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»Widerwärtig! Widerwärtig!« rief die freie Frau im Publikum, die das Gewand der Schriftgelehrten mitsamt Schleier trug. »Zieh den Rock herunter, du Sklavin, du schamlose Dirne!«

»Bitte, entferne dich, edler Kaufmann, denn du triffst mich unvorbereitet an, und es ist notwendig, daß ich etwas Verhüllendes finde, wäre doch sonst mein Körper entblößt!« rief das Mädchen auf der Bühne, Boots Tarskstücks derzeitige Brigella. Ich hatte sie ein paar Tage zuvor in Port Kar gesehen.

»Zieh den Rock herunter, Schlampe!« rief die freie Frau im Publikum.

»Sei still«, sagte ein freier Mann zu ihr. »Es ist doch nur ein Theaterstück.«

»Sei doch selbst still!« entgegnete sie ihm wütend.

»Wärst du eine Sklavin, würdest du teuer für deine Impertinenz bezahlen«, knurrte er.

»Ich bin aber keine Sklavin«, entgegnete sie.

»Offensichtlich.«

»Und ich werde niemals eine Sklavin sein.«

»Sei dir da mal nicht zu sicher, Frau«, sagte der Mann.

»Bestie.«

»Ich frage mich, ob du angekettet im Zelt etwas taugen würdest.«

»Du Ungeheuer!«

»Wir wollen das Stück sehen«, meinte ein anderer Zuschauer.

»Auch wenn ich Hunger leide und in Lumpen gekleidet gehe, in kaum mehr als schäbigen Fetzen«, sagte Brigella zu Boots Tarskstück, der in der Rolle des schnaufenden, lüsternen Kaufmanns neben ihr auf der Bühne stand, »so wisse, Bürger, daß ich, Phoebe, eine freie Frau bin!«

Diese Verkündung rief beim Publikum wie erwartet schallendes Gelächter hervor.

»Nimm ihr den Schal um den Hals ab!« brüllte ein Mann. »Wir wollen sehen, ob sich da nicht doch ein Eisenkragen darunter findet!« Wie bereits erwähnt sind auf Gor die meisten Schauspielerinnen Sklavinnen. Wenn ein Mädchen auf der Bühne steht, wird ihr Brandmal selbst dann nicht verhüllt, wenn sie nackt ist. Wenn sie die Rolle der ›freien Frau‹ spielt, wird davon ausgegangen, daß das Publikum das Brandmal eben übersieht. Wird besonders viel Aufhebens über die Freiheit der Frau der Bühne gemacht, was in vielen Dramen und Farcen nicht ungewöhnlich ist, verdeckt man das Brandmal gelegentlich mit kleinen runden Pflastern, ein stillschweigend anerkannter goreanischer Theaterbrauch.

Es gibt viele solcher Bräuche – das Tragen eines Tarnstachels in Verbindung mit einem bestimmten Herumgehopse auf der Bühne symbolisiert einen Tarnritt; benutzt man einen Kaiilastachel, reitet man auf einem Kaiila; ein Ast auf der Bühne ist ein Wald, ein paar Steine eine Stadt. Steht der Held auf einer Kiste oder einem kleinen Tisch, wird damit dargestellt, daß er von einem Berggipfel oder den Zinnen der Stadtmauer hinunterschaut; ein bißchen Konfetti ist ein Schneesturm, der Gang über die Bühne eine lange Reise von tausend Pasang; ein paar gekreuzte Stangen mit einem daranhängenden Stück Seidenstoff deutet auf einen Thronsaal oder das Zelt eines Generals hin. Die hinter dem General hergetragene Flagge ist ein Hinweis, daß ihm tausend Mann folgen; ein schwarzer Umhang bedeutet, daß die Figur unsichtbar ist, und dergleichen mehr.

»Bist du wirklich frei?« fragte Boots Tarskstück seine Brigella mit übertriebener Ungläubigkeit.

»Ja!« rief sie und hielt sich den Rocksaum vors Gesicht, um ihn als Schleier zu benutzen. Es gab erneut Gelächter, das zweifellos nicht allein von der Absurdität der Situation hervorgerufen wurde, sondern auch von der Widersinnigkeit, daß eine so eindeutige Sklavin wie die Brigella derartiges behauptete.

Boots stapfte über die Bühne, als wolle er eine günstigere Stellung einnehmen.

»Tal, Kaufmann«, sagte sie.

»Tal, Lady Phoebe«, sagte er.

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte sie.

»Ich würde sagen, alles ist in Ordnung«, erwiderte er.

»Hast du noch nie zuvor eine freie Frau gesehen?« fragte sie.

»Diese Farce ist eine Beleidigung für alle freien Frauen!« rief die Schriftgelehrte im Publikum.

»Hast du noch nie zuvor eine freie Frau gesehen?« wiederholte Brigella, die heute einmal in eine andere Rolle geschlüpft war, ihren Satz.

»Für gewöhnlich sehe ich nicht soviel von ihnen«, gab Boots zu.

»Ich verstehe«, sagte Brigella.

»Nicht annähernd soviel«, sagte Boots.

»Das ist beleidigend!« rief die freie Frau.

»Aber ich nehme an, ich sehe mehr von dir als die meisten«, sagte Boots.

»Das ist beleidigend!« rief die freie Frau.

»Bist du entsetzt, daß ich dich auf so unschickliche Weise empfange?« wollte Brigella wissen.

»Ich wäre erfreut, hättest du die Absicht, mich zu empfangen, ob nun schicklich oder unschicklich.«

»Welche Lady könnte sich anders verhalten?«

»In der Tat!« rief Boots begeistert.

»Ich spreche natürlich davon, daß ich mich dafür entschuldigen will, mich so hastig zu verschleiern, mußte ich doch auf die Dinge zurückgreifen, die gerade bei der Hand waren.«

»Ich will dich nicht tadeln«, versicherte Boots ihr.

»Dann denkst du nicht schlecht von mir?«

»Nein, ich bewundere dich! Ich bewundere dich!« sagte er und bewunderte sie.

»Und so zeigen wir freien Frauen den Männern unsere Sittsamkeit«, verkündete Brigella.

»Und das ist eine wirklich schöne Sittsamkeit«, bestätigte Boots voller Bewunderung.

»Oh!« rief Brigella plötzlich aus, als sei sie peinlich berührt, ging in die Hocke und zog den Rocksaum bis zu den Knöcheln.

»Ich dachte, du seist eine freie Frau«, sagte Boots.

»Das bin ich auch!« rief Brigella.

»Und dann präsentierst du dich einem fremden Mann mit entblößtem Gesicht?«

»Oh!« stieß sie entsetzt hervor, sprang wieder auf, riß den Rock hoch und benutzte ihn erneut, um die Gesichtszüge zu verbergen.

»Ah!« rief Boots anerkennend.

»Oh!« rief sie gequält und zog entsetzt den Rock nach unten.

»Ein nacktes Gesicht!« rief Boots empört

Der Rock flog in die Höhe.

»Ah!« rief Boots.

Der Rock sauste nach unten.

»Ein nacktes Gesicht!« sagte Boots tadelnd.

»Was soll ein armes Mädchen nur tun?« rief Brigella.

Der Rocksaum, den sie in den kleinen Händen hielt, während sie vor Not und Verzweiflung jammerte, fuhr in die Höhe und wieder hinunter, bis sie ihn zwischen Brust und Hals hielt. Auf diese Weise verhüllte er zum Vergnügen der meisten Zuschauer weder ihre ›Sittsamkeit‹ noch ihr Gesicht.

Um den Sinn der Szene zu verstehen, muß man wissen, daß in der goreanischen Gesellschaft die öffentliche Zurschaustellung des Gesichts einer freien Frau – vor allem einer hochgestellten Persönlichkeit – als ernstes Vergehen betrachtet wird. In manchen Städten muß eine unverschleierte freie Frau damit rechnen, von den Ordnungshütern in Gewahrsam genommen zu werden. Dort erhält sie einen Schleier, falls nötig mit Gewalt, und wird dann in aller Öffentlichkeit zu ihrem Haus zurückgebracht. In einigen Städten schreibt der Brauch sogar vor, daß sie bis auf den Gesichtsschleier nackt gehen muß. In solchen Fällen folgt ihr für gewöhnlich eine Menschenmenge, die sehen will, zu welchem Haus sie zurückgebracht wird. Bei mehreren Verstößen dieser Art macht man die Übeltäterin normalerweise zur Sklavin. Natürlich werden derartig drastische Maßnahmen nur selten gebraucht, um solche allgemeingültigen Sitten aufrechtzuerhalten.

