7. Kindererziehung auf dem Mars

Nach dem Frühstück, das sich nicht im geringsten von der Mahlzeit am Vortage unterschied und genauso verlief wie jedes Essen während meines Verbleibs bei den grünen Marsmenschen, führte mich Sola zu dem Platz, auf dem sich die gesamte Gemeinschaft versammelt hatte und dabei zuschaute oder half, riesige, elefantenartige Tiere vor dreirädrige Karossen zu spannen. Davon gab es etwa zweihundertundfünfzig, und jede wurde von einem einzelnen Tier gezogen, obwohl ein jedes dem Aussehen nach die ganze Reihe voll beladener Fuhrwerke mühelos hätte allein bewegen können.

Die Karossen selbst waren geräumig und prächtig ausgestattet. In jeder saß eine weibliche Marsbewohnerin, geschmückt mit Geschmeide, Juwelen, Seidentüchern und Pelzen. Auf dem Rücken jedes Zugtieres saß ein junger Treiber. Gleich den Reittieren der Krieger trugen auch die schwereren Tiere weder Zaum noch Zügel, sondern wurden allein durch Willensübertragung geführt.

Diese Fähigkeit ist bei allen Marsbewohnern erstaunlich entwickelt, sie erklärt weitestgehend auch die Einfachheit ihrer Sprache und begründet, warum sogar im Verlaufe langer Unterhaltungen relativ wenige Worte gewechselt werden. Es ist die Universalsprache des Mars, durch dieses Medium vermögen die höherentwickelten Lebewesen dieser paradoxen Welt mit den weniger entwickelten einigermaßen zu kommunizieren –, inwieweit, hängt von den intellektuellen Fähigkeiten der Spezies und der Entwicklung des Einzelnen ab.

Als sich der Reiterzug in Marsch setzte, zog mich Sola in eine leere Kutsche, und wir begaben uns mit dem Zug dorthin, wo ich am Vortage in die Stadt eingeritten war. Die Spitze der Karawane bildeten etwa zweihundert Krieger, jeweils fünf nebeneinander, hinter uns noch einmal so viele, während sich je fünfundzwanzig oder dreißig Begleiter seitlich von uns hielten.

Alle außer mir – Männer, Frauen und Kinder – waren schwer bewaffnet. Hinter jeder Kutsche trottete ein Marshund, und auch meiner blieb dicht hinter mir. Während der folgenden zehn Jahre, die ich auf dem Mars verbrachte, verließ diese treue Kreatur mich eigentlich nie von sich aus. Der Weg führte durch das kleine Tal vor der Stadt, über die Hügel und hinab auf den Grund des toten Meeres, den ich auf dem Weg von der Brutstation zum Platz bereits durchquert hatte. Die Brutstation erwies sich dann auch als das Reiseziel des heutigen Tages, und da wir bei Erreichen des flachen Meeresgrundes in einen wilden Galopp ausbrachen, lag unser Ziel bald in Sichtweite.

Dort angelangt, hielten die Kutschen mit militärischer Genauigkeit neben den vier Seiten der Eingrenzung, und etwa zehn Krieger, darunter auch Tars Tarkas und einige niedere Befehlshaber, allen voran der riesige Anführer, saßen ab und näherten sich der Außenmauer. Ich konnte sehen, wie Tars Tarkas dem Oberbefehlshaber etwas erklärte, dessen Name übrigens, soweit ich es ins Englische übertragen kann, Lorquas Ptomel Jed lautete, wobei ›Jed‹ den Titel bezeichnete.

Bald erfuhr ich auch den Gegenstand des Gespräches, denn Tars Tarkas rief Sola zu, sie solle mich zu ihm zu bringen. Da ich mich inzwischen den Schwierigkeiten der Fortbewegung auf dem Mars angepaßt hatte, begab ich mich befehlsgemäß rasch zur anderen Seite der Brutstation, wo die Krieger standen.

Dort angelangt, zeigte mir ein Blick, daß die Jungen bis auf wenige Ausnahmen bereits geschlüpft waren und es auf der Brutstation von den häßlichen, kleinen Teufeln nur so wimmelte. Sie waren drei bis vier Fuß groß und bewegten sich innerhalb der Mauern ruhelos hin und her, als suchten sie nach Nahrung.

