Ich bin sehr alt: wie alt, weiß ich nicht. Möglicherweise einhundert, möglicherweise älter; aber ich kann es nicht genau sagen, denn ich bin nie gealtert wie andere Männer, auch kann ich mich nicht an meine Kindheit erinnern. Soweit ich mich entsinne, war ich schon immer erwachsen, ein Mann um die Dreißig. Ich sehe noch heute aus wie vor vierzig und mehr Jahren, und dennoch fühle ich, daß ich nicht ewig weiterleben kann, und daß ich eines Tages den wirklichen Tod sterben werde, von dem es kein Zurück mehr gibt. Ich weiß nicht, warum ich den Tod fürchten soll, ich, der ich zweimal gestorben und noch immer am Leben bin; und dennoch habe ich dieselbe Furcht davor wie du, der du noch nie gestorben bist, und ich glaube, daß ich wegen dieser Angst vor dem Tode von meiner Sterblichkeit überzeugt bin.
Deswegen habe ich mich entschlossen, über die interessanten Abschnitte meines Lebens und meines Todes zu berichten. Ich kann die phantastischen Vorfälle nicht erklären; ich kann nur mit den Worten eines einfachen Soldaten jene seltsamen Geschehnisse aufzeichnen, die mir während der zehn Jahre widerfuhren, als mein lebloser Körper unentdeckt in einer Höhle in Arizona lag.
Ich habe diese Geschichte noch nie erzählt, auch soll kein Sterblicher dieses Manuskript zu Gesicht bekommen, bevor ich in die Ewigkeit abgerufen worden bin. Ich weiß, daß der menschliche Verstand seine Grenzen hat, und ich möchte nicht von der Öffentlichkeit, der Kirche und der Presse angeprangert und als Lügenbaron hingestellt werden, wenn ich nur die Wahrheit erzähle, die die Wissenschaft einmal beweisen wird. Wahrscheinlich werden die Anregungen, die ich auf dem Mars erhielt, und das Wissen, das ich in dieser Geschichte niederschreibe, dereinst dabei helfen, die Geheimnisse unseres Schwesternplaneten besser zu verstehen, Dinge, die für dich rätselhaft sind, für mich indes nichts Unerklärliches mehr an sich haben.
Mein Name ist John Carter, aber man kennt mich eher als Hauptmann Jack Carter aus Virginia. Am Ende des Bürgerkrieges befand ich mich im Besitz von einigen hunderttausend Konföderiertendollar und einem Offizierspatent der Kavallerie einer Armee, die es nicht mehr gab, als Diener eines Staates, mit dem die Hoffnungen des Südens untergegangen waren. Ohne einen Vorgesetzten, ohne einen Pfennig in der Tasche, und. da der Kampf vorbei war. ohne eine Möglichkeit, mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen, beschloß ich. mich nach Südwesten durchzuschlagen und zu versuchen, mein verlorengegangenes Glück durch Goldsuche wiederzuerlangen.
Gemeinsam mit einem anderen Offizier der Südstaaten. Hauptmann James K. Powell aus Richmond. war ich fast ein Jahr unterwegs. Wir hatten sehr großes Glück, denn nach vielen Schwierigkeiten und Entbehrungen machten wir Ende des Winters 1865 die größte Goldader ausfindig, wie wir sie uns in unseren kühnsten Träumen nicht ausgemalt hatten. Powell, von seiner Ausbildung nach Bergbauingenieur, stellte fest, daß wir innerhalb von knapp drei Monaten Erz im Wert von über einer Million Dollar freigelegt hatten.
Da unsere Ausrüstung äußerst mangelhaft war, beschlossen wir, daß sich einer von uns in zivilisierte Gegenden aufmachen sollte, um die nötigen Maschinen zu erwerben und eine ausreichende Anzahl von Mannern anzuheuern, um den Abbau richtig zu betreiben.
Da sich Powell im Land auskannte und wußte, welche Maschinen für den Bergbau notwendig waren, hielten wir es fürs beste, wenn er sich auf den Weg begab. Ich sollte inzwischen am Ort bleiben, damit nicht zufällig ein umherziehender Goldsucher von dem Land Besitz ergriff.
Am 3. März 1866 beluden Powell und ich zwei unserer Esel mit Proviant. Wir verabschiedeten uns, er saß auf und begann mit dem Abstieg ins Tal, durch das ihn der erste Teil seiner Reise führte.
Wie fast alle Vormittagsstunden in Arizona war auch der Morgen seiner Abreise klar und schön, ich konnte Powell und die kleinen Lasttiere beobachten, wie sie sich ihren Weg den Bergabhang ins Tal hinabbahnten. Sie waren den ganzen Vormittag über gelegentlich zu sehen, wenn sie eine Bergkuppe erklommen oder ein flaches Plateau überquerten. Gegen drei Uhr nachmittags sah ich Powell zum letzten Mal, als er sich in den Schatten des Gebirgskammes auf der anderen Talseite begab.
Etwa eine halbe Stunde später blickte ich zufällig ins Tal und war sehr überrascht, die drei kleinen Punkte an genau jener Stelle zu finden, wo ich meinen Freund und die zwei Lasttiere zuletzt ausgemacht hatte. Ich neige nicht dazu, mir unnütze Gedanken zu machen, doch je mehr ich mich zu überzeugen versuchte, daß mit Powell alles in Ordnung sei und daß die drei Punkte, die ich auf dem Weg gesehen hatte, Antilopen oder Wildpferde waren, desto unruhiger wurde ich.
Seit wir uns in dem Land aufhielten, hatten wir nicht einen feindlichen Indianer gesehen und waren demzufolge äußerst sorglos geworden. So pflegten wir uns über die unzähligen Geschichten lustig zu machen, die wir über die niederträchtigen Plünderer vernommen hatten, welche überall ihr Unwesen treiben sollten. Angeblich sollte jeder Weiße, der in ihre Hände fiel, die Begegnung mit seinem Leben oder mit Folterung bezahlen.
Wie ich wußte, war Powell gut bewaffnet und außerdem erfahren im Kampf mit Indianern. Aber auch ich hatte jahrelang unter den Sioux im Norden gelebt, und mir war klar, daß er gegenüber einer Gruppe hinterlistiger Apachen kaum eine Chance hatte. Schließlich konnte ich die Ungewißheit nicht länger ertragen, bewaffnete mich mit meinen zwei Colts und einem Gewehr, streifte mir zwei Patronengurte über, fing mein Reitpferd ein und ritt den Pfad hinab, den Powell am Morgen genommen hatte.
Sobald ich verhältnismäßig ebenen Boden erreicht hatte, trieb ich mein Pferd an und fiel in kurzen Galopp, wo der Weg es zuließ, bis ich kurz vor Einbruch der Dämmerung an die Stelle kam, wo sich den Spuren Powells noch andere zugesellten. Es waren Abdrücke dreier unbeschlagener Mustangs.
Diesen folgte ich unverzüglich, bis es dunkel wurde und ich gezwungen war, auf das Aufgehen des Mondes zu warten. So fand ich Zeit, zu überlegen, ob es ratsam war, die Verfolgung fortzusetzen. Vielleicht hatte ich mir unmögliche Gefahren eingeredet wie ein nervenschwaches altes Weib, holte ich dann Powell ein, würde er über meine Befürchtungen gewiß herzhaft lachen. Dennoch bin ich nicht sonderlich empfindsam, und es war schon immer meine Lebensmaxime gewesen, meinem Pflichtgefühl Folge zu leisten, wo auch immer es mich hinführen möge. Das mag die Auszeichnungen von drei Republiken erklären, die Orden und die Freundschaft eines alten und mächtigen Kaisers und einiger kleinerer Könige, in deren Dienst sich mein Schwert so manche Male rot gefärbt hatte.
Gegen neun schien der Mond genügend hell, um den Weg fortzusetzen. Ich konnte unschwer schnellen Schrittes und stellenweise im flotten Trab der Spur folgen, bis ich gegen Mitternacht unerwartet zu jener Wasserstelle kam, an der Powell sein Lager aufschlagen wollte. Ich fand sie menschenleer und keinerlei Hinweis, daß hier kürzlich jemand gelagert hatte. Mir fiel auf, daß die Verfolger – deren konnte ich mir nun sicher sein – den Spuren nach zu urteilen Powell nach nur kurzem Halt an der Wasserstelle im gleichen Tempo nachgeritten waren.
Da für mich feststand, daß es Apachen waren, die Powell lebend gelangen nehmen wollten, um ihr grausames Spiel mit ihm zu treiben und ihn zu quälen, trieb ich mein Pferd zu einem höchst gefährlichen Galopp an und hoffte trotz aller Aussichtslosigkeit, die roten Banditen einzuholen, bevor sie ihn angriffen.
Meine Mutmaßungen wurde plötzlich durch den schwachen Widerhall zweier Schüsse weit vor mir unterbrochen. Ich wußte, daß Powell wenn überhaupt, mich jetzt brauchte, und hetzte mein Pferd in schnellstem Tempo den schmalen und unwegsamen Gebirgspaß hinauf.
Ich hatte vielleicht eine Meile mühsam hinter mich gebracht, ohne weitere Laute zu vernehmen, als der Pfad plötzlich zu einer kleinen Ebene kurz unterhalb des Gipfels führte. Ich war gerade durch eine schmale, überhängende Schlucht geritten, und der Anblick, der sich meinen Augen nun bot, bestürzte und entsetzte mich zutiefst.
Das kleine Landstück war weiß von Indianertipis, und etwa fünfhundert Krieger hatten sich in der Mitte des Lagers um etwas versammelt, das ihre Aufmerksamkeit derart in Anspruch nahm, daß sie mich nicht bemerkten. Ich hätte mich problemlos in die Dunkelheit der Schlucht zurückziehen und unbehelligt entkommen können. Die Tatsache, daß mir dieser Gedanke erst am Folgetag kam, macht jeglichen Anspruch zunichte, als Held zu gelten, wozu mich die Schilderung dieses Zwischenfalls andernfalls berechtigte.
Ich glaube nicht, daß ich aus dem Holz gemacht bin, aus dem Helden geformt werden, da ich mich in den Hunderten von Fällen, bei denen mein spontanes Handeln mich mit dem Tod konfrontierte, nicht an ein einziges Mal erinnern könnte, wo mir eine andere Möglichkeit nicht erst einige Stunden später einfiel. Wahrscheinlich ist mein Verstand so angelegt, daß ich mich ganz instinktiv moralisch richtig verhalte, ohne ermüdende Denkprozesse zu durchlaufen. Wie auch immer, ich habe nie bedauert, kein Feigling sein zu können.
In diesem Fall war ich mir sicher, daß sich Powell im Mittelpunkt des Geschehens befand, aber ob ich zuerst überlegte oder handelte, weiß ich nicht, in dem Moment, als sich meinen Augen die Szene darbot, hatte ich jedenfalls bereits die Revolver gezogen und stürmte schnell schießend und aus voller Lunge schreiend auf die Kriegerschar zu. So ganz allein hätte ich keine bessere Taktik verfolgen können, denn die Rothäute, überzeugt, von einem regulären Regiment angegriffen zu werden, wandten sich um und stürzten in alle Richtungen zu ihren Pfeilen, Bögen und Gewehren.
Der Anblick, der sich mir nach ihrem überstürzten Davonstürmen bot, erfüllte mich mit Entsetzen und Wut. Im hellen Schein des Mondes von Arizona lag Powells Körper schier gespickt von feindlichen Pfeilen. Ich mußte davon ausgehen, daß er bereits tot war, und wenn ich ihn schon nicht vor dem Tode retten konnte, wollte ich seinen Körper vor der Verstümmelung durch die Apachen retten. Ich ritt dicht an ihn heran, griff nach seinem Patronengurt und zog ihn vor mich aufs Pferd. Ein Blick nach hinten überzeugte mich, daß es gefährlicher war, auf dem Weg zurückzukehren, den ich gekommen war. als weiter über das Flachland zu reiten. Also gab ich meinem armen Pferd die Sporen und stürmte auf den Paß zu, dessen Beginn ich auf der gegenüberliegenden Seite des Flachlandes erkennen konnte.
Inzwischen hatten die Indianer entdeckt, daß ich allein war, und nahmen fluchend, mit Pfeil, Bogen und Gewehrkugeln die Verfolgung auf. Da es schwierig ist, im Mondlicht wirkungsvoll zu zielen, die Indianer meines unvermuteten Auftauchens wegen empört waren und ich mich sehr schnell bewegte, verfehlten mich die zahlreichen feindlichen Geschosse, und ich hatte die Schatten der Berge erreicht, bevor eine geordnete Verfolgung organisiert werden konnte.
Mein Pferd bewegte sich praktisch führerlos, da ich wußte, daß es den Pfad zum Paß wahrscheinlich ohne mich eher finden würde, und so geschah es, daß wir in einen Hohlweg einbogen, der zum Gipfel der Gebirgskette führte und nicht zu dem Paß, der mich, wie ich gehofft hatte, ins Tal und in Sicherheit bringen würde. Wahrscheinlich habe ich aber gerade dieser Tatsache mein Leben und die bemerkenswerten Erfahrungen und Abenteuer zu verdanken, die mir in den folgenden zehn Jahren zuteil wurden.
Daß ich auf dem falschen Weg war, kam mir erst zu Bewußtsein, als die Schreie der Verfolger weit hinten zu meiner Linken mit einemmal immer schwächer wurden.
Mir wurde klar, daß sie an der zerklüfteten Gesteinsformation am Rand des Plateaus nach links geritten waren, während mein Pferd mich und Powell nach rechts getragen hatte.
An einem kleinen, flachen Vorgebirge, von dem man den Pfad unten und zu meiner Linken überblicken konnte, zog ich die Zügel an und beobachtete die wilden Verfolger, wie sie hinter der Spitze des benachbarten Berges verschwanden.
Ich wußte, die Indianer würden bald bemerken, daß sie auf der falschen Fährte waren, und die Suche in der richtigen Richtung aufnehmen, sobald sie meine Spuren gefunden hatten.
Nur ein kurzes Stück später begann bei einer hohen Felswand ein offensichtlich gut begehbarer Pfad. Er war eben, ziemlich breit und führte, leicht ansteigend, in die Richtung, in die ich wollte. Zu meiner Rechten ragte der Felsen einige hundert Fuß in die Höhe, auf der anderen Seite befand sich eine kleine Felsschlucht.
Ich folgte diesem Weg einige hundert Yards, bis er plötzlich scharf nach rechts bog und vor einer großen Höhle endete. Der Höhleneingang war etwa vier Fuß hoch und drei bis vier Fuß breit.
Fs war nun Tag. Wie für Arizona so typisch ist, war es mit einemmal hell geworden, ohne daß die Dämmerung den Morgen angekündigt hätte.
Ich saß ab und bettete Powell auf den Boden, doch ergab auch die sorgfältigste Untersuchung nicht das geringste Lebenszeichen. Fast eine Stunde lang mühte ich mich mit ihm ab, goß aus meiner Feldnasche Wasser behutsam zwischen seine leblosen Lippen, wusch ihm das Gesicht und rieb ihm die Hände, obwohl ich wußte, daß er tot war.
Ich hatte Powell sehr gemocht, er war in jeder Hinsicht vollkommen, ein eleganter Gentleman des Südens und ein zuverlässiger und treuer Freund; so daß ich in tiefstem Schmerz, meine unbeholfenen Wiederbelebungsversuche schließlich einstellte.
Ich ließ seinen Leichnam am Höhleneingang liegen und kroch zur Erkundung in die Höhle. Vor mir lag ein riesiges Gewölbe, vielleicht einhundert Fuß breit und etwa dreißig oder vierzig Fuß hoch. Der Boden war glatt und abgewetzt, und vieles wies darauf hin, daß die Höhle vor langer Zeit bewohnt gewesen war. Der hintere Teil lag so im Dunkeln, daß ich nicht erkennen konnte, ob es noch andere Kammern gab.
Während ich meine Erkundung fortsetzte, fühlte ich eine angenehme Schläfrigkeit über mich kommen, die ich der Ermüdung durch den langen und anstrengenden Ritt sowie der Aufregung des Kampfes und der Verfolgung zuschrieb. Ich fühlte mich an meinem gegenwärtigen Standort verhältnismäßig sicher, da ich wußte, daß selbst ein einzelner den Höhleneingang gegen eine ganze Armee zu verteidigen vermochte.
Bald wurde ich so müde, daß ich dem starken Wunsch kaum widerstehen konnte, mich für einige Augenblicke hinzulegen und auszuruhen, aber ich wußte, daß ich dem nicht nachgeben konnte, da das den sicheren Tod von den Händen meiner rothäutigen Freunde bedeutet hätte, die jeden Moment bei mir sein konnten. Mit letzter Kraft strebte ich dem Höhlenausgang zu, um benommen gegen eine Wand zu taumeln und zu Boden zu sinken.