Gesellschaftlicher Druck trägt ebenfalls zur Aufrechterhaltung dieser Sitten, bei. So kann es unverschleierten Frauen zum Beispiel widerfahren, daß sich auf dem Markt andere Frauen mit Gesten des Abscheus von ihr abwenden. Es kann ihr widerfahren, daß eine freie Frau sie nicht bedient, bevor sie niederkniet. Es wäre nicht ungewöhnlich, daß sie an einem bevölkerten Ort hämisch geflüsterte Bemerkungen wie »Schamlose Schlampe« oder »Schamlos wie eine Sklavin« oder »Legt ihr einen Kragen an!« zu hören bekommt. Und sollte sie dann versuchen, die Spötter zur Rede zu stellen, kann sie davon ausgehen, daß man ihr derartige Dinge offen ins Gesicht sagt.

Sklavinnen ist das Tragen eines Schleiers verboten. Ihre Gesichter bleiben unverhüllt und dem Blick der Öffentlichkeit ausgesetzt. So können Männer sie immer ansehen, wenn sie Lust dazu haben.

»Was soll ich tun?« wandte sich die wunderschöne Brigella dem Publikum zu, den Rocksaum in Höhe des Halses haltend. Ihre schön geschwungenen Lippen waren geschürzt. Scheinbar stand sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. Wie verzweifelt sie war, wie entsetzt über ihre aussichtlose Lage.

»Knie nieder!« rief ein Mann.

»Zieh dich ganz aus!« rief ein anderer.

»Sklavin!« sagte die Schriftgelehrte kalt und gebieterisch, und es war eindeutig, daß sie Brigella ansprach.

»Herrin!« erwiderte das Mädchen sofort ängstlich, vergaß seine Rolle und kniete nieder. Eine freie Frau hatte sie angesprochen.

»Den Kopf auf die Bretter!« fauchte die Schriftgelehrte.

Das Mädchen gehorchte augenblicklich. Sie zitterte in dem Wissen, daß sie freien Menschen völlig ausgeliefert war.

»Bist du der Besitzer dieser Sklavin?« wandte sich die Frau an Boots Tarskstück.

»Ja, Lady«, antwortete er.

»Dann laß sie auspeitschen.«

»Ein möglicherweise ausgezeichneter Vorschlag«, sagte der Theaterdirektor. »Aber gibt es einen bestimmten Grund?«

»Mir gefällt ihre Schauspielkunst nicht«, erklärte die Schriftgelehrte.

»Es ist schwierig, es allen recht zu machen«, gab Boots zu. »Aber ich versichere dir, sollte ich, ihr Herr, mit ihrer Darstellung nicht zufrieden sein, werde ich sie höchstpersönlich binden und dafür sorgen, daß sie ordentlich ausgepeitscht wird.«

»Ich finde ihre Rolle widerlich«, sagte die Frau.

»Ja, Lady.«

»Und ich halte sie für eine Beleidigung aller freien Frauen!«

»Ja, Lady.«

»Wir wollen den Rest der Vorstellung sehen«, sagte ein Mann.

»Also peitsche sie!« verlangte die freie Frau.

»Ich sehe dafür aber keinen Grund«, sagte Boots. »Sie tut genau das, was sie tun soll. Sie ist gehorsam. Wäre sie ungehorsam, wäre das etwas anderes, aber so…«

»Du sollst sie auspeitschen!« verlangte die Frau.

»Soll ich das tun?« wandte sich Boots ans Publikum.

»Nein!« rief ein Mann.

»Macht weiter«, rief ein anderer.

»Hast du eine Erlaubnis für diese Vorstellung?« fragte die Schriftgelehrte.

»Habt Gnade mit mir, Lady«, sagte Boots. »Es sind harte Zeiten für mich. Erst gestern mußte ich meine schöne Kurtisane verkaufen, nur um die Rechnungen bezahlen zu können.«

Es ist schwierig, eine derartige goreanische Theatertruppe ohne schöne Kurtisane zu führen. In dieser Art von Theater stellt sie einen der wichtigsten Charaktere dar; sie tritt in etwa fünfzig bis sechzig Prozent der Farcen auf, die das Repertoire einer solchen Truppe ausmachen. Es wäre genauso, wie ohne komischen Kaufmann, Brigella, Bina, Lecchio oder Chino auskommen zu wollen. Boots’ Schwierigkeiten waren mir ja hinreichend bekannt.

»Hast du eine Erlaubnis?« Die Schriftgelehrte ließ nicht locker.

»Letztes Jahr hatte ich zugegebenermaßen keine Erlaubnis«, sagte Boots. »Aber das würde ich auf dem Jahrmarkt von Sardar kein zweites Mal wagen. Ich habe meine Schulden bezahlt. Tatsächlich kam es mir so vor, als hätten sich, kaum hatte ich die erste Schuld bezahlt, tausend Gläubiger mit ihren Wächtern im Rücken auf mich gestürzt, wie Jards auf einen Braten. Vor den Spitzen ihrer Schwerter lernte ich die Befriedigung kennen und schätzen, die das Streben nach peinlich genauer Ehrlichkeit mit sich bringt. Und wenn alles gesagt und getan ist, ist die Armut ein zweifellos geringer Preis für eine so wunderbare Sache wie die Läuterung des Charakters.«

»Also hast du eine Erlaubnis?« beharrte die Frau.

»Ich mußte meine schöne Kurtisane verkaufen, um eine zu erwerben«, sagte Boots.

»Dann werde ich veranlassen, daß man sie dir entzieht«, sagte die Frau.

»Gut«, meinte einer der Zuschauer. »Geh und kümmere dich darum.«

»Spielt endlich weiter«, rief ein anderer.

»Habt Mitleid, meine Lady«, bettelte Boots.

»Zieht die Schriftgelehrte aus und gebt ihr die Peitsche zu schmecken!« sagte ein Mann.

»Macht sie zur Sklavin!« knurrte ein dritter.

»Ruhe, ihr Abschaum!« rief die Frau und wandte sich der Menge zu.

»Abschaum?« wiederholte ein Mann. Das Publikum bestand offensichtlich hauptsächlich aus freien Männern.

»Besorgt ihr einen Kragen«, sagte jemand. »Dann wird sie sich schnell ändern.«

»Ich bin Telitsia, eine Lady aus Asperiche«, sagte die Schriftgelehrte. »Ich bin eine freie Frau! Ich habe keine Angst vor euch!«

Ich mußte lächeln. Natürlich konnte ihr nichts geschehen, da sie sich auf dem Gebiet des Sardar-Jahrmarkts aufhielt. Wie mutig Frauen unter solchen Bedingungen sein können! Ich fragte mich, ob ihnen eigentlich bewußt war, wie künstlich, zerbrechlich und widerrufbar solche Regeln waren. Verwechselten sie sie tatsächlich mit Mauern aus Stein und Reihen aus Stahl? Begriffen sie den Unterschied zwischen den Linien und Farben auf Landkarten und der Realität des tatsächlichen Geländes? Bis zu welchem Ausmaß verstanden sie die theoretische und mythische Natur jener Festungen, in denen sie Schutz suchten, von dessen Mauern aus sie versuchten, der Welt ihren Willen aufzuzwingen? Begriffen sie nicht, daß eines Tages ein Mann vielleicht sagen würde: ›Diese Festung existiert nicht wirklich‹? Dann würden sie, nachdem die Geduld der Männer erschöpft und das Spiel vorüber war, sich auf dem Platz in der Natur wiederfinden, der ihnen zukam, nämlich zu Knien ihres Herrn! Asperiche ist eine freie Insel im Thassa. Sie liegt südlich von Teletus und Tabor und wird von Kaufleuten regiert.

»Wir wollen die Vorstellung zu Ende sehen«, sagte ein Mann gereizt.

»Ja!« riefen andere.

»Mit deiner Erlaubnis, Lady Telitsia?« fragte Boots höflich die hochmütige, stolze, eitle, verschleierte, in Blau gekleidete Frau, die in der ersten Reihe am Bühnenrand stand.

»Du darfst weitermachen«, sagte sie.

»Aber du könntest das folgende anstößig finden«, warnte Boote.

»Das wird ohne jeden Zweifel so sein«, sagte Lady Telitsia. »Und keine Angst, ich werde das bei meiner Beschwerde vor dem zuständigen Magistrat zur Sprache bringen.«

»Du willst bleiben?« fragte Boots verblüfft.

»Ja«, antwortete sie. »Aber erwarte keine Münze von mir.«

Ich lächelte. Lady Telitsia war offensichtlich genauso interessiert daran, den Rest des Stücks zu sehen, wie der Rest von uns. Ich fand das bemerkenswert.

