4. Ein Gefangener

Nach etwa zehn Meilen stieg der Boden steil an. Wie ich später erfahren sollte, näherten wir uns dem Rand eines der längst ausgetrockneten Meere, in dessen Mitte mein Abenteuer mit den Marsbewohnern stattgefunden hatte.

Binnen kurzer Zeit befanden wir uns am Fuß des Gebirges. Hinter einer engen Schlucht erreichten wir ein offenes Tal, das in eine nied-* rige Hochebene überging. Weit vor uns lag eine riesige Stadt. Wir ritten darauf zu und auf einer verfallenen Straße ein, die kurz davor mitten im Flachland bei einigen breiten Stufen begann.

Bei näherer Betrachtung sah ich, daß die Gebäude, obwohl noch gut erhalten, leer waren. Sie sahen so aus, als wären sie seit Jahren, vielleicht sogar Jahrhunderten, unbewohnt. In Stadtmitte befand sich ein riesiges Forum, das ebenso wie die angrenzenden Häuser von etwa neunhundert oder tausend Kreaturen jener Gattung, der auch meine Wächter angehörten, belagert wurde, denn trotz der zuvorkommenden Art, mit der sie mich mitgenommen hatten, sah ich mich nun doch als ihren Gefangenen.

Außer Schmuck trugen alle keine Kleidung. Die Frauen unterschieden sich nur unwesentlich von den Männern. Lediglich die Stoßzähne der letzteren waren im Verhältnis zur Größe viel länger und krümmten sich in einigen Fällen fast bis zu den hoch angesetzten Ohren. Die Frauen waren von kleinerer Gestalt und besaßen eine hellere Hautfarbe, und an Fingern und Zehen waren noch Rudimente von Nägeln festzustellen, die bei den Männern völlig fehlten. Die erwachsenen Frauen waren zwischen zehn bis zwölf Fuß groß.

Die Kinder waren noch viel heller als die Frauen und sahen für mich alle gleich aus, abgesehen von einigen, die größer, und wie ich annehme, auch älter waren.

Ich sah keinen Greis unter den Leuten, auch gab es dem Äußeren nach keine nennenswerten äußerlichen Unterschiede zwischen Vierzigjährigen und Eintausendjährigen. In diesem Alter treten sie freiwillig ihre letzte ungewöhnliche Pilgerfahrt zum Fluß Iss an, von dem kein lebender Marsbewohner weiß, wohin er führt, und von dem niemand je zurückgekommen ist. Auch hätte man denjenigen nicht mehr unter sich geduldet, der sich einmal zu dem kalten und dunklen Wasser begeben hatte. Nur einer von tausend Marsbewohnern stirbt an einer Krankheit oder einem Gebrechen, ungefähr zwanzig treten die freiwillige Wallfahrt an. Die anderen neunhundertundneunundsiebzig sterben eines gewaltsamen Todes beim Zweikampf, bei der Jagd, beim Fliegen und im Krieg. Die bei weitem meisten Todesfälle gibt es in der Kindheit, wo unzählige den großen, weißen Affen des Mars zum Opfer fallen.

Die durchschnittliche Lebenserwartung des erwachsenen Marsmenschen liegt bei etwa dreihundert Jahren, sie läge aber weitaus höher, gäbe es nicht die zahlreichen gewaltsamen Todesarten. Auf Grund der schwindenden Bodenschätze des Planeten war es offensichtlich notwendig geworden, der ansteigenden Lebenserwartung entgegenzuwirken, die den bemerkenswerten Fertigkeiten in der Heilkunst und Chirurgie zu verdanken ist. So gilt ein Menschenleben auf dem Mars wenig, wie man aus den gefährlichen Spielarten und dem fast immer anhaltenden Kriegszustand zwischen den verschiedenen Gemeinschaften ersehen kann.

Es gibt auch andere und natürlichere Gründe des Bevölkerungsrückganges, aber nichts trägt letztendlich so sehr dazu bei wie die Tatsache, daß es unter den Marsbewohnern niemanden gibt, der von sich aus die Waffen ablegt.

Als wir uns dem Platz näherten, und man mich entdeckte, umringten uns Hunderte, die es offenbar darauf abgesehen hatten, mich hinter meinem Bewacher von dem Reittier zu ziehen. Ein Wort des Anführers gebot dