5. Ich entkomme meinem Wachhund

Sola starrte dem Untier in die wild blickenden Augen, murmelte ein oder zwei Befehle, wies dabei auf mich und verließ die Kammer. Ich fragte mich, was dieses grimmig aussehende Ungeheuer tun. würde, wenn man einen derart zarten Leckerbissen wie mich so nahe vor seiner Nase zurückließ, doch waren meine Befürchtungen unbegründet, denn das Biest musterte mich einen Augenblick lang durchdringend, begab sich dann zum einzigen Ausgang des Zimmers und legte sich in voller Länge quer über die Schwelle.

Das war meine erste Erfahrung mit dem Wachhund vom Mars, doch sollte es nicht die letzte sein, denn dieser Gefährte bewachte mich gewissenhaft während meiner Gefangenschaft bei den grünen Menschen, rettete mir zweimal das Leben und wich keinen Augenblick freiwillig von meiner Seite.

Als Sola fort war, ergriff ich die Gelegenheit und schaute mir den Raum genauer an, in dem man mich gefangen hielt. Das Wandgemälde zeigte Szenen von seltener und atemberaubender Schönheit: Gebirge, Flüsse, einen See, einen Ozean, eine Wiese, Bäume und Blumen, sich schlangelnde Straßen, sonnenüberflutete Gärten – Bilder, die irdische Gegenden hätten darstellen können, sah man von der unterschiedlichen Farbgebung der Pflanzenwelt ab. Das Bild war offensichtlich von Meisterhand gemalt, so fein war die Stimmung, so vollkommen die Technik; und doch gab es nirgendwo eine Darstellung eines Lebewesens, eines Menschen oder Tieres, woraus ich hätte schließen können, wie jene anderen und vielleicht ausgestorbenen Marsbewohner ausgesehen haben mochten.

Während ich meiner Phantasie freien Lauf ließ und Mutmaßungen darüber anstellte, wie die ungewöhnlichen Dinge zu erklären waren, die mir bisher auf dem Mars zugestoßen waren, kehrte Sola mit Essen und Trinken zurück. Sie stellte beides auf den Boden neben mich, setzte sich ein Stück von mir entfernt hin und blickte mich aufmerksam an. Das Essen bestand aus etwa einem Pfund fester, käseartiger Substanz und war fast geschmacklos, während es sich bei der Flüssigkeit offensichtlich um Milch handelte. Sie schmeckte nicht schlecht, leicht säuerlich, und ich lernte sie innerhalb kurzer Zeit sehr schätzen. Wie ich später erfuhr, stammte sie nicht von einem Tier, da es auf dem Mars nur ein Säugetier gab, das sehr selten anzutreffen war, sondern von einer riesigen Pflanze, die praktisch fast ohne Wasser auskam und ihren reichlichen Milchvorrat aus den Nährstoffen des Bodens, der Luftfeuchtigkeit und Sonnenstrahlen produzierte. Eine einzelne Pflanze dieser Art gab täglich acht bis zehn Viertel Milch.

Nach dem Essen fühlte ich mich beträchtlich gestärkt, spürte aber, daß ich Ruhe brauchte, streckte mich auf den Seidentüchern aus und war bald eingeschlafen. Ich mußte einige Stunden geschlafen haben, denn es war dunkel, als ich erwachte, und ich fror sehr. Ich bemerkte, daß mich jemand mit einem Fell zugedeckt hatte, doch es war etwas verrutscht, und in der Dunkelheit konnte ich es nicht sehen und zurechtlegen. Plötzlich kam eine Hand, schob das Fell wieder richtig hin und warf gleich darauf noch eines über mich.

Ich nahm an, daß mein aufmerksamer Bewacher Sola war, und irrte mich auch nicht. Von allen grünen Marsmenschen, denen ich begegnete, zeigte nur sie Eigenschaften wie Mitgefühl, Liebenswürdigkeit und Zuneigung; sie sorgte unermüdlich für meine körperlichen Bedürfnisse und ersparte mir durch ihre sorgfältige Obhut viel Leid und Schwierigkeiten.

Wie ich noch erfahren sollte, sind die Nächte auf dem Mars äußerst kalt, und da es praktisch kein Morgengrauen und keine Abenddämmerung gibt, sind die plötzlichen Temperaturschwankungen, wie auch die Übergänge vom strahlenden Tageslicht zur Dunkelheit höchst unangenehm. Die Nächte sind entweder taghell oder sehr dunkel, denn wenn keiner der zwei Marsmonde am Himmel steht, herrscht fast totale Finsternis, da es keine Atmosphäre gibt, oder besser gesagt, diese sehr dünn und nicht in der Lage ist, das Sternenlicht in größerem Maße zu streuen. Wenn andererseits beide Monde am Himmel stehen, ist die Oberfläche hell erleuchtet.

Beide Marsmonde sind dem Mars wesentlich näher als unser Mond der Erde. Die Entfernung zum ersten Mond beträgt etwa fünftausend Meilen, zum zweiten etwas über vierzehntausend Meilen, im Vergleich zu der knappen Viertelmillion Meilen, die uns von unserem Mond trennen. Der dem Mars am nächsten stehende Mond dreht sich im Laufe von siebeneinhalb Stunden vollständig um den Planeten, so daß er in jeder Nacht ähnlich einem riesigen Meteor zwei oder drei Mal über den Himmel rast und bei jedem Durchgang am Firmament alle Phasen durchläuft.

Der zweite Mond dreht sich in etwa dreißig und einer Viertelstunde um den Mars und verhilft gemeinsam mit seinem Schwesternsatelliten der nächtlichen Marslandschaft zu großartiger und überirdischer Erhabenheit. Die Natur hat auch richtig daran getan, die Marsnacht so anmutig und reichlich auszuleuchten, denn die grünen Marsmenschen, ein Nomadenvolk ohne hohe intellektuelle Fähigkeiten, verfügen lediglich über primitive Mittel künstlicher Beleuchtung und sind hauptsächlich von Fackeln abhängig, einer Art von Kerzen sowie einer speziellen Öllampe, die ein Gas erzeugt und ohne Docht brennt.

Letzteres Gerät liefert ein ausgesprochen strahlendes, weitreichendes weißes Licht. Da das benötigte Naturöl aber nur in einigen weit abgelegenen Gegenden gewonnen wird, nutzen diese Kreaturen es nur selten, deren Gedanke einzig und allein dem Heute gilt und deren Abscheu vor körperlicher Arbeit sie seit zahlreichen Jahrhunderten in halb primitiven Verhältnissen leben läßt.

Nachdem Sola mir eine weitere Decke gegeben hatte, schlief ich wieder ein und erwachte erst am Tag. Die anderen Bewohner des Raumes waren alle weiblich, sie schliefen noch unter hohen Stapeln unzähliger Seidentücher und Pelze. Quer über der Schwelle lag das nimmermüde Wachtier, genau wie ich es am Vortag zuletzt gesehen hatte. Offensichtlich hatte es nicht einen Muskel bewegt; sein Blick war noch immer starr auf mich gerichtet, und ich begann mich zu fragen, was wohl geschehen mochte, wenn ich einen Fluchtversuch wagte.

Schon immer hatte ich das Abenteuer und das Experiment gesucht und erforscht, wo klügere Männer es eher hätten sein lassen. So kam mir der Gedanke, die genaue Einstellung dieser Bestie mir gegenüber zu ergründen, indem ich versuchte, den Raum zu verlassen. Ich war mir ziemlich sicher, war ich erst einmal im Freien, würde ich ihm entkommen, denn ich hatte begonnen, großes Vertrauen in meine Sprungkraft zu setzen. Außerdem schloß ich aus der Kürze seiner Beine, daß das Untier kein Springer und wahrscheinlich auch kein Läufer war.

Langsam und vorsichtig richtete ich mich nun auf und sah, daß mein Wächter dasselbe tat; behutsam bewegte ich mich in seine Richtung und entdeckte, daß ich mit einem schlurfenden Gang sowohl das Gleichgewicht halten konnte als auch in einer vernünftigen Geschwindigkeit vorankam. Als ich mich dem Untier näherte, wich es vorsichtig vor mir zurück, und bei Erreichen der Tür trat es zur Seite, um mich durchzulassen. Dann folgte es mir im Abstand von zehn Schritten.

Anscheinend sollte es mich nur beschützen, aber als wir am Stadtrand angekommen waren, sprang es plötzlich vor mich, gab seltsame Laute von sich und bleckte dabei die furchteinflößenden und häßlichen Stoßzähne. Ich beschloß, mich auf seine Kosten etwas zu amüsieren, stürmte auf es zu, und sprang, als ich fast bei ihm war, über ihm in die Luft und ließ die Stadt hinter mir. Augenblicklich fuhr es herum und raste mit solch atemberaubender Geschwindigkeit hinter mir her, wie ich es noch nie gesehen hatte. Ich hatte geglaubt, seine kurzen Beine schlössen Schnelligkeit aus, doch Windhunde wären im Wettlauf mit ihm wie Schlafwandler erschienen. Wie ich noch erfahren sollte, war es das schnellste Tier auf dem Mars. Die Marsmenschen nutzten es wegen seiner Intelligenz, Treue und Wildheit bei der Jagd, im Krieg und als Beschützer.

Ich bemerkte schnell, daß es schwierig sein würde, den Fängen dieses Biestes im direkten Wettlauf zu entkommen. Also stellte ich mich seinem Angriff, indem ich einen Haken schlug und über es hinwegsprang, als es fast bei mir war. Dieser Kunstgriff verschaffte mir einen beträchtlichen Vorsprung, und ich erreichte die Stadt ein gutes Stück vor ihm. Als es hinter mir her gerast kam, hechtete ich an einem der Gebäude, von dem man das Tal überblicken konnte, nach einem Fenster etwa dreißig Fuß über dem Erdboden.

Ich zog mich am Fensterbrett nach oben, setzte mich auf und blickte auf das verwirrte Tier unter mir. Mein Jubel war dennoch von kurzer Dauer, denn kaum saß ich sicher auf dem Sims, packte mich eine gewaltige Hand von hinten am Genick und zog mich ins Zimmer. Dort wurde ich auf den Rücken geworfen, und über mir erblickte ich ein riesiges affenartiges Wesen, das mit Ausnahme des borstigen Haarschopfes auf dem Kopf weiß und nackt war.

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