»Allein die Ehre deiner Anwesenheit, die Anwesenheit einer freien Dame von Adel, ist schon ein weitaus größerer Lohn, als wir ihn verdienen«, versicherte Boots ihr.

»Was hat er gesagt?« fragte ein Mann.

»Er sagt, daß sie mehr ist, als wir verdienen«, knurrte ein anderer Zuschauer.

»Das stimmt«, lachte der Mann.

»Du darfst weitermachen«, sagte Lady Telitsia von oben herab.

»Vielen Dank, ehrenwerte Lady«, sagte Boots. Dann wandte er sich der Brigella zu. »Mädchen!« fauchte er sie an. Sein Benehmen ihr gegenüber unterschied sich von der Art, wie er die freie Frau behandelt hatte, aber sie war ja auch eine Sklavin. Sie sprang auf die Füße und hielt den Rocksaum wieder bis zum Hals hoch.

»Schamlos!« sagte die Schriftgelehrte.

Brigella sah sich nervös das Publikum an und versuchte herauszufinden, wer an ihr Interesse zeigte. Das hätte jeder der Männer sein können. Dann lächelte sie niedlich und wippte in den Knien. Das machte sie sehr geschickt. Ich glaube, sie hatte in jedem Mann im Publikum den Wunsch entfacht, sie zu besitzen. Sie nahm wieder den Ausdruck köstlicher, damenhafter Bestürzung an.

Boots Tarskstück gab ihr das Zeichen zum Weitermachen und wurde wieder zum lüsternen Kaufmann.

»Wenn ich den Rock hebe, muß ich wohl meine Sittsamkeit einem Fremden enthüllen«, jammerte Brigella ans Publikum gewandt. »Senke ich ihn jedoch, zeige ich ihm das nackte Gesicht, so schamlos wie eine Dirne! Oh, was soll ein armes Mädchen da nur nun?«

»Hör zu, du vermeintlich liebliche Dame«, verkündete Boots. »In meinem Rucksack trage ich die Lösung für dein Problem bei mir.«

»Sagt schon, edler Kaufmann, wie sieht sie aus?« rief Brigella.

»Es ist ein Schleier«, erwiderte er.

»Genau, was ich brauche!« jubelte sie.

»Aber es ist kein gewöhnlicher Schleier.«

»Zeig ihn mir«, bettelte sie.

»Ich weiß nicht, ob du ihn wirst sehen können.«

»Was meinst du damit?«

»Aber nein, natürlich wirst du ihn sehen können, du bist ja schließlich eine freie Frau!«

»Ich verstehe nicht.«

»Der Schleier wurde von den Magiern von Anango gewebt«, verkündete Boots.

»Nicht die Magier von Anango!« rief Brigella entsetzt.

»Doch«, sagte Boots ernst. Wie Asperiche ist Anango eine freie Insel im Thassa, die von Kaufleuten beherrscht wird. Allerdings liegt sie in weiter Ferne, südlich des Äquators, so weit südlich, daß sie für die meisten Goreaner ein entfernter und exotischer Ort ist. Die Dschungel von Anango dienen als Schauplatz verschiedener phantastischer Geschichten, in denen seltsame Völker, geheimnisvolle Pflanzen und Fabeltiere die Hauptrolle spielen. Die Magier von Anango scheinen auf ganz Gor bekannt zu sein – außer auf Anango. Dort hat anscheinend noch niemand von ihnen gehört.

»Das Besondere an diesem Schleier ist folgendes«, erklärte Boots dem Mädchen mit gebührendem Ernst. »Nur freie Personen können ihn sehen.«

»Es wäre also nicht schicklich, ihn vor Sklaven zu tragen.«

»Vielleicht nicht, aber wer stört sich schon daran, was Sklaven denken?«

»Das ist wahr«, sagte sie. »Zeig ihn mir! Zeig ihn mir!«

»Aber ich habe ihn hier, in meiner Hand!«

»Wie schön er ist!« Schallendes Gelächter ertönte. Das unsichtbare Tuch oder der unsichtbare Gegenstand, der alles von einem Stein bis zu einem Schiff sein kann und der nur von Leuten mit bestimmten Fähigkeiten gesehen werden kann, ist ein fester Bestandteil der goreanischen Folklore. Von dieser Geschichte gibt es viele Spielarten.

Boots hielt den vermeintlichen Schleier in die Höhe, drehte ihn um und führte ihn allen vor.

»Hast du je etwas so Schönes gesehen?« fragte er.

»Nein!«

»Er ist so leicht, das man ihn kaum fühlen kann. Es heißt, daß Sklaven ihn sogar überhaupt nicht fühlen können.«

»Ich muß ihn haben!«

»Er ist aber schrecklich teuer«, warnte Boots das Mädchen.

»Oh, weh mir!« rief sie.

»Nennst du zehntausend Goldstücke dein eigen?«

»Nein!« rief sie. »Ich bin ein armes Mädchen, das nicht einmal ein Tarskstück besitzt.«

»Tja, dann…«, sagte Boots düster und tat so, als falte er den Schleier wieder zusammen. Dabei bot er eine geschickte Pantomime. »Ich hatte so gehofft, einen Verkauf zu tätigen.«

»Könntest du mir nicht ein kleines Stück abschneiden?« fragte sie.

»Ein Stück im Wert für tausend Goldstücke?«

»O weh«, schluchzte sie. »Ich kann mir nicht einmal das leisten.«

»Nun ja«, sagte Boots. »Der Schleier ist ziemlich groß, er bietet genug Stoff, um einen ganzen Körper zu verhüllen.«

»Das sehe ich.«

»Es ist den Magiern von Anango verboten, nur halbe Arbeit zu leisten.«

»Das weiß jeder.«

»Wie dem auch sei, du wärst sicherlich nicht so gemein, so herzlos und gefühllos sein, mir vorzuschlagen, ein so wunderbares Tuch mit der Schere zu bearbeiten, diesem schrecklichen, unbeholfenen Instrument.«

»Nein!« rief sie aus.

»Ich wünsche dir alles Gute, Lady«, sagte Boots traurig und tat so, als wollte er den Schleier wieder in seinen Rucksack packen.

»Ich muß ihn haben!«

»So?« fragte Boots.

»Ich werde alles tun, um ihn zu bekommen!«

»Alles?« fragte Boots hoffnungsvoll.

»Alles!«

»Vielleicht…«, sagte Boots nachdenklich.

»Ja? Was?«

»Nein. Es ist undenkbar!«

»Was denn?« bettelte sie begierig.

»Es ist undenkbar!« verkündete Boots.

»Was denn?« drängte sie ihn.

»Denn du bist eine freie Frau.«

»Was?«

»Es ist allgemein bekannt, daß Männer Bedürfnisse haben«, sagte er. »Sie sind von tierhafter Lust getrieben.«

»Ich frage mich, was er vorhat«, sagte das Mädchen, ans Publikum gewandt.

»Und ich bin schon lange unterwegs«, fuhr er fort.

»Ich werde mißtrauisch«, sagte sie.

»Und ich weiß, daß du eine freie Frau bist.«

»Mein Mißtrauen wird mit jedem Augenblick größer.«

»Und daß die Schönheit einer freien Frau ein gar unbezahlbares Gut ist.«

»Meine Gedanken rasen«, ließ sie die Zuschauer wissen. Alles lachte. Auf gewisse Weise entsprach das, was Boots da gesagt hatte, der Wahrheit. Die Schönheit einer freien Frau war ein unbezahlbares Gut. Nicht etwa deshalb, weil sie etwas Besonderes darstellte, sondern weil sie nicht zu kaufen war.

»Und so frage ich mich«, sagte Boots, »ob ich im Tausch gegen diesen wunderbaren Schleier einen winzigen Blick auf deine unbezahlbare Schönheit erhaschen darf.«

»Es ist noch schlimmer, als ich gedacht habe!« rief Brigella entsetzt dem Publikum zu.

»Vergib mir, meine Dame!« rief Boots erschrocken über die Ungeheuerlichkeit dessen, was er gerade vorgeschlagen hatte.

»Und doch wünsche ich mir von ganzem Herzen, den Schleier zu besitzen«, erzählte das Mädchen dem Publikum.

»Ich muß weiterziehen«, verkündete Boots enttäuscht.

»Bleibt, edler Kaufmann. Nur noch einen kurzen Augenblick«, sagte sie.

