen, sondern als Dankesbezeugungen oder Verwaltungsgebühren. Mehr als nur ein Herr der Lustbarkeiten betrachtet sie als die ihm zustehenden Nebeneinkünfte seines Amtes.
Die Frau wehrte sich noch immer gegen den Griff der Wächter. Sie stampfte noch einmal mit dem Fuß auf. »Befiehl diesen Bauern trampeln, mich loszulassen!« verlangte sie.
Jetzt sah auch ich auf.
Die Augen oberhalb des Schleiers funkelten Samos wütend an. Dann richtete sich der Blick auch auf mich. »Sofort!«
Samos nickte den Wächtern mit einer kaum merklichen Kopfbewegung zu.
»So ist es schon besser!« sagte die Frau und riß sich mit einer wütenden Bewegung von den Männern los, so als hätte sie sich aus eigener Kraft befreien können, wenn ihr der Sinn danach gestanden hätte. Sie glättete ärgerlich die umhangähnlichen langen Seidenärmel. Ich erhaschte einen Blick auf anmutig geformte Unterarme und ein schmales Handgelenk. Sie trug weiße Handschuhe.
»Das ist eine Unverschämtheit!« rief sie. Ihre Füße steckten in winzigen goldenen Pantoffeln. Das seidig fließende Gewand der Verhüllung schimmerte im Licht der Fackeln. Sie ordnete das Kleidungsstück mit einer fast unbewußten, von natürlicher Eitelkeit verursachten Bewegung.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte sie. »Ich verlange auf der Stelle, freigelassen zu werden!«
Eines der Sklavenmädchen, das ein paar Schritte rechts von uns an einem Tisch kniete, nackt bis auf den Sklavenkragen, lachte laut. Dann erbleichte sie. Sie hatte eine freie Frau ausgelacht. Samos deutete auf einen Wächter und zeigte auf die unverschämte Sklavin. »Fünfzehn Schläge«, sagte er. Das Mädchen schüttelte entsetzt den Kopf. Der Wächter nahm sie und führte sie in den Hintergrund des Saales, wo er seinem Befehl nachkam.
Wir wandten unsere Aufmerksamkeit wieder der Frau in dem Gewand der Verhüllung zu, die vor unserem Tisch stand. Die Augen über dem Schleierrand zeigten einen besorgten Ausdruck. Die Bestrafung der Sklavin berührte sie. Ihr Atem ging heftiger, und ihre Brüste unter der Seide hoben und senkten sich auf durchaus hübsch anzuschauende Weise.
»Darf ich dir Lady Rowena aus Lydius vorstellen?« fragte Samos.
Ich neigte den Kopf.
»Lady.« Einer freien Frau bringt man beträchtliche Ehrerbietung entgegen, vor allem dann, wenn es sich um eine Frau wie Lady Rowena handelte, die offensichtlich von hohem Rang war.
Sie erwiderte den Gruß mit einem Nicken.
Lydius ist ein dichtbevölkertes, geschäftiges Handelszentrum an der Mündung des Laurius. Viele Städte unterhalten in Lydius Lagerhäuser und kleine Niederlassungen. Auf dem nach Westen fließenden Laurius werden viele Güter verschifft, darunter in der Hauptsache Holz, Holzprodukte und Häute, die dann in Lydius auf die Schiffe aller möglichen Städte und Handelsgesellschaften weiterverladen und in den Süden gebracht werden. Wie nicht anders zu erwarten, setzt sich die Einwohnerschaft von Lydius aus den unterschiedlichsten Rassen zusammen.
Lady Rowena richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Sie sah Samos wütend an. »Wieso wurde ich an diesen Ort gebracht?«
»Lady Rowena gehört zu den Kaufleuten«, erklärte Samos. »Das Schiff, auf dem sie eine Passage gebucht hatte, segelte von Lydius nach Cos, als es von zwei meiner Kaperschiffe aufgebracht wurde. Sein Kapitän erklärte sich freundlicherweise zu einem Umstauen der Ladung bereit.«
»Wieso hat man mich an diesen Ort gebracht?« wiederholte die Frau wütend.
»Du weißt sicherlich, welche Jahreszeit wir haben?« fragte Samos.
»Ich verstehe nicht«, sagte sie. »Wo sind meine Zofen?«
»In den Sklavengehegen«, sagte Samos.
»Den Sklavengehegen?« keuchte Rowena.
