27. Aus der Glückseligkeit in den Tod

Zehn Tage wurden die Horden der Thark und ihre wilden Verbündeten gefeiert und bewirtet, dann machten sie sich mit wertvollen Geschenken beladen in Begleitung von zehntausend Soldaten aus Helium unter Mors Kajaks Befehl auf den Rückweg in ihre Heimat. Der Jed von Kleinhelium und eine kleine Gruppe von Edelleuten geleiteten sie bis nach Thark, um die neugeknüpften Bande des Friedens und der Freundschaft weiter zu festigen.

Sola begleitete Tars Tarkas, ihren Vater, der sich vor allen Befehlshabern zu seiner Tochter bekannt hatte.

Drei Wochen später kehrten Mors Kajak und seine Offiziere in Begleitung von Tars Tarkas und Sola auf einem Schlachtschiff, das nach Thark gesandt worden war, zurück, um sie rechtzeitig zu den Feierlichkeiten, die Dejah Thoris und John Carter vereinigen sollte, zu holen.

Neun Jahre stand ich als Prinz des Hofes von Tardos Mors in den Diensten der Räte von Helium und seiner Armeen. Die Menschen wurden ihrer Ehrenbekundungen für mich niemals müde, und es verging kein Tag, an dem sie nicht einen neuen Beweis ihrer Zuneigung für meine Prinzessin, die unvergleichliche Dejah Thoris, erbrachten.

In einer goldenen Brutstation auf dem Dach des Palastes lag ein schneeweißes Ei. Fast fünf Jahre hielten rund um die Uhr zehn Soldaten aus der Garde des Jeddaks daneben Wache, und wenn ich in der Stadt war, verging kein Tag, an dem Dejah Thoris und ich nicht Hand in Hand vor unserem kleinen Heiligtum standen und Pläne für die Zeit schmiedeten, wenn die empfindliche Schale zerbrechen würde.

Noch sehr lebhaft habe ich die letzte Nacht vor Augen, als wir zusammen saßen und uns leise über die seltsamen Abenteuer unterhielten, die unser beider Leben miteinander verbunden hatten, und über das kommende freudige Ereignis, das unser Glück vergrößern und mit dem sich unsere Hoffnungen erfüllen würden.

In der Feme sahen wir die grellen Lichter eines nahenden Luftschiffes, doch schenkten wir einem solch alltäglichen Anblick keine besondere Beachtung. Blitzschnell raste es auf Helium zu, und lediglich die Geschwindigkeit verriet, daß etwas Ungewöhnliches vorgefallen war. Es hißte die Flaggen eines Eilboten für den Jeddak und zog ungeduldige Kreise, während es auf das säumige Patrouillenboot wartete, das es zu den Anlegeplätzen des Palastes geleiten sollte.

Zehn Minuten nach seiner Ankunft wurde ich in den Ratssaal gerufen, der sich bei meinem Eintreffen gerade zu füllen begann.

Auf dem Podest sah ich Tardos Mors, wie er mit angespannter Miene vor dem Thron auf und ab ging. Als alle Mitglieder ihre Plätze eingenommen hatten, wandte er sich an uns und sagte: »An diesem Morgen wurden die Regierungen von Barsoom informiert, daß der Verwalter der Atmosphärenfabrik seit zwei Tagen keinen Bericht mehr gesendet hat. Auch erhielt keine der zwanzig Hauptstädte ein Antwortzeichen auf ihre fast unablässigen Anrufe.

Die Abgesandten der anderen Völker baten uns, diese Angelegenheit in die Hand zu nehmen und schnellstens den Gehilfen zur Fabrik zu schicken. Den ganzen Tag haben Tausende von Kreuzern nach ihm gesucht, und soeben kehrte eines von ihnen mit seinem Leichnam zurück, der, von unbekannter Hand aufs schrecklichste verstümmelt, in den Gruben neben seinem Haus aufgefunden wurde. Ich brauche den Anwesenden nicht zu erklären, was das für Barsoom bedeutet. Man braucht Monate, um sich durch die dicken Mauern zu arbeiten, wobei wir mit der Arbeit schon begonnen haben. Eigentlich bestünde wenig Anlaß zur Besorgnis, wenn die Pumpen wie schon seit Jahrhunderten ordnungsgemäß liefen, doch wir fürchten, daß das Schlimmste bereits eingetreten ist. Die Instrumente zeigen einen rapide abfallenden Luftdruck auf ganz Barsoom – die Anlage steht still. Meine Herren, wir haben bestenfalls noch drei Tage zu leben«, schloß er.