»Ja?«

»Würde ein Blick auf ein Handgelenk oder einen Knöchel reichen?«

»Ich zögere, euch das zu sagen«, sagte Boots, »aber vielleicht habt ihr noch nicht bemerkt daß ihr weder Hosen noch Handschuhe tragt. Solche kecken Blicke habe ich bereits genommen.«

»Da meine Schönheit die einer freien Frau ist, ist sie doch unbezahlbar, nicht wahr?« fragte sie.

»Natürlich.«

»Und einmal angenommen, du gibst mir für einen flüchtigen Blick die zehntausend Goldstücke, die du erwähnt hast, natürlich als bloße Geste der Dankbarkeit da die Dinge, um die es hier geht, nicht mit Geld zu bezahlen sind – und den Schleier obendrein…«

»Deine Großzügigkeit ist überwältigend!« rief Boots. »Hätte ich die zehntausend Goldstücke, gäbe ich sie zweifellos begeistert für solch einen Blick her, aber ich besitze keine zehntausend Goldstücke!« Boots wandte sich dem Publikum zu. »So nahe dran«, sagte er, »und doch so weit vom Ziel entfernt!«

Die Menge brach in Gelächter aus.

Lady Telitsia wandte sich mir zu. »Das war ein überzeugend gesprochener Satz.«

Ich nickte.

»Kannst du denn den Schleier sehen?« wollte einer der Männer von ihr wissen.

»Aber natürlich«, sagte sie. Diese Frau war schlagfertig; sie war nicht in seine Falle getappt. Die Männer lachten. Wie ich bemerkte, hatte Boots dieses kleine Wortgefecht von der Bühne aus verfolgt.

»Dann neuntausend Goldstücke«, rief Brigella.

Boots wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Bühne zu.

»Achttausend?« fragte sie hoffnungsvoll.

Boots schüttelte den magischen Schleier mit einer großartigen Geste aus und präsentierte ihn schamlos, um das Mädchen mit seiner Pracht zu beeindrucken.

»O wie wunderbar er doch ist! Ich muß ihn haben«, jammerte Brigella ans Publikum gewandt. »Was soll ich nur tun?«

Aus dem Publikum kamen viele Vorschläge, die nicht alle unbedingt geschmackvoll waren. Beim volkstümlichen goreanischen Theater ist die Beteiligung der Zuschauer eine ganz normale Sache. Sie ist höchst willkommen. Eine Farce ist etwas, dem die Schauspieler und das Publikum gemeinsam Leben einhauchen. Sie arbeiten zusammen, um die Theatererfahrung überhaupt erst zustande kommen zu lassen. Ist die Darbietung schlecht, wird das Publikum die Schauspieler es wissen lassen. Manchmal wird ein Stück ausgebuht und muß dann schnell von einem anderen ersetzt werden. Es ist nicht ungewöhnlich, daß es im Publikum zwischen jenen, die von der Darbietung angetan sind, und jenen, die sie schrecklich finden, zu handfesten Prügeleien kommt. Genauso wie es nicht ungewöhnlich ist, daß die Bühne mit Apfelkernen und allem möglichen Abfall übersät ist, der mit oder ohne Erfolg als Wurfgeschoß diente. Es ist sogar schon vorgekommen, daß ein Schauspieler von einem solchen Geschoß bewußtlos geschlagen wird. Ich beneide den Schauspieler nicht um seinen Beruf. Meine eigene Kaste, die Kriegerkaste, ist mir wesentlich lieber.

»Darf ich einen Vorschlag machen?« fragte Boots.

»Aber natürlich, edler Kaufmann«, rief Brigella, als heiße sie jede Lösung ihres Konflikts willkommen.

»Zieh dich an einem abgeschiedenen Ort aus, dabei

überdenkst du die Angelegenheit. Wenn du dich dann

in deiner Erhabenheit entscheidest, mir selbst den winzigsten aller Blicke zu verweigern, welcher Schaden

könnte dann entstanden sein?«

»Ein großartiger Vorschlag«, sagte sie. »Aber wo auf dieser schönen Wiese neben der Landstraße soll ich die nötige Abgeschiedenheit finden?«

»Hier!« sagte Boots und hielt den Schleier hoch.

»Was?«

»Wie du siehst, ist er so undurchsichtig, wie er schön ist«

»Aber natürlich!«

»Und?«

»Halte den Schleier hoch«, sagte sie.

Boots gehorchte. »Entkleidest du dich?« fragte er.

Die Männer im Publikum gaben lautstark ihrem Beifall Ausdruck. Einige schlugen sich nach goreanischer Sitte heftig auf die linke Schulter.

»Ja«, rief Brigella.

Sie war wirklich hübsch.

»Das werde ich bei meiner Beschwerde dem zuständigen Magistrat gegenüber nicht vergessen«, sagte Lady Telitsia.

»Bist du jetzt völlig nackt?« fragte Boots, als könnte er sie tatsächlich nicht sehen.

»Gänzlich«, verkündete das Mädchen. »Hier stehe ich neben der Landstraße, so nackt wie eine Sklavin«, sagte sie zum Publikum gewandt, »und doch werde ich von diesem wunderbaren Schleier verhüllt.«

»Bist du wirklich nackt?« fragte Boots.

»Ja doch.«

»Aber wie soll ich wissen, daß du tatsächlich nackt bist?« fragte Boots und ließ die Blicke genüßlich über ihren Körper schweifen.

»Dafür mußt du schon mein Wort nehmen«, sagte sie schnippisch. »Schließlich bin ich eine freie Frau.«

»Mit allem nötigen Respekt, meine Lady«, sagte Boots. »Bei einem solch folgenschweren Handel ist es nur gerecht, daß man mir gewichtigere Versicherungen gewährt.«

»Was also wünschst du?«

»Wie wäre es mit einem Beweis deiner angeblichen Nacktheit?«

»Aber Kaufmann, ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich dir deinen flüchtigen Blick gestatte oder nicht, diesen Augenblick unaussprechlicher Wonne, für den du mir aus freiem Willen den wunderbaren Schleier überlassen wirst.«

»Bitte mißversteh mich nicht!« rief Boots entsetzt. »Ich dachte da an einen Beweis der indirekten Art.«

»Und was könnte das sein?« fragte sie verzweifelt.

»Ich wage es nicht, darüber nachzudenken«, lamentierte der Theaterdirektor.

»Ich weiß es!« rief sie.

»Was denn?« fragte er und blinzelte dem Publikum zu.

»Ich könnte dir meine Kleidung zeigen!«

»Und was bewiese dies?« fragte Boots unschuldig.

»Wenn du entdeckst, daß ich nicht darin stecke, könntest du dir dann nicht mit etwas Wagemut vorstellen, daß ich nackt bin?«

»Oh, welch eine Idee, welch kühner Streich!« rief er. »Wer hätte je gedacht, daß unser Problem auf so geschickte Weise gelöst würde?«

»Ich werde meine Kleidung zu einem Bündel schnüren und unter dem Schleier hindurchschieben, damit du sie sehen kannst.«

Dieses scheinbar so unschuldige Vorhaben erntete wieder lautes Gelächter, denn wenn auf Gor eine Frau ihre Kleidung zu Füßen eines Mannes niederlegt, dann verkündet sie damit, daß sie sich ihm unterwirft. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie die Kleidung trägt, etwas anderes angezogen hat oder gar nackt ist. Boots hatte das Mädchen trickreich dazu gebracht, die Kleidung zu seinen Füßen abzulegen.

»Halt den Schleier fest«, sagte er.

»Warum denn das?«

»Ich muß die Kleidungsstücke zählen«, verkündete er mit gewichtiger Stimme.

»Also gut«, erwiderte sie. »Oh, der Schleier ist aber leicht!«

»Es fühlt sich tatsächlich an, als hielte man gar nichts in der Hand«, gab Boots ihr recht.

»Genau.«

Boots tat so, als würde er gewissenhaft die Kleidungsstücke zählen. Brigella wandte sich dem Publikum zu, wobei sie sich den unsichtbaren Schleier vor den Körper hielt.

»Er ist so mißtrauisch und hat einen solch logischen Verstand«, klagte sie. In der Zwischenzeit packte Boots die Kleider in seinen Rucksack.

»Ich gehe davon aus, daß alles in Ordnung ist«, meinte das Mädchen.

»So scheint es«, erwiderte Boots. »Es sei denn, es gibt ein zweites Gewand, das geschickterweise unter dem ersten verborgen lag.«

»Ich versichere dir, das ist nicht der Fall!«

»Ich nehme an, daß selbst bei solch gewichtigen Dingen die Zeit kommt, da Vertrauen angebracht ist.«

»Genau!« sagte Brigella. Sie wandte sich wieder dem Publikum zu. »Ich sehe meine Kleider nicht, aber zweifellos verbirgt der Schleier sie.«

»Also ist es nun soweit!« rief Boots.