»Ja«, sagte Samos. »Aber du brauchst keine Angst um sie zu haben. Sie erfreuen sich bester Gesundheit – in ihren Ketten.«
Auf Gor sind die Sklavenhändler immerzu tätig, aber die Höhepunkte des Jahres sind Frühling und Frühsommer. Das hat mit solchen Dingen wie dem Wetter zu tun, außerdem sind die wichtigsten Märkte mit bestimmten Festen und Feiertagen verbunden wie zum Beispiel dem Liebesfest in Ar, das im Spätsommer stattfindet und alle fünf Tage der Fünften Passage-Hand in Beschlag nimmt. Natürlich finden in diesen Jahreszeiten auch die großen Sklaven-Auktionen auf den Jahrmärkten von En’Kara und En’Var statt. Das sind die beiden größten Sklavenmärkte Gors, die alle anderen weit übertreffen, was das Angebot der zu verkaufenden Frauen angeht.
»Ketten?« flüsterte Rowena. Sie wich zurück, eine Hand auf der Brust.
»Ja«, sagte Samos,
»Man hat mir eine Haube über den Kopf gezogen. Ich weiß nicht einmal, wo ich mich befinde.«
»Du bist in Port Kar.«
Rowena taumelte. Schon befürchtete ich, sie werde in Ohnmacht fallen.
»Wer bist du?« flüsterte sie.
»Samos. Der Erste Sklavenhändler von Port Kar.«
Sie schüttelte sich vor Entsetzen, ein leises Wimmern entschlüpfte ihren Lippen. Ich erkannte, daß ihr der Name Samos aus Port Kar nicht unbekannt war. »Welche Hoffnung habe ich?«
»Keine«, sagte Samos. »Nimm den Schleier ab.«
»Mach meine Zofen zu Sklavinnen«, sagte sie. »Sie sind sowieso zu nichts anderem zu gebrauchen. Aber ich bin eine freie Frau!«
»Glaubst du, du bist etwas Besseres als sie?« fragte Samos.
»Ja.«
»Du unterscheidest dich nicht von ihnen«, sagte er. »Auch du bist nur eine Frau.«
»Nein!« rief sie.
»Nimm den Schleier ab.«
»Ich bin zu schön, um eine Sklavin zu sein.«
»Den Schleier«, sagte Samos leise. Schließlich war sie trotz allem eine freie Frau.
Einige der Sklavinnen, die dürftig bekleidet oder ganz nackt waren, sahen sich an. Wären sie einem Befehl mit der gleichen Langsamkeit nachgekommen, statt sofort und bedingungslos zu gehorchen, hätten sie zweifellos eine ernste Bestrafung empfangen. Allerdings waren sie ja auch nur einfache Sklavinnen.
»Bitte, nein«, sagte Lady Rowena.
»Du bist meine Gefangene«, sagte Samos. »Zweifellos bist du dir darüber im klaren, daß es nur eines Wortes von mir bedarf, daß man dich splitternackt auszieht.«
Rowena griff zum Schleier, hakte ihn ganz langsam los und ließ ihn zur Seite fallen.
»Schlag die Kapuze zurück.«
Sie gehorchte, legte den Kopf in den Nacken, griff nach hinten und befreite lange blonde Zöpfe, die sie vorn über die Schultern legte; das Haar reichte ihr beinahe bis zu den Knien.
»Öffne das Haar.«
Sie entflechtete die Zöpfe, neigte den Kopf, schüttelte das Haar lose und strich es glatt. Dann hob sie den Kopf wieder.
»Leg das Haar auf den Rücken«, befahl Samos.
Rowena tat es und stand dann vor uns, jeder Zoll eine Frau.
»Wie sieht mein Schicksal aus?« fragte sie.
Samos und ich betrachteten sie voller Bewunderung. Einige der Männer taten es uns nach. Ein paar von ihnen kamen sogar näher heran, um besser sehen zu können. Mehr als nur ein Sklavenmädchen stieß leise Schreie der Bewunderung aus. Auch sie waren beeindruckt. Rowena richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Sie konnte nicht widerstehen, sich in unserer Bewunderung zu sonnen.
Ich sah zur Seite.
Ein blondes Sklavenmädchen in einer enthüllenden kurzen Tunika kroch auf den Knien näher an Samos heran. Es war Linda, ein Mädchen von der Erde und eine von Samos’ bevorzugten Sklavinnen. Sie sah die dort stehende Frau voller Furcht und Wut an. Dann streckte sie die Hand aus und legte sie an Samos’ Ärmel. Er zog den Arm weg und befreite sich von ihrer Berührung.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder Lady Rowena zu.