Tars Tarkas wies auf die Brutstation und sagte zu mir: ›Sak‹. Ich verstand, daß er wünschte, ich solle die gestrige Vorstellung vor Lorquas Ptomel wiederholen, und da mir mein außergewöhnliches Können zugegebenermaßen nicht wenig Befriedigung verschaffte, reagierte ich schnell und sprang bis über die Kutschen auf der gegenüberliegenden Seite der Eingrenzung. Als ich zurückkehrte, grunzte Lorquas Ptomel mir etwas zu, wandte sich an seine Krieger und gab ihnen einige Befehle hinsichtlich der Brutstation. Sie achteten nicht weiter auf mich, und so konnte ich in der Nähe bleiben und verfolgen, wie sie eine Öffnung in die Wand brachen, die groß genug war, um die jungen Marsmenschen herauszulassen.

Vor dem Loch bildeten die Frauen und Jugendlichen eine ziemlich weit ins Flachland reichende Gasse zu den Kutschen. Die Kleinen sprangen darin wie Rehe umher. Man ließ sie bis zum Ende des Ganges laufen, wo sie einer nach dem anderen von den Frauen und älteren Kindern eingefangen wurden. Der letzte in der Reihe griff sich den ersten Ankömmling, sein Gegenüber den zweiten, und so ging es weiter, bis alle die Brutstation verlassen hatten und von einem Jugendlichen oder einer Frau in Gewahrsam genommen worden waren. Hatte eine Frau einen Kleinen eingefangen, kehrte sie mit ihm zu ihrer Kutsche zurück, während die Jugendlichen den eingefangenen Wicht später einer der Frauen übergaben.

Ich sah, daß die Zeremonie vorbei war, falls man sie so umschreiben konnte, und machte Sola in unserer Kutsche ausfindig, die eine der entsetzlichen kleinen Kreaturen fest in den Armen hielt.

Die Erziehung der jungen, grünen Marsmenschen besteht lediglich darin, ihnen die Sprache sowie die Handhabung der Kriegsausrüstung beizubringen, mit der sie von klein auf überhäuft werden. Nach einer Brutzeit von fünf Jahren schlüpfen sie aus den Eiern und kommen, abgesehen von der Größe, voll entwickelt zur Welt. Sie sind die Kinder der Gemeinschaft, den leiblichen Müttern völlig unbekannt, die ihrerseits Schwierigkeiten hätten, auch nur annähernd zu sagen, wer ihre Väter sind. Die Erziehung wird der jeweiligen Frau überlassen, die sie gleich nach Verlassen der Brutstation einfängt.

Unter Umständen haben ihre Pflegemütter nicht einmal ein Ei in die Brutstation gelegt, wie es bei Sola der Fall war, die noch nicht zu legen begonnen hatte und erst vor einem knappen Jahr den Nachkommen einer anderen Frau aufgezogen hatte. Aber das zählt bei den grünen Marsmenschen wenig, denn Liebe zwischen Eltern und Kind ist ihnen ebenso unbekannt wie uns selbstverständlich. Ich sehe in diesem schrecklichen System, das seit Jahrhunderten existiert, den eigentlichen Grund für das Fehlen aller edleren Gefühle und aller höheren menschlichen Instinkte bei diesen armen Kreaturen. Von Geburt an wissen sie nichts von Vater- oder Mutterliebe, sie kennen nicht die Bedeutung des Wortes Zuhause, man lehrt sie, daß sie nur solange geduldet werden, bis sie durch ihre äußere Erscheinung und ihre Gewalttätigkeit beweisen, daß sie lebensfähig sind. Sollten sie sich in irgendeiner Form als verunstaltet oder unvollkommen erweisen, werden sie unverzüglich erschossen. Auch hegen sie kein Bedauern auch nur für eine der vielen Grausamkeiten, die ihnen von frühester Kindheit an angetan werden.

Ich meine damit nicht, daß die Erwachsenen auf dem Mars jungen Menschen gegenüber unnötigerweise oder absichtlich grausam sind, aber sie führen einen harten und erbarmungslosen Existenzkampf auf einem sterbenden Planeten, dessen natürliche Rohstoffe soweit abgenommen haben, daß die Erhaltung eines jeden zusätzlichen Lebens eine weitere Belastung für die jeweilige Gemeinschaft bedeutet.