Einige Minuten herrschte Totenstille, dann stand ein junger Edelmann auf und wandte sich mit hoch über dem Kopf erhobenem Schwert an Tardos Mors.

»Die Bewohner von Helium waren für Barsoom immer ein Beispiel, wie eine Nation der roten Menschen leben sollte. Nun ist die Gelegenheit gekommen, ihnen zu zeigen, wie man seinem Tode entgegentritt. Laßt uns weiter unseren Pflichten nachgehen, als lägen noch tausend wertvolle Jahre vor uns.«

Der ganze Saal brach in Beifall aus, und da uns nichts weiter übrig blieb, als den Menschen ein gutes Beispiel zu geben und so ihre Ängste zu lindern, gingen wir mit einem Lächeln auf dem Gesicht unserer Wege, wenn auch der Kummer an unseren Herzen nagte. Als ich zu meinem Palast zurückkehrte, stellte ich fest, daß die Nachricht bereits Dejah Thoris zu Ohren gekommen war, und so berichtete ich ihr alles, was ich wußte.

»Wir sind immer sehr glücklich gewesen, John Carter«, sagte sie. »Ich bin dankbar, mit dir sterben zu dürfen, welches Schicksal uns auch immer ereilen wird.«

Die nächsten zwei Tage brachten keine bemerkenswerte Änderung in der Luftversorgung, doch am Morgen des dritten Tages wurde das Atmen in Höhe der Dächer schwerer. Die breiten Straßen und Plätze von Helium waren voller Leute. Die Geschäfte ruhten. Die Menschen blickten größtenteils furchtlos ihrem unvermeidlichen Untergang ins Gesicht. Dennoch gaben sich Männer und Frauen hier und da ihrem stillen Kummer hin.

Gegen Mittag des dritten Tages begannen viele der Schwächeren umzusinken, und innerhalb einer Stunde fielen die Menschen von Barsoom zu Tausenden in die Bewußtlosigkeit, die dem Erstickungstod vorangeht.

Dejah Thoris und ich hatten uns mit den anderen Mitgliedern der Königsfamilie in einem tiefer angelegten Garten im Innenhof des Palastes versammelt. Wir unterhielten uns leise, wenn überhaupt, da uns der düstere Schatten des nahen Untergangs Ehrfurcht einflößte. Sogar Woola schien die Schwere des über uns schwebenden Unheils zu spüren, denn er schmiegte sich leise winselnd an Dejah Thoris und mich.

Der kleine Inkubator war auf Bitte von Dejah Thoris vom Palastdach geholt worden, und nun blickte sie sehnsuchtsvoll auf das unbekannte kleine Lebewesen, das sie nie kennenlernen würde.

Als das Atmen merklich schwieriger wurde, erhob sich Tardos Mors und sagte: »Sagen wir einander Lebewohl! Die Tage des ruhmreichen Barsoom sind gezählt. Die Sonne des morgigen Tages wird auf eine tote Welt niederblicken, wie sie nun bis in Ewigkeit durch das Weltall streifen und in der es nicht einmal Erinnerungen geben wird. Das ist das Ende.«

Er bückte sich, küßte die Frauen seiner Familie und legte den Männern die sehnige Hand auf die Schultern.

Als ich mich traurig von ihm abwandte, fiel mein Blick auf Dejah Thoris. Ihr Kopf sank auf die Brust, allem Anschein nach verlor sie das Bewußtsein. Mit einem Aufschrei sprang ich zu ihr und nahm sie in die Arme. Sie schlug die Augen auf, blickte mich an und flüsterte: »Küß mich, John Carter. Ich liebe dich! Ich liebe dich! Wie grausam ist es doch, daß wir jetzt auseinandergerissen werden, wo wir begonnen haben, ein Leben voller Liebe und Glückseligkeit zu führen.«

Als ich meine Lippen auf die ihren preßte, bemächtigte sich meiner wieder das altbekannte Gefühl von Stärke und Unbesiegbarkeit. Das Kämpferblut von Virginia strömte mit neuer Kraft durch meine Adern.

»Nein, meine Prinzessin«, rief ich. »Es gibt noch einen Weg, es muß ihn geben, und John Carter, der sich aus Liebe zu dir durch eine fremdartige Welt geschlagen hat, wird ihn finden.«

Bei diesen Worten durchführen mich neun längst vergessene, zusammenhängende Laute. Schlagartig wurde ich mir der Tragweite ihrer Bedeutung bewußt – sie waren der Schlüssel zu den drei großen Toren der Atmosphärenfabrik!

Sofort wandte ich mich an Tardos Mors und rief, während ich noch immer meine sterbende Geliebte an mich drückte: »Ein Flugzeug, Jeddak! Schnell! Man soll dein schnellstes Flugzeug auf das Palastdach bringen. Noch kann ich Barsoom retten!«

Er fragte nicht weiter, doch augenblicklich stürmte eine Garde zum nächsten Anlegeplatz, und obwohl die Luft dünn und auf dem Dach gänzlich verschwunden war, gelang es ihnen, das schnellste einsitzige Aufklärungsflugzeug, das die Wissenschaftler von Barsoom jemals entwickelt hatten, in Gang zu setzen.

Ich küßte Dejah Thoris dutzendmal, befahl Woola, der mir folgen wollte, zurückzubleiben und sie zu bewachen, sprang mit meiner früheren Gewandtheit und Kraft zur Anlegestelle oben auf dem Palast, und befand mich im nächsten Moment auf dem Weg zu dem Ort, wo die Hoffnungen von ganz Barsoom lagen.

Um genügend Luft zum Atmen zu haben, mußte ich niedrig fliegen, doch ich nahm den direkten Weg über den Grund eines früheren Meeres, und so brauchte ich nur wenige Fuß aufzusteigen.

Ich trieb die Maschine zu Höchstgeschwindigkeit an, denn ich befand mich im Wettlauf mit dem Tod. Immerfort schwebte Dejah Thoris’ Gesicht vor mir. Als ich mich ein letztes Mal nach ihr umblickte, bevor ich den Palastgarten verließ, hatte ich gesehen, wie sie taumelte und neben dem kleinen Inkubator zu Boden sank. Ich wußte sehr wohl, daß sie in die letzte Ohnmacht gefallen war und sterben würde, wenn die Luftvorräte nicht rechtzeitig aufgefüllt wurden. So ließ ich jede Vorsichtsmaßnahme außer acht, warf alles außer der Maschine und den Kompaß über Bord, sogar meinen Schmuck, legte mich bäuchlings flach auf Deck, steuerte mit der einen Hand, schaltete mit der anderen den Geschwindigkeitshebel auf die letzte Stufe und pfiff mit der Schnelligkeit eines Meteors durch die dünne Luft des untergehenden Mars.

Eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit tauchten mit einemmal die hohen Wände der Atmosphärenfabrik vor mir auf. Ich ging sofort in einen jähen Sturzflug über und setzte vor der kleinen Tür auf, von der das Leben eines ganzen Planeten abhing.

Daneben hatte sich eine großer Trupp abgemüht, die Wand zu durchstoßen, doch schien die steinharte Oberfläche kaum angekratzt zu sein, und die meisten Männer lagen bereits im letzten Schlummer, aus dem nicht einmal Luft sie erwecken konnte.

Sie schien hier noch viel dünner als in Helium zu sein, und auch ich konnte nur mit Schwierigkeiten atmen. Einige Männer waren noch bei Bewußtsein. Ich wandte mich an einen von ihnen an und fragte: »Wenn es mir gelingt, diese Tore zu öffnen, gibt es einen unter euch, der die Maschinen in Gang setzen kann?«

»Ja, mich«, entgegnete er. »Doch beeile dich. Ich halte nur noch kurze Zeit durch. Aber es ist zwecklos, die Verwalter sind beide tot, und keiner auf Barsoom kennt das Geheimnis dieser schrecklichen Schlösser. Drei Tage lang haben sich die Männer schier wahnsinnig vor Angst mit diesem Portal abgemüht im sinnlosen Versuch, sein Mysterium zu lüften.«

Ich hatte keine Zeit zu sprechen, denn ich wurde zusehends schwächer und vermochte überhaupt nur noch unter Anstrengung zu denken.

Doch mit letzter Kraft, während meine Knie schon unter mir nachgaben, sandte ich die neun Wellen gegen die entsetzliche Mauer vor mir. Totenstille herrschte. Der Marsmensch war neben mich gekrochen. Die Blicke starr auf den Torflügel gerichtet, warteten wir.

Langsam wich die mächtige Tür vor uns zurück. Ich wollte mich erheben und ihr folgen, doch ich war zu schwach.

»Dahinter ist es«, rief ich meinem Gefährten zu. »Und wenn du zur Pumpenstation kommst, dreh alle Pumpen auf. Es ist die letzte Chance für Barsoom!«

Aus dem Liegen öffnete ich das zweite Tor und danach das dritte. Ich sah den Hoffnungsträger von Barsoom auf allen vieren kraftlos durch das letzte Tor kriechen und verlor das Bewußtsein.

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