»Wie du siehst, bin ich zu schön für eine Sklavin«, sagte sie.
Ich hatte Tausende von Sklavenmädchen gesehen, die noch schöner als sie gewesen waren, aber es stimmte: sie war eine wirkliche Schönheit.
Samos schwieg.
»Wie sieht mein Schicksal aus?« fragte Rowena erneut.
»Du bist zu schön, um keine Sklavin zu sein«, sagte Samos.
»Nein!« schrie sie. »Nein!«
»Bringt sie nach unten und macht sie zur Sklavin«, befahl Samos einem der beiden Wächter, die die Frau flankierten. »Zeichnet sie am linken Oberschenkel, mit einem ganz normalen Kajira-Mal. Und gebt ihr einen ganz normalen Hauskragen, ich glaube, der wird fürs erste reichen.« Rowena starrte ihn entsetzt an. Dann ergriffen die beiden Männer sie bei den Armen. Damit war die Angelegenheit erledigt. Samos richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Spielbrett. »Du bist am Zug«, sagte er. Ich widmete mich ebenfalls wieder dem Spiel. Die Wächter brachten die sich sträubende Frau weg.
»Ich hatte meinen Heimstein gesetzt«, sagte Samos. »Es ist dein Zug.« Das war richtig. Es handelte sich um meinen elften Zug. Ich betrachtete das Brett und den Standort seines Heimsteins. Ein Angriff wäre verfrüht gewesen. Ich wollte meine Stellung vorerst weiter ausbauen und versuchen, die Mitte zu sichern. So konnte ich die Beweglichkeit und die anderen Möglichkeiten weiter ausbauen, die die Kontrolle dieser entscheidenden Routen gewöhnlich mit sich brachten. Wer die Straßen kontrolliert, kontrolliert auch die Städte, heißt es. Das entspricht natürlich nicht unbedingt der Wahrheit, nicht auf einer Welt, wo sich die meisten Waren auf dem Rücken eines Mannes transportieren lassen, einer Welt, wo es Tarns gibt.
Ich schob den Ubaras-Tharlarionreiter nach Ubaras-Schriftgelehrter drei. Dies verstärkte nicht nur mein Zentrum, sondern öffnete auch eine Linie und unterstützte den Ubars-Hausbauer. »Du bist am Zug«, sagte ich. Samos stützte das Kinn auf die Fäuste und studierte das Brett. Dann lehnte er sich zurück und sah in die Runde. Die Musikanten zupften an ihren Instrumenten. Zwei Männer steckten die Köpfe zusammen und tuschelten.
»Tula!« rief der eine. »Tula soll tanzen!«
Mehrere Männer stimmten begeistert zu. Samos nickte. Eine langbeinige Brünette wurde in die leere Saalmitte gestoßen. Sie hatte hohe Wangenknochen, war braungebrannt und trug einen goldenen Kragen. Ansonsten war sie nackt.
»Tula!« erscholl der Ruf, und sie hob langsam die Arme und wartete in aufregender Pose auf die ersten Takte der Musik. Sie würde den Männer zeigen, wie man richtig tanzte.
Die Musik setzte ein, und Tula tanzte. Ich sah, wie andere Mädchen näher an die Tische rückten, verstohlen auffälligere Haltungen einnahmen, vielleicht in der Hoffnung, auf diese Weise den Männern aufzufallen. Tula war Samos’ beste Tänzerin. Die Mädchen wetteiferten darum, den zweiten Platz hinter ihr einzunehmen. Meine beste Tänzerin war ein Mädchen namens Sandra.
»Du bist am Zug«, sagte ich zu Samos.
»Ich weiß.«
Er schob seinen Ubaras-Tharlarionreiter auf Ubaras-Hausbauer drei. Es schien ein schlechter Zug zu sein, denn er schuf eine Lücke in der Diagonale von Ubaras-Wissender. Mein Ubaras-Tharlarionreiter war ausreichend geschützt. Ich nahm Ubars-Schriftgelehrter-Speerträger und bewegte ihn drei Felder weiter, wie es ihm beim ersten Zug zustand. Beim nächsten Zug würde ich Ubars-Hausbauer auf Ubars-Schriftgelehrter eins stellen und so Druck auf die Linie von Samos’ Ubars-Schriftgelehrter ausüben. Samos schien anders als sonst zu spielen. So hatte er beispielsweise schon mit einer ziellosen Eröffnung begonnen. Er hatte wichtige Spielsteine zu früh vorrücken lassen und dann Zeit verloren, als er sie zurückziehen mußte. Es war, als hätte er einen bedeutsamen Zug machen wollen oder das Gefühl gehabt, es tun zu müssen, sich dann aber nicht dazu durchringen können.
Er nahm einen Speerträger und versetzte ihn ziellos.
»Das scheint ein schwacher Zug zu sein«, sagte ich.
Er zuckte mit den Schultern.
Ich stellte Ubars-Hausbauer auf Ubars-Schriftgelehrter eins. Samos’ Eröffnung hatte mich gezwungen, bei meiner Eröffnung bestimmte Spielsteine mehr als einmal zu bewegen.
Tula wiegte sich mittlerweile mit sinnlichen Bewegungen vor dem Tisch. Linda, die ein Stück hinter Samos kniete, sah sie wütend an. Sklavinnen wetteifern für gewöhnlich schamlos um die Gunst ihres Herrn. Tula war sehr schön mit ihren langen Beinen, den hohen Wangenknochen, dem ungebändigten schwarzen Haar und dem goldenen Kragen. Aber Samos würdigte sie kaum eines Blickes. Sie warf den Kopf in den Nacken und wirbelte herum. Sie würde die Nacht in den Armen eines anderen Mannes verbringen.
Samos tat den nächsten Zug; ich reagierte dementsprechend .
Er schien sich heute abend nicht richtig auf das Spiel konzentrieren zu können.
Ich fragte mich, ob etwas nicht in Ordnung war.
»Warum wolltest du mich sehen?« fragte ich. Es war ungewöhnlich für Samos, mich bloß wegen einer Partie Kaissa in sein Haus einzuladen.
Er antwortete nicht, sondern studierte weiterhin das Brett. Samos war ein guter Spieler, doch das Spiel bedeutete ihm nicht viel. Er hatte mir einmal erzählt, er ziehe ein anderes Kaissa vor; sein Spiel seien die Politik und der Einfluß auf andere.
»Ich glaube nicht, daß du nur Kaissa mit mir spielen wolltest«, sagte ich.
Er gab keine Erwiderung.
»Schütze deinen Ubar«, sagte ich.
Er zog den Spielstein zurück.
»Weißt du etwas Neues über die Kurii?« fragte ich.
»So gut wie nichts.«
Unsere letzte gut unterrichtete Informationsquelle in dieser Angelegenheit war eine blonde Sklavin namens Sheila gewesen. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie sie vor uns gekniet hatte, nur mit einem Sklavengeschirr bekleidet, das ihre Schönheit noch vergrößert hatte. Sie hatte gehorsam und willig gesprochen, uns jedoch alles in allem nur wenig helfen können. Die Kurii überließen ihren menschlichen Agenten nur wenige wichtige Informationen, vermutlich aus Sicherheitsgründen. Sheila war einst die Tatrix von Corcyrus gewesen. Jetzt gehörte sie Hassan von Kasra, der auch oft Hassan der Sklavenjäger genannt wird. Ich war einmal in Kasra gewesen. Es ist eine Hafenstadt am Lauf des unteren Fayeen, ein wichtiger Ort für den Salzhandel der Tahari.
Ich nickte. Aus Sheilas Aussage, die von anderen Quellen gestützt wurde, hatten wir geschlossen, daß sich die Kurii der langsamen Strategie schrittweiser Machtübernahme zuwandten, der Kontrolle einzelner Städte, der dann der Aufbau eines mächtigen Netzwerkes folgen würde. So wollten sie eine Welt für sich gewinnen, die zumindest theoretisch dem Gesetz der Priesterkönige unterlag. Damit eine derartige Strategie überhaupt zur Anwendung kommen konnte, mußten die Sardar sie zumindest dulden. Ich bekam eine Gänsehaut. Es wird nichts Gutes für die Menschen verheißen, dachte ich, sollten die Priesterkönige und die Kurii irgendeine Übereinkunft treffen oder Verbindung eingehen.
»Hast du nichts von den Sardar gehört?« fragte ich.
Samos sah vom Brett auf.
Draußen lärmte die nächste Gauklertruppe mit ihren Trommeln und Trompeten.
»Gegen Ende des Se’Var brachte Yngvar der Weitgereiste, ein Fallensteller aus Torvaldsland, an Bord der Vier Ketten Paga mit«, sagte Samos.
Ich nickte. Die Vier Ketten war mir bekannt. Sie gehörte Procopius dem Kleineren und hatte ihren Ankerplatz in der Nähe von Pier Sechzehn. Man darf Procopius den Kleineren nicht mit Procopius dem Großen verwechseln, einem wichtigen Kaufmann aus Port Kar, dem nicht nur Schenken gehören, sondern der auch mit Papier, Eisenwaren, Wolle und Salz handelt. Der Name Yngvar der Weitgereiste war mir erst seit kurzem bekannt, ich hatte ihm allerdings noch nie persönlich gegenübergestanden. Der Tag, von dem Samos gesprochen hatte, lag etwa zwei Monate in der Vergangenheit.
»Wenn Yngvar betrunken ist, erzählt er viele Geschichten. Eine davon verwirrt mich und macht mir angst. Er behauptet, etwa fünfzig Pasang nordöstlich von Scagnar hätten er und seine Mannschaft etwas in der Luft schweben sehen, eine Art mit einem Netz durchzogenes Glas, in dem sich das Licht brach. Dann erblickten sie in seiner Nähe ein scheibenähnliches silbriges Objekt. Die beiden Objekte schienen in die Tiefe zu schweben, als wollten sie ins Meer eintauchen. Kurze Zeit später verschwand das silberne Objekt wieder. Neugierig und ängstlich ruderten die Männer zu dem Ort, an dem die beiden Flugobjekte anscheinend niedergegangen waren. Aber dort war nichts, nicht einmal ein Riff. Sie wollten gerade umkehren, als einer der Männer etwas entdeckte. Keine zwanzig Meter vom Schiff entfernt trieb halb untergetaucht eine geflügelte große Kreatur. So etwas hatten die Männer noch nie gesehen. Die Kreatur war tot. Nach einiger Zeit ging sie unter und versank.«
»Ich kenne die Geschichte«, sagte ich. Tatsächlich hatte ich sie erst vor ein paar Tagen gehört. Sie schien in den Schenken zu kursieren. Yngvar hatte zusammen mit anderen Torvaldslandern neue Verträge unterzeichnet und war kurz darauf mit dem Schiff in Richtung Norden abgesegelt. Weder Samos noch ich hatten ihn befragen können.
»Der Zeitpunkt dieses Vorfalls ist unklar«, sagte ich.
Samos nickte. »Anscheinend ist es schon länger her.«
Vermutlich hatte sich dieser Zwischenfall nach meinem Aufenthalt in Torvaldsland zugetragen, sonst wäre er mir dort zu Ohren gekommen. Ungewöhnliche Geschichten verbreiten sich schnell in den Sälen, dafür sorgen schon die Händler und Sänger. Eine derartige Geschichte wäre sicherlich auf einem Thing-Jahrmarkt erzählt worden. Ich war im Runen-Jahr 1006 in Torvaldsland gewesen. Die Zeitrechnung von Torvaldsland stützt sich auf den Augenblick, da Torvald, der legendäre Held und Begründer des nördlichen Vaterlandes, von Thor den warmen Torvald-Strom als Geschenk erhielt. Die Kalender werden von Runenpriestern geführt. Mein Besuch hatte umgerechnet im Jahr 10222 C.A. oder im Jahr 3 der Herrschaft des Kapitänsrates von Port Kar stattgefunden. Die Geschehnisse, von denen Yngvar berichtet hatte, hatten sich vermutlich vor vier oder fünf Jahren zugetragen.
»Vermutlich ist es ein paar Jahre her«, sagte Samos.
»Vermutlich«, räumte ich ein.
»Das Schiff gehörte wahrscheinlich den Priesterkönigen.«
»Anzunehmen«, stimmte ich zu. Es erschien unwahrscheinlich, daß ein Schiff der Kur offen durch goreanischen Luftraum flog.
»Eine interessante Geschichte«, sagte Samos.
»Ja.«
»Vielleicht bedeutet sie etwas.«
»Vielleicht.«
Ich erinnerte mich an einen Vorfall vor langer Zeit, als ich im Nest der Priesterkönige vor der sterbenden Mutter gestanden hatte. »Ich sehe ihn, ich sehe ihn«, hatte sie gesagt. »Seine Flügel sind wie Schauer aus Gold.« Dann war sie auf den Stein zurückgesunken. »Die Mutter ist tot«, hatte Misk gesagt. Bemerkenswerterweise hatten ihre letzten Gedanken anscheinend ihrem Hochzeitsflug gegolten. Zweifellos gab es nun eine neue Mutter im Nest. Yngvar und seine Männer waren meiner festen Überzeugung nach unwissentlich Zeuge des Beginns einer neuen Dynastie der Priesterkönige geworden.
»Hast du etwas von den Sardar gehört?« fragte ich erneut.
Samos sah auf das Brett. Sein Zögern, meine Frage zu beantworten, überraschte mich. Natürlich war es möglich, daß er etwas gehört hatte, was mich nichts anging. Ich hatte nicht vor, die Nase in seine Angelegenheiten zu stecken – oder in die der Priesterkönige. Andererseits war es genausogut möglich, daß sie nichts von sich hatten hören lassen.
Wir spielten jeder vier Züge.
»Du spielst heute nicht so wie immer«, sagte ich zu ihm.
»Tut mir leid.«
Ein anderes Mädchen, Susan, tanzte jetzt. Tula ließ sich von einem Mann zum nächsten weiterreichen. Einige der anderen Mädchen standen ebenfalls ihren Herrn auf eindeutige Weise zu Diensten. Dann gab es noch welche, die ihre Herren küßten und streichelten, ihnen um Aufmerksamkeit bettelnd ins Ohr flüsterten.
Wir spielten noch ein paar Züge.
»Was macht dir Sorgen?« fragte ich Samos.
»Nichts.«
»Gibt es sonst etwas Neues?«
»Tarnmänner aus Treve haben die Außenbezirke von Ar überfallen«, sagte Samos.
»Sie werden mutig«, sagte ich.
»Cos und Ar befehden sich noch immer.«
»Natürlich.«
»In Tyros werden weiterhin Schiffe gebaut.«
»Chenbar vergißt nie etwas«, sagte ich. Ein Großteil von Tyros’ Seestreitkräften waren in der Schlacht am 25. Se’Kara vernichtet worden, im Jahr l der Herrschaft des Kapitänsrates.
»Unsere Spione berichten, daß in Cos viele Männer ausgebildet und Söldner rekrutiert werden«, sagte Samos.
»Wir könnten die Werften von Tyros angreifen«, sagte ich. »Zehn Rammschiffe, tausend Mann, eine handverlesene Streitmacht.«
»Die Werften sind gut befestigt«
»Glaubst du, Cos und Tyros werden zuschlagen?«
»Ja.«
»Wann?«
»Ich weiß nicht«, sagte er.
»Es ist bemerkenswert«, meinte ich. »Ich kann Port Kar nicht als große Bedrohung für sie sehen. Die Macht von Ar im Voskbecken scheint doch eine viel größere Bedrohung für Cos’ und Tyros’ Einfluß und ihr Handelsgebiet darzustellen.«
»Sollte man annehmen.«
»Natürlich hat die Gründung der Voskliga die Dinge schwieriger gemacht.«
»Das ist wahr«, bestätigte Samos.
»Worin bildet man die Männer von Cos aus?«
»Es ist eine Infanterieausbildung.«
»Das ist gut zu wissen«, sagte ich. Ich hielt es für unwahrscheinlich, daß ein Infanterieangriff auf Port Kar erfolgreich wäre, sofern es sich um einen Angriff mit normalem Aufmarsch und normaler Taktik handelte. Das hatte seine Ursache vor allem in der Lage der Stadt: Man hatte sie am nordwestlichen Ufer des Vosk erbaut; vor ihren Mauern liegen die Fluten des Thassas und des Tamburgolfs, während sich dahinter das riesige straßenlose Marschland des Vosk befindet.
»Könnte es sein, daß Cos den Plan verfolgt, Ar auf dem Land herauszufordern?«
»Das wäre Wahnsinn«, sagte Samos.
Ich nickte. Ar ist die mächtigste Landmacht Gors. Falls die cosische Infanterie den Streitkräften aus Ar in offener Feldschlacht entgegenträte, würde sie vernichtet werden.
»Also wollen sie allem Anschein nach die Infanterie gegen Port Kar einsetzen«, sagte Samos.
Ich nickte. Cos würde Ar niemals auf dem Land herausfordern. Das war undenkbar.
»Bereitet dir das Sorgen?« fragte ich.
»Was?«
»Die Möglichkeit, daß Cos und Tyros gegen Port Kar marschieren könnten?«
»Nein.«
»Was macht dir denn dann Sorgen?«
»Nichts.«
Ich setzte meinen Ubaras-Hausbauer, um Samos’ Ubar zu bedrohen. Dieser Zug machte den versteckten Angriff meines Ubaras-Wissenden auf seinen Heimstein erkennbar. Er verlegte den Weg mit seinem Ubars-Hausbauer, den ich im Gegenzug mit dem Wissenden wegnahm, einem weniger wichtigen Spielstein. Der Wissende bedrohte natürlich weiterhin den Heimstein, und Samos schlug ihn mit seinem Ubaras-Hausbauer, während ich daraufhin mit meinem Ubaras-Hausbauer seinen Ubar vom Spielfeld nahm.
Samos wandte sich Linda zu. »Tanze!« befahl er. Sie sprang auf die Füße und eilte in die Mitte des gefliesten Saals. Susan landete in den Armen eines Keleustes. Das ist der Mann auf einem Schiff, der den Ruderern auf einer Trommel oder einem Holzblock die Schlagzahl vorgibt. Bei einigen Seestreitkräften wie auch einigen Privatlinien heißt der Keleustes einfach der Antreiber. Er untersteht direkt dem Rudermeister; Rudermeister sind zu jeder Zeit zu zweit im Dienst, da die meisten goreanischen Schiffe mit zwei Reihen Ruderern bestückt sind, und berichten direkt dem Kapitän. Das gleiche gilt übrigens auch für den Steuermann.
Wir sahen uns Lindas Tanz an. Es schien, als hätte sie allein für Samos Augen. Ihre Finger spielten aufreizend an dem Verschlußbändchen des linken Trägers herum.
»Zieh dich aus, Sklavin«, sagte Samos.
Sie zog an dem Bändchen. Es gab goreanischen Beifall. Linda tanzte gut. Sie hatte nur noch wenig von einer irdischen Frau. Wie glücklich und erfüllt sie doch auf Gor war.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Spielbrett zu, genau wie Samos.
»Noch vier Züge bis zur Gefangennahme des Heimsteins«, sagte ich.
Er nickte, nahm den Heimstein vom Brett und gab sich damit geschlagen.
Dann sah er wieder zu Linda hinüber. »Sie ist hübsch.«
»Ja.«
»Glaubst du, daß ich ihr Freund bin?« fragte er.
»Ja.«
Sie wand sich gekonnt.
»Warum hast du mich heute abend eingeladen? Doch bestimmt nicht nur wegen einer Partie Kaissa.«
Er stellte die Spielsteine wieder auf. Diesmal würde er Gelb nehmen.
»Ubars-Speerträger auf Ubar fünf.«
Mit diesem Zug greift man das Zentrum an und öffnet für die Ubara eine Diagonale. Außerdem ermöglicht er die Plazierung des Ubars-Tarnkämpfers. Ich machte den gleichen Zug, stellte mich Samos im Zentrum gegenüber, unterbrach den Vorstoß auf diese Linie und sicherte mir die Möglichkeit, Ubaras und Ubars-Tarnkämpfer zu setzen. Das ist eine der konventionellsten Eröffnungen des Kaissa.
An diesem Abend spielten wir noch zwei Partien. Ich gewann beide Spiele ohne große Anstrengung, zuerst mit einem Ansturm aus Speerträgern und Tharlarionreitern auf die Linie des Ubars, dann mit einer Kombination aus Ubaras-Schriftgelehrter, Ubaras und Ubars-Tarnkämpfer, die in der Mitte angriffen. Es war spät geworden. Linda lag zusammengerollt an Samos’ Seite auf den Fliesen, nackt bis auf den Sklavenkragen. Sie war wunderschön und kurvenreich, und sie gehörte ihm.
»Kapitän«, sagte einer der Wächter, die vor den Tisch traten. Es waren die Männer, die zuvor Lady Rowena aus Lydius gebracht hatten. Diese Frau kniete nun zwischen ihnen, wandte uns das Gesicht zu und streckte die Arme in die Höhe. Jeder der Wächter hielt ein Handgelenk fest. Man hatte sie zur Sklavin gemacht.
»Du bist nun eine Sklavin, richtig?« fragte Samos.