Durch sorgfältige Auswahl ziehen sie nur die widerstandsfähigsten Exemplare jeder Gattung auf und regulieren mit fast übernatürlicher Voraussicht die Geburtenrate so, daß lediglich die Sterbefälle ausgeglichen werden. Jede erwachsene Frau auf dem Mars legt jährlich ungefähr dreizehn Eier, und alle, die einer bestimmten Größe und Gewicht entsprechen, werden in den Tiefen eines unterirdischen Gewölbes versteckt, wo die Temperatur zum Ausbrüten zu niedrig ist. Jedes Jahr untersucht ein Rat von zwanzig Anführern diese Eier sorgfältig, und von jeder jährlichen Ausbeute werden bis auf etwa einhundert der besten Eier alle anderen zerstört. Nach fünf Jahren sind vielleicht fünfhundert Eier von den Tausenden übriggeblieben. Diese werden in die fast luftdichten Brutstationen gebracht, wo sie im Verlaufe weiterer fünf Jahre von den Sonnenstrahlen ausgebrütet werden. Das Schlüpfen, wie wir es heute verfolgten, verlief in der üblichen Weise. Bis auf ein Prozent der Jungen schlüpfen alle innerhalb von zwei Tagen. Sollten aus den zurückgelassenen Eiern noch welche herausgekrochen sein, so erfuhren wir nie etwas von ihrem Schicksal. Sie waren ungewollt, da ihre Nachkommen die Tendenz zu verlängertem Ausbrüten vererben und so das System durcheinanderbringen würden, das jahrhundertelang funktioniert hatte und es den erwachsenen Marsmenschen erlaubte, auf die Stunde genau den richtigen Zeitpunkt zu errechnen, zu dem sie zu den Brutstationen zurückkehren mußten.

Die Brutstationen befanden sich in entlegenen Gebieten, wo nur wenig oder gar keine Wahrscheinlichkeit bestand, daß andere Stämme sie entdeckten. Ein solcher Fall hätte eine Katastrophe bedeutet, denn innerhalb der nächsten fünf Jahre gäbe es dann keine Kinder. Später sollte ich miterleben, welche Folgen es hatte, wenn Fremde auf einen solchen Inkubator stießen.

In dieser Gemeinschaft grüner Marsmenschen, wohin mich mein Schicksal verschlagen hatte, lebten etwa dreißigtausend Seelen. Sie bevölkerten ein riesiges Gebiet unfruchtbaren und öden Landes auf der südlichen Halbkugel, hauptsächlich den südwestlichen Teil nahe der Kreuzung zweier so genannter Marskanäle.

Da die Brutstation weit nördlich von dem eigenen Territorium in einem offenbar unbewohnten und wenig besuchten Gebiet errichtet worden war, stand uns eine gewaltige Reise bevor, von der ich natürlich nichts wissen konnte.

Wieder in der toten Stadt angelangt, verbrachte ich einige Tage in verhältnismäßigem Müßiggang. Am Tag nach unserer Rückkehr ritten alle Krieger früh am Morgen fort und kehrten erst kurz vor Einbruch der Dunkelheit zurück. Später erfuhr ich, daß sie sich zu den unterirdischen Höhlen begeben hatten, in denen die Eier gelagert wurden. Diese hatten sie nun zur Brutstation gebracht, dabei die Mauern erneuert und würden die Station aller Wahrscheinlichkeit nach während der nächsten fünf Jahre nicht wieder besuchen.

Die Gewölbe, in denen die Eier bis dahin lagerten, befanden sich viele Meilen südlich des Inkubators, wo ihnen der Rat der zwanzig Befehlshaber alljährlich einen Besuch abstattete. Warum sie die Höhlen und Brutstationen nicht näher bei ihrem Zuhause errichteten, blieb mir immer ein Rätsel, das wie viele andere Rätsel auf dem Mars ungelöst bleiben sollte, da es unserem irdischen Vorstellungsvermögen und unseren Gewohnheiten widersprach.

Nun hatten sich Solas Pflichten verdoppelt, denn sie mußte sich ebenso um den jungen Marsmenschen kümmern wie um mich, indes nahm keiner von uns viel Aufmerksamkeit in Anspruch, und da wir beide hinsichtlich unserer Fähigkeiten auf dem gleichen Stand waren, unterrichtete uns Sola zusammen.

Sie hatte ein Männchen erbeutet, ungefähr vier Fuß groß, sehr stark und von vollkommenem Körperbau. Es lernte schnell, und zumindest ich fand beträchtliches Vergnügen an dem Wettstreit mit ihm. Wie schon gesagt, ist die Sprache der Marsmenschen sehr einfach, und innerhalb einer Woche konnte ich meine Wünsche äußern und verstand selbst fast alles, was man mir mitteilte. Ähnlich entwickelte ich unter Solas Anleitung meine telepathischen Fähigkeiten, so daß ich bald darauf beinahe alles wahrnahm, was um mich herum vor sich ging.

Sola zeigte sich besonders überrascht, daß niemand auch nur das geringste von meinen Gedanken lesen konnte, während ich die Informationen anderer mühelos aufnehmen konnte, auch wenn sie oft nicht an mich gerichtet waren. Zuerst erschien mir das lästig, später war ich darüber sehr froh, da es mir einen unzweifelhaften Vorteil über die Marsmenschen verschaffte.

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