»Ja«, erwiderte sie, »Wenn es dein Wunsch ist, kannst du dir vorstellen, daß ich hinter diesem undurchsichtigen Tuch völlig nackt bin.«

»Oh, beherztes Vorstellungsvermögen!« rief Boots. »Ich kann kaum an mich halten!«

»Dann mußt du darum kämpfen, die Beherrschung nicht zu verlieren.«

»Halt den Schleier ein Stück höher«, sagte Boots. »Noch höher, damit ich nicht in Versuchung komme, einen Blick über den wogenden, schimmernden Rand zu werfen, einen Blick auf die Freuden wage, die dahinter verborgen liegen. Höher, sage ich!«

»Ist es so gut?«

»Ausgezeichnet!« sagte Boots.

Sie stand jetzt mit weit ausgebreiteten Armen da, den Schleier hoch über den Kopf gehalten. Diese Pose brachte die Vollkommenheit ihrer Brüste noch mehr zur Geltung.

»Ah!« rief Boots. «Ah!«

»Die Laute, die du von dir gibst, edler Herr, könnten mich beinahe glauben machen – wenn ich sie sehen könnte, was mir ja verwehrt ist –, daß deine Züge und gewisse Körperteile die eines Mannes sind, der mich mit Blicken auffrißt.«

»Ja«, rief Boots, »es ist meine lebhafte Vorstellungskraft, die das Bild der unverhüllten Schönheit heraufbeschwört, die sich hinter der undurchdringlichen Barriere des herzlosen Schleiers befinden muß.«

»Dabei bin ich eine freie Frau«, sagte das Mädchen ans Publikum gewandt, »und nicht einmal eine Sklavin.« Alles lachte. Sie trug jetzt nur noch ihren Sklavenkragen, der von einem durchsichtigen Tuch verhüllt wurde.

»Ah!« rief Boots.

»Ich sollte ihm nur einen ganz kurzen Blick erlauben«, sagte das Mädchen zum Publikum. »Sonst verliert er vor Verzückung noch die Sinne.«

Boots schlug sich auf die Schenkel.

»Stellt euch vor, was wäre, wenn er mich tatsächlich sehen könnte!«

»Meine Lady, laß mich wieder den Schleier halten«, sagte Boots. »Auch wenn er so gut wie nichts wiegt, müssen deine Arme doch langsam müde werden, und sei es nur durch ihre Haltung.«

»Vielen Dank, edler Kaufmann«, erwiderte sie. »Hast du ihn?«

»Aber natürlich«, antwortete Boots und tat so, als wäre er über die Frage erstaunt. Dann starrte er plötzlich entsetzt in Richtung Straße, riß den Schleier weg und stopfte ihn sich im Rücken hinter den Gürtel.

»Oh!« kreischte Brigella, kauerte sich zusammen und versuchte in mädchenhafter Bedrängnis, sich so gut wie möglich zu bedecken. »Was hast du da getan? Erklär es mir, sofort!«

»Ich fürchte, da nähern sich Straßenräuber«, sagte er und starrte mit wildem Blick die Straße entlang. »Sieh nicht hin! Sie dürfen den wunderbaren Schleier nicht entdecken! Sicher würden sie ihn mir rauben!«

»Aber ich bin nackt!« rief sie.

»Tu so, als wärst du eine Sklavin«, meinte Boots.

»Ich soll so tun, als wäre ich eine Sklavin?« keuchte sie entsetzt.

»Ja!«

»Aber ich weiß nicht, was man als Sklavin zu tun hat«, sagte Brigella, in völliger Unschuld ans Publikum gewandt.

Die Zuschauer lachten.

»Du weißt höchstens nichts darüber, wie es ist, eine freie Frau zu sein, du Schlampe«, sagte Lady Telitsia.

»Möchtest du lieber von den Räubern belästigt werden?« wandte sich Boots an das Mädchen. »Vermutlich wären sie ganz begeistert, eine freie Frau in Fesseln zu legen.«

»Nein!« schrie sie.

»Dann knie nieder, schnell, und den Kopf in den Staub!«

Brigella gehorchte aufstöhnend.

»So halten sie dich vielleicht für eine einfache Sklavin, nicht der Mühe wert, ihr eine Schlinge um den Hals zu legen und zur nächsten Auktion zu bringen; und mich für einen armen Kaufmann, der nichts Stehlenswertes hat. Da kommen sie. Es sind wilde Kerle.«

»Oh«, jammerte sie.

»Sieh nicht auf«, warnte er.

»Nein.«

»Nein und weiter, Sklavin?« fragte er streng.

»Nein, Herr.«

Gelächter ertönte. Er hatte sie dazu gebracht, nackt zu seinen Füßen zu knien und ihn als Herr anzusprechen. In der goreanischen Kultur ist das eine bedeutsame Angelegenheit. In einigen Städten ist das bereits die legale Voraussetzung für die Versklavung.

Das Gelächter wurde lauter, als Tarskstücks Lecchio und Chino in der Kleidung von Wissenden auf die Bühne kamen, etwas vor sich hinmurmelten, was wohl archaisches Goreanisch darstellen sollte, und einen Augenblick später die Bühne auf der anderen Seite wieder verließen.

»Das waren ja gar keine Räuber«, rief Brigella wütend und sah auf. »Das waren Wissende!«

»Es tut mir leid«, entschuldigte Boots sich. »Ich habe sie für Briganten gehalten.«

Das Mädchen sprang auf, wobei es sich wieder so gut wie möglich mit den Händen bedeckte. »Gib mir den Schleier zurück!«

»Aber du hast mir noch keinen Blick gestattet«, protestierte Boots.

»Oh!« fauchte sie empört.

»Überleg einmal, wie du dasteht«, sagte Boots. »Halb von mir abgewendet, zusammengekrümmt, die Beine so verdreht, Hände und Arme dort, wo sie nun sind, das erscheint mir nun wirklich nicht gerecht. Du wirst doch sicher begreifen, daß eine solche Haltung Hindernisse schafft, die einen vernünftigen Blick in Frage stellen.«

»Oh!«

»Es handelt sich um die einfache Angelegenheit eines im guten Willen abgeschlossenen Handels.«

»Sleen!« schrie sie.

»Vielleicht sollten wir die Angelegenheit einem Praetor vortragen und ein Urteil erwirken«, schlug Boots vor.

»Du Sleen!«

»Ich sehe, ich muß gehen.«

»Nein!« rief sie. »Ich muß diesen wunderbaren Schleier haben!«

»Nicht ohne Blick«, sagte Boots.

»Also gut. Was muß ich tun, damit du deinen Blick bekommst?«

»Leg dich auf den Rücken«, sagte er. »Winkle das rechte Knie an, leg die Hände an die Seiten, etwa zwanzig Zentimeter von den Oberschenkeln entfernt, die Handflächen nach oben gedreht.« Er betrachtete sie. »Nein, das ist es noch nicht. Setz dich auf, stütz dich mit den Händen ab und sieh über die Schulter. Nicht schlecht. Aber ich bin mir noch immer nicht sicher. Knie dich jetzt hin, halt dich gerade, leg den Kopf in den Nacken, verschränk die Hände hinter dem Kopf. Das könnte es sein.«

»Ich hoffe!«

»Nein, das ist noch nicht ganz.«

»Oh!« rief sie bestürzt.

»Manchmal muß man hart arbeiten und proben, um den richtigen Blick zu finden«, verkündete Boots.

»Offensichtlich.«

In der Folge schien Boots der Erfolg immer gerade so eben verwehrt zu bleiben, und er fuhr unerschrocken fort, nach dem richtigen Blick zu suchen. Dabei bekam das Publikum Brigellas Anatomie ausführlich zu Gesicht.

Sie war unglaublich schön. Die Zuschauer stießen Begeisterungsrufe aus; einige von ihnen schlugen sich auf die Schenkel.

»Das ist widerwärtig!« rief Lady Telitsia.

»Du bist es, die widerwärtig ist«, sagte einer der Männer neben ihr.

»Ich?«

»Ja, du!«

Die Lady wandte sich ab.

»Sieh!« rief Boots plötzlich. »Da kommt jemand!«

»Du wirst mich nicht zweimal hereinlegen, du Schurke«, rief Brigella auf Knien.

»Ich glaube, es ist eine Frau.«

»Was?« Sie drehte sich um, wollte sich erheben und ging dann ratlos und entsetzt wieder in die Knie. Sie starrte Boots an. »Das ist Lady Tipa, meine Rivalin aus dem Dorf. Sie darf mich nicht so sehen. Was soll ich nur tun?«

»Schnell!« rief Boots. »Komm her, kriech unter mein Gewand.«

Das Mädchen wußte keinen anderen Ausweg, als das Angebot anzunehmen. Einen Augenblick später war sie unter seinem Gewand verschwunden, nur die Waden und Füße schauten unter dem Saum hervor.

»Wie ich sehe, weißt du, wie man eine Sklavin behandeln muß«, sagte Lady Tipa, die von Boots’ Bina dargestellt wurde, sonst üblicherweise Gefährtin und Vertraute der Brigella.

»Vielen Dank, meine Lady«, erwiderte Boots.

»Ich habe sie beim Näherkommen nicht gut sehen können«, sagte Bina. »Ist sie hübsch?«

»Manche könnten sie für ganz ansehnlich halten«, sagte Boots. »Aber verglichen mit dir ist ihre Schönheit nicht mehr als die eines Urts im Vergleich zu der Lieblingssklavin eines Ubars.«

Das Mädchen unter Boots’ Gewand bebte vor Empörung, wagte es aber nicht, hervorzukommen.

»Was hat deine Sklavin denn?« fragte Bina.

»Sie brennt vor Leidenschaft.«

»Wie schwach Sklaven doch sind.«

»Ja.«

»Ich suche nach einem Mädchen aus meinem Dorf«, sagte Bina. »Zwei Reisende, meines Erachtens wohl Kaufleute, meinten, sie habe wohl diesen Weg hier genommen.«

»Kannst du sie beschreiben?« fragte Boots.

»Ihr Name ist Phoebe«, sagte Bina. »Trüge sie keinen Schleier, würdest du sie aufgrund meiner Beschreibung leicht erkennen, denn sie ist schrecklich häßlich.«

Das Gewand geriet wieder in Bewegung.

»Vielleicht hast du sie trotzdem erkannt. Sie ist zu klein, hat zu breite Hüften und fette Knöchel.«

Der Stoff beulte sich wild aus.

»Was hat deine Sklavin denn, und was tut sie überhaupt da unten?« fragte Bina.

»Sie hat so mitleiderregend darum gebettelt, mir den Sklavenkuß zu geben, daß ich in meiner Schwäche ihrem Drängen nachgegeben habe«, erklärte Boots.

Die Bewegungen unter dem Gewand nahmen an Heftigkeit zu.

»Wie verständig du doch bist«, sagte Bina.

»Vielen Dank«, erwiderte Boots.

Ein wütender Protestschrei ertönte, den der Stoff des Gewandes dämpfte.

»Hat sie etwas gesagt?« fragte Bina.

»Sie fleht mich um die Erlaubnis an, endlich beginnen zu dürfen«, sagte Boots,

Das Gewand erzitterte.

»Offensichtlich ist mit ihr etwas nicht in Ordnung«, meinte Bina.

»Es liegt nur daran, daß sie vor Begierde zittert.«

»Auch wenn sie nur eine Sklavin ist, so ist sie doch eine Frau wie ich auch. Behandle sie gut. Erlaube, daß sie dich erfreut.«

»Wie verständnisvoll du bist, Lady Tipa«, staunte Boots. »Du darfst anfangen«, sagte er zu der verborgenen Brigella.

Das Gewand geriet wieder in heftige – diesmal verneinende – Bewegung.

»Was ist los?« fragte Bina.

»Sie ist schüchtern«, erklärte Boots.

»Aber sie braucht doch meinetwegen nicht schüchtern zu sein«, meinte Bina. »Sie soll anfangen.«

»Fang an«, befahl Boots,

Wieder schien unter dem Gewand alles in Bewegung zu geraten.

Boots schlug einmal mit gedämpfter Kraft zu. Sofort kniete sich das Mädchen gehorsam hin. »Du faule Sklavin«, tadelte Boots. Ihre Zehenspitzen, die unter dem Saum hervorragten, trommelten in hilfloser Wut auf den Boden. »Ich sehe schon kommen, daß ich dich dort unten hervorholen und bestrafen muß«, sagte Boots.

»Sieh nur!« rief Bina. »Sie fängt an!«

»O ja, sie fängt tatsächlich an«, bestätigte Boots. »O ja!«

»Wie aufregend!« rief Bina.

»Allerdings!« stieß Boots hervor. »O ja! Ah! Ja, ja, ja! O ja!« Boots wischte sich die Stirn ab.

»Ist sie weg?« fragte Brigella ein paar Augenblicke später.

»Ja«, sagte Boots.

Brigella kroch auf allen vieren unter dem Gewand von Boots Tarskstück hervor und drehte sich um.

»Tipa!« schrie sie voller Entsetzen.

»Ich dachte, sie sei schon weg«, meinte Boots unschuldig.

»Phoebe!« rief Bina.

»Tipa!« stöhnte Brigella jammervoll.

»Phoebe!« rief Bina erfreut.

»Tipa!« flehte Brigella.

»Phoebe auf den Knien, nackt wie eine Sklavin, auf einer Landstraße, wie sie unter dem Gewand eines Mannes hervorkriecht!« lachte Bina und zeigte verächtlich auf Brigella. »Wie peinlich, wie unglaublich, wie wunderbar!«

»Bitte, Tipa!« flehte Brigella.

»Du gehörst zu den Mädchen, denen man schon in frühesten Jugend einen Sklavenkragen hätte anlegen sollen«, sagte Bina. »Du bist schon immer eine Sklavin gewesen.«

»Ich bin eine freie Frau«, schluchzte Brigella.

»Sklavin, Sklavin, Sklavin«, lachte Bina. »Diese Geschichte wird sich in Windeseile im Dorf herumsprechen«, lachte sie und eilte von der Bühne.

»Ich bin entstellt«, schluchzte Brigella und stand händeringend auf. »Ich könnte es nicht ertragen, ins Dorf zurückzukehren, außerdem würden sie mich in Ketten legen und verkaufen.«

»Vielleicht auch nicht«, sagte Boots tröstend.

»Glaubst du das wirklich, Kaufmann?«

»Vielleicht nehmen sie auch einen Strick.«

»Oohh!« jammerte sie. »Wo kann ich denn hin? Was soll ich tun?«

»Nun«, sagte Boots. »Ich muß weiter.«

»Aber was soll ich tun?« flehte Brigella.

»Laß dich nicht von einem Sleen fressen«, riet Boots. »Es wird allmählich dunkel.«

»Wo sind meine Kleider?« flehte sie.

»Ich kann sie nirgends entdecken. Der Wind muß sie fortgeweht haben.«

»Nimm mich mit!« bettelte Brigella.

»Wenn du auf die Knie gehst und mich um den Kragen bittest…«

»Ich bin eine freie Frau!« rief sie empört.

»Viel Glück bei den Sleen.«

»Nehmt mich als Reisebegleiterin mit«, drängte sie ihn.

»Und was willst du tun, um mich dafür zu bezahlen?«

»Ich könnte dir einmal am Tag einen Kuß auf die Wange geben«, sagte sie. »Sicher wirst du von einer freien Frau nicht mehr erwarten.«

»Viel Glück mit den Sleen«, erwiderte er.

»Geh nicht!« bettelte sie. »Ich bin sogar dazu bereit, eine freie Gefährtenschaft mit dir einzugehen!«

Boots taumelte zurück, als wäre er überwältigt. »Es fiele mir im Traum nicht ein, ein solches Opfer von dir anzunehmen!«

»Ich werde es tun! Bestimmt!«

»Wie dem auch sei, du kannst doch nicht im Ernst von mir erwarten, eine freie Gefährtenschaft mit dir einzugehen.«

»Warum denn nicht?« fragte sie verblüfft.

»Eine nackte Frau«, gab er zu bedenken, »die am Rand der Landstraße steht.«

»Oh!« rief sie verzweifelt aus.

»Hast du eine ordentliche Mitgift? Eine große Garderobe, Reichtum? Ist deine Familie einflußreich?«

»Nein«, sagte sie.

»Und wenn du in dein Dorf zurückkehren würdest, fändest du nichts als den Kragen und die Reise in einem Sack zum nächsten Sklavenmarkt.«

»Weh mir!« klagte sie.

»Ich glaube, du bist doch eine Sklavin.«

»Nein!«

»Ich glaube, du hast in Wirklichkeit den erstaunlichen Schleier gar nicht gesehen.«

»Doch, ich habe ihn gesehen!«

»Wie war die Farbe?« fragte er in scharfem Tonfall.

»Gelb.«

»Nein.«

»Rot!«

»Nein.«

»Blau, Rosarot, Orange, Grün!« schluchzte sie.

»Offensichtlich bist du doch eine Sklavin«, sagte Boots. »Du hättest nicht versuchen sollen, dich als freie Frau zu maskieren. Darauf stehen strenge Strafen.«

Sie legte schluchzend das Gesicht in die Hände.

»Vielleicht sollte ich dich den Magistraten übergeben«, sagte er.

»Bitte nicht!«

»Es gibt noch eine Möglichkeit«, sagte er und griff nach hinten, zu der Stelle, wo er beim Herannahen der angeblichen Räuber den Schleier versteckt hatte. »Also?« fragte er und stieß die Hände nach vorn. »In welcher Hand halte ich ihn?«

»Rechts!« schluchzte Brigella.

»Nein!«

»Dann links.«

»Nein, ich halte ihn in keiner Hand. Ich habe ihn im Gürtel stecken lassen!«

»Weh mir«, schluchzte sie wieder.

»Auf die Knie, Sklavin!« befahl er streng.

Sie gehorchte weinend.

»Sei nicht traurig, Mädchen«, sagte Boots. »Du bist viel zu schön, um eine freie Gefährtin zu sein.«

»Tatsächlich?« fragte sie.

»Ja.«

»Ist das dein Ernst?« fragte sie und lachte plötzlich.

»Ja«, sagte Boots und kämpfte darum, keine Miene zu verziehen.

»Gut!« lachte Brigella. »Wenn ich denn nun eine Sklavin sein soll, dann sei es! Aber Herr, wenn ich nun deine Sklavin bin, möchte ich auch den Schleier haben! Bitte gib ihn mir!«

»Meine Gutmütigkeit wird noch einmal mein Untergang sein!« sagte Boots und griff nach hinten. »Hier ist er, aber da du jetzt eine Sklavin bist, wirst du ihn nicht sehen können.«

»Ich will ganz ehrlich sein, Herr«, erwiderte Brigella, »denn da ich jetzt deine Sklavin bin, wage ich nicht länger zu lügen: ich konnte ihn schon vorher nicht sehen.«

»Nein!« rief Boots erstaunt. »Trotzdem sehnst du dich noch immer nach dem Schleier?«

»Ja, Herr.« Brigella wandte sich wieder dem Publikum zu. »Und so komme ich doch noch zu meinem Willen. Am Ende bin ich es, die den Sieg davonträgt. Welche Rolle spielt es da, daß ich jetzt eine Sklavin bin? Ich erhalte den wunderbaren Schleier!«

»Hier«, sagte Boots.

Sie griff, noch immer auf den Knien, begierig nach dem Schleier. Doch Boots riß im letzten Augenblick die Hand zurück.

»Ich vergaß, daß ich dir den Schleier nicht geben kann.«

»Aber warum denn nicht?« jammerte sie,

»Du bist eine Sklavin. Du darfst nichts besitzen.«

»Oh!« rief sie wütend aus.

»Und jetzt komm, nimm meinen Rucksack und folge mir.«

Brigella gehorchte. Sie stolperte unter dem Gewicht des Rucksacks und schloß sich Boots an, der die Bühne verließ. Da blieb sie noch einmal stehen und wandte sich ans Publikum. »Ich frage mich, ob ich hereingelegt wurde«, sagte sie. Dann wandte sie sich um und verließ die Bühne.

Einen Augenblick später erschien der lächelnde Boots wieder auf der Bühne; hinter ihm kamen Chino, Lecchio und Brigella. »Edle freie Frauen und edle Bürger im Publikum«, sagte Boots. »Die Spieler von Boots Tarskstück, dem großen Theaterdirektor, präsentierten das Stück ›Der magische Schleier von Anango‹! Wir danken euch für eure Beteiligung!« Es gab lautstarken Applaus. Boots und die Männer verneigten sich lächelnd immer wieder. Brigella kniete sich auf ein Zeichen von Boots auf die Bühne. Sie nahm ihren Applaus auf den Knien entgegen, denn schließlich war sie eine Sklavin.

»Bina!« rief Boots und machte ein Zeichen in Richtung Bühnenrand. Bina kam ebenfalls auf die Bühne, noch immer im Gewand der Lady Tipa. »Zieh diese absurden Kleider aus, die deine Schönheit verhüllen!« befahl Boots überschwenglich. Sie entfernte den Schleier, schlug die Kapuze zurück und schüttelte ihr dunkles Haar frei. Sie war eine attraktive kleine Sklavin, konnte Brigella in bezug auf Schönheit jedoch nicht das Wasser reichen.

»Komm schon«, sagte Boots, ihr Herr. Sie zog das Gewand über die Schulter und dann weiter zur Taille hinunter. Sie hatte wohlgeformte kleine Brüste. Um ihren Hals lag ein Stahlkragen. »Zieh dich ganz aus«, sagte Boots und zeigte auf das Gewand, das jetzt an ihren Hüften festhing. »Knie nieder.« Sie schob das Gewand hinunter und kniete neben Brigella nieder.

»Unsere kleine Bina!« verkündete Boots. »Vielen Dank, edle freie Frauen und Männer! Seid großzügig zu dem armen Boots und seiner Truppe!« Ein paar Münzen regneten auf die Bühne herab, hauptsächlich Kupfermünzen. Ich gab ein paar Tarnscheiben aus Kupfer. Ich besaß wesentlich mehr Geld, das sich aus meinem ursprünglichen Kapital und dem zusammensetzte, was ich mir in Lady Yaninas Lager angeeignet hatte, bevor ich ihre Gefangenen befreit und das Lager in Brand gesetzt hatte, aber ich wollte das wahre Gewicht meines Geldbeutels nicht auf dem Jahrmarkt zur Schau stellen. Es ist eine Sache, dies in einer Stadt zu tun, in der man mitsamt seiner finanziellen Verhältnisse wohlbekannt ist, aber eine ganz andere, an einem fremden Ort vor Fremden so zu handeln.

»Danke, edle Leute, großzügige Förderer der Kunst«, rief Boots. »Vielen Dank!« Chino und Lecchio sammelten die Münzen auf und gaben sie Boots, der sie in seinem Gewand verschwinden ließ, vermutlich im Saum oder einer verborgenen Tasche. Hier auf dem Jahrmarkt gingen die Mädchen nicht mit Kupferschalen durch die Menge, vermutlich deshalb, weil sie beide in dem Stück aufgetreten waren.

»Schuft!« rief Lady Telitsia.

»Ja, edle Dame?« sagte Boots und trat vor.

»Deine Stücke beleidigen alle freie Frauen!« rief sie. »Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie derartig beleidigt worden!«

»Hast du sie alle gesehen?« fragte Boots. »Es sind mehr als fünfzig.«

»Nein, ich habe sie nicht alle gesehen!«

»Ohne vollständiges Ensemble können wir sie natürlich nicht aufführen«, sagte Boots. »Ich bin zur Zeit knapp an Personal. Ich habe nicht einmal mehr eine schöne Kurtisane. Natürlich ist unser Repertoire ständigen Veränderungen unterworfen. Wir lassen uns neue Stücke einfallen, und manchmal halten wir es für angebracht, alte Stücke auszumustern, Stücke, die nicht länger gut zu sein scheinen oder die das Publikum nicht länger schätzt. Zuerst ist da die Idee, dann improvisiert man, und Vorstellung für Vorstellung entsteht ein neues Stück. Natürlich bleibt vieles für neue Ideen, ständige Verbesserungen, Improvisationen und so weiter offen. Man muß selbstverständlich auch immer dazu bereit sein, sich örtliche Eigenheiten zunutze zu machen, an kürzlichen Geschehnissen anzuknüpfen, der derzeitigen politischen Situation, populären oder bekannten Leuten, den Vorurteilen eines Distrikts. Örtliche Anspielungen sind immer beliebt. Natürlich können sie einen gelegentlich in Schwierigkeiten bringen. Man muß vorsichtig sein. Es wäre wenig angenehm, gepfählt zu werden. Du scheinst sehr klug zu sein. Vielleicht könntest du uns helfen.«

»Glaubst du ernsthaft, daß alle freie Frauen nicht viel besser als Sklavinnen sind?«

»Ich würde sagen, daß alle Frauen letztlich ziemlich gleich sind«, erwiderte Boots.

»Ich bin eine freie Frau«, sagte sie eisig.

»Vergib mir, meine Lady.«

»Ich werde noch vor Einbruch der Dunkelheit meine Beschwerde beim Magistrat vorgebracht haben, darauf kannst du dich verlassen«, sagte sie. »Außerdem werde ich veranlassen, daß du eine Strafe zahlen mußt und öffentlich ausgepeitscht wirst. Und wenn du das Gelände des Jahrmarkts nicht bis morgen abend verlassen hast, werde ich außerdem dafür sorgen, daß man deine Truppe auflöst und deine Wagen, deine Gewänder, deine Schlampen – eben alles konfisziert!«

»Du willst also meinen Ruin?« fragte Boots.

»Ja!«

»Vielen Dank, gnädige Lady.«

Sie drehte sich auf dem Absatz um, hob das Gewand ein Stück an, damit der Saum nicht durch den Staub schleifte, und ging.

»Es hat den Anschein, als wäre ich ruiniert«, sagte Boots Tarskstück zu mir.

«Vielleicht auch nicht«, erwiderte ich.

»Wie soll ich genug Geld aufbringen, um überhaupt den Jahrmarkt verlassen zu können?« fragte er.

»Verkauf mich, Herr«, sagte Brigella, die noch immer auf der Bühne kniete. Fünf oder sechs Männer standen vor ihr und starrten sie hingerissen an.

»Was wird geboten?« fragte Boots resigniert.

»Zwei Silbertarsk«, sagte ein Mann.

»Zwei?« wiederholte Boots angenehm überrascht.

Das Mädchen stieß einen leisen Freudenschrei aus. Das war ein hoher Preis für eine Frau.

Augenblicke später hatte Brigella in Ketten die Bühne verlassen und eilte begierig ihrem neuen Herrn hinterher, einem breitschultrigen blonden Mann. Sie war für fünf Silbertarsk verkauft worden.

»Ein großartiger Erlös«, gratulierte ich Boots.

Er stand da, ihren Kragen in der Hand. »Ich bin ruiniert«, sagte er mürrisch. »Was soll ich ohne Brigella machen?«

»Davon verstehe ich nichts«, sagte ich. »Aber ich glaube, bei einem anderen deiner Probleme könnte ich dir helfen.«

»Kenne ich dich von irgendwoher?« fragte Boots.

»Wir haben uns vor ein paar Tagen in Port Kar kennengelernt.«

»Ja«, sagte er. »Der Karneval! Aber natürlich! Du bist ein Kapitän, nicht wahr?«

»Manchmal mag das schon zutreffen.«

»Was willst du von mir?« fragte Boots mißtrauisch,

»Keine Angst.« Ich lächelte. »Ich habe keinen Auftrag, dich zu verfolgen, ich treibe auch keine Schulden ein.«

»Ich fürchte«, sagte Boots, »ich stehe tatsächlich in deiner Schuld, und zwar was die fünf Silbertarsk angeht, die du in Port Kar für mich bezahlt hast. Hier sind sie.« Er streckte die Hand mit den fünf Silbertarsk aus, die er eben für Brigella bekommen hatte.

»Es waren sechs, nicht fünf.«

»Oh.«

»Falls ich etwas damit zu tun hatte – das heißt nicht, daß ich es zugebe –, so laß uns einfach von der Annahme ausgehen, daß sie in der Kupferschale lagen. Wie die Münzen, die du nach deinen üblichen Auftritten einsammelst.«

»Aber sechs Silbertarsk!«

»Sieh sie doch einfach als eine großzügige Spende für die Künste an, wenn dir das leichter fällt.«

»Dann nehme ich sie im Namen der Kunst an.«

»Gut.«

»Du hast ja keine Vorstellung, wie diese Übereinkunft die Gewissensqualen mildert, die mich sonst gepeinigt hätten«, sagte Boots.

»Davon bin ich überzeugt.«

»Übrigens«, fragte er dann, »hat dir die Vorstellung gefallen?«

»Ja.«

»Ich frage mich, ob du daran gedacht hast, deiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen«, fuhr der Theaterdirektor eher kleinlaut fort.

»Das habe ich.«

»Es war eine ausgezeichnete Vorstellung.«

»Hier ist noch ein Kupfertarsk. Das sind dann drei.«

»Ich danke dir«, sagte er artig.

»Keine Ursache«, erwiderte ich und sah zu, wie die Münze irgendwo in seinem Gewand verschwand.

»Nun, wenn ich mich recht erinnere, sagtest du etwas darüber, daß du mir bei der Lösung eines Problems behilflich sein könntest.«

»Richtig«, erwiderte ich. »Wie ich schon sagte, werde ich dir wohl nicht bei deinem Problem mit der fehlenden Brigella helfen können, aber ich weiß, wo du eine ideale Verkörperung der schönen Kurtisane findest.«

»Eine Sklavin?« fragte Boots sofort.

»Selbstverständlich.«

»Kann sie schauspielern?«

»Das weiß ich nicht«, mußte ich zugeben.

»Meine Mädchen müssen auch als Zeltmädchen arbeiten.«

»Was ihre Talente als Zeltmädchen angeht, da habe ich keinen Zweifel«, sagte ich.

»Du mußt wissen, meine Mädchen sind keine gewöhnlichen Mädchen. Sie müssen außerordentlich vielseitig sein.«

»Sie ist blond und üppig gebaut.«

»Das könnte angehen.«

»Und was die Schauspielkunst angeht, so könntest du ihr alles beibringen.«

»Das stimmt allerdings«, meinte Boots. »Glücklicherweise bin ich ein ausgezeichneter Lehrer. Wo finde ich sie?«

»Sie steht hier auf dem Jahrmarkt zum Verkauf«, sagte ich lächelnd.

»Das hier ist der Jahrmarkt von En’Kara«, erwidert er. »Hier stehen Tausende von Mädchen zum Verkauf, die von Hunderten von Besitzern angeboten werden.«

»Ich weiß, auf welcher Auktion sie auf ihren Käufer wartet.«

»Vielleicht wärst du so nett und ließest mich an diesem Wissen teilhaben«, meinte Boots.

»Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß du Probleme hättest, sie zu finden, da du den Jahrmarkt doch morgen abend verlassen willst.«

»Besonders«, fuhr Boots fort, »wenn wir versuchen, bis dahin noch eine oder zwei Vorstellungen auf die Bühne zu bringen.«

»Genau.«

»Was willst du?« fragte Boots.

»Du folgst auf deinen Reisen doch sicher einer gewissen Route, oder nicht?« fragte ich.

»Manchmal schon«, antwortete Boots mißtrauisch. »Manchmal auch nicht. Warum?«

»Du hast doch sicherlich schon einen Plan, was die nächsten paar Monate angeht.«

»Inwiefern?«

»Du weißt, welchen Dörfern und Städten du einen Besuch abstatten willst«, mutmaßte ich.

»Vielleicht.«

»Ich bin besonders an einer Stadt interessiert«, sagte ich. »Einer Hafenstadt an der Küste des Thassa, südlich des Voskdeltas.«

»Ja?«

»Brundisium…«

»Das ist ein treuer Verbündeter von Ar«, sagte er. »Dort wollen wir Ende des Sommers Halt machen.«

»Gut«, sagte ich.

»Warum?«

»Ich möchte Mitglied deiner Theatertruppe werden.«

»Was könntest du tun?«

»Alles mögliche, die schweren Arbeiten.«

»In Brundisium wird sehr auf die Sicherheit geachtet«, sagte er. »Aus irgendeinem Grund ist man in den letzten beiden Jahren sehr mißtrauisch geworden, was Fremde angeht. Es ist schwierig, in die Stadt hineinzukommen, sieht man einmal von dem abgeschlossenen Hafenbezirk und den Handelsplätzen ab.«

»Eine Truppe wie die deine könnte es jedoch schaffen«, spekulierte ich.

»Wir haben auf dem Platz in der Stadtmitte gespielt«, gab er zu. »Einmal sogar auf dem Hof des Palastes.«

»Nimm mich in deine Truppe auf«, bat ich ihn.

»Du bist bloß daran interessiert, dich nach Brundisium einzuschleichen«, sagte er.

»Vielleicht.«

»Wo kann ich die Frau finden, die deiner Meinung nach die Rolle der schönen Kurtisane spielen könnte?«

»Sie befindet sich bei den hundert neuen Sklavinnen des Samos aus Port Kar«, sagte ich. »Sie ist auf der Plattform Sh-27 im südwestlichen Teil des Pavillons der Schönheit angekettet.«

»Hat sie einen Namen?«

»Vermutlich nicht«, erwiderte ich. »Aber im Haus von Samos hatte sie zumindest einen Hausnamen; man rief sie Rowena.«

»Vielen Dank«, sagte Boots. »Du warst sehr hilfreich.«

»Und was ist mit meinem Vorschlag?«

»Welchem Vorschlag?«

»Mitglied bei deiner Theatertruppe zu werden.«

»Ach das?«

Ich nickte.

»Das kommt überhaupt nicht in Frage.«

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