»Ja, Herr«, antwortete sie gehorsam.
»Ich werde dich Rowena nennen.«
»Danke, Herr.« Es liegt eine gewisse Sicherheit darin, wenn ein Sklave einen Namen hat. Die meisten Besitzer machen sich nicht die Mühe, einem Sklaven, den sie dem Tod überlassen wollen, einen Namen zu geben. Damit würde man nur den Namen verschwenden. Natürlich unterliegt die Namensgebung der Laune des Besitzers; er kann ihn dem Sklaven genauso schnell wieder nehmen.
»Bringt sie in mein Gemach.«
»Ja, Kapitän«, sagte der erste der Wächter.
»Herr!« protestierte Linda.
Samos sah sie an, und sie senkte den Kopf. »Vergib mir, Herr«, sagte sie.
»Ich werde versuchen, meinen Herrn zu erfreuen!« versicherte Rowena ängstlich. Sie hatte ihre Lektion offensichtlich gelernt.
Dann packten die beiden Männer sie und brachten sie fort.
»Sie ist fett«, sagte Linda. Das war nicht gerecht. Die Sklavin Rowena war nicht fett. Ihr Körper war wohlgerundet. Bald würde sie sich natürlich einer strengen Lebensweise mit Diät und Körperertüchtigung unterziehen müssen. Die goreanische Sklavin ist keine freie Frau. Und aus diesem Grund muß sie ihre Schönheit bewahren.
»Gefällt dir Linda nicht mehr?« maulte sie.
»Doch, du gefällst mir noch immer.«
»Linda kann dich besser erfreuen als Rowena.«
»Vielleicht.«
»Ich kann, und ich will!«
»Geh in dein Gemach!« sagte Samos.
»Ja, Herr«, sagte sie, nahm ihre Tunika vom Boden und stand mit Tränen in den Augen auf.
»Sklavin«, sagte Samos.
»Ja, Herr?« sagte sie, drehte sich um und ließ sich auf die Knie fallen.
»Morgen nacht wirst du an meinen Sklavenring gekettet werden.«
»Danke, Herr!« rief sie aus und eilte glücklich aus dem. Saal.
»Was willst du mit der Sklavin Rowena anfangen?« fragte ich.
»Sie gehört zu einer hundert Köpfe zählenden Gruppe, die auf dem Jahrmarkt von En’Kara verkauft werden soll.«
Ich stand auf. Das lange Sitzen hatte mich steif gemacht.
Samos erhob sich ebenfalls. Wir sahen uns um. Die Männer und die Sklavinnen hatten den Raum verlassen. Wir waren allein.
Unsere Blicke trafen sich. Ich las in seinen Augen, daß er mir etwas sagen wollte, aber er tat es nicht.
»Deine Männer und das Boot warten«, sagte er.
Samos begleitete mich nach draußen zu der kleinen Anlegestelle.
Ich stieg in das Langboot und rüttelte Thurnock, den blonden Riesen, an der Schulter, bis er aufwachte. Er weckte die Ruderer. Ich nahm meinen Platz am Steuerruder ein. Einer von Samos’ Männern machte die Leine los.
»Ich wünsche dir alles Gute«, sprach Samos den traditionellen goreanischen Gruß.
»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte ich.
Wir stießen das Boot ab. Einen Augenblick später glitten wir mit langsamen Ruderschlägen den Kanal entlang und fuhren in Richtung meines Hauses. Der Kanal war dunkel. In zwei Tagen würde er von Laternen erhellt sein, die an Stangen befestigt wären und aus den flaggengeschmückten und girlandenbehangenen Häusern ragten. Dann war die Zeit der Zwölften Passage-Hand gekommen, die Zeit des Karnevals.
Am Arsenal wurde die Zeitstange geschlagen. Es war die zwanzigste Ahn, die goreanische Mitternacht.
Ich zerbrach mir den Kopf, warum Samos mich eingeladen hatte. Ich war mir sicher, daß er mit mir hatte sprechen wollen. Doch dann hatte er es nicht getan.
Ich verscheuchte diese Gedanken. Wenn Samos seine Absichten für sich behalten wollte, so war das seine Sache und ging mich nichts an.
Ich hatte heute abend ein paar gute Partien Kaissa gespielt. Allerdings lag Samos wie bereits erwähnt nicht viel an dem Spiel. Er zog ein anderes Kaissa vor; sein Spiel waren die Politik und die Einflußnahme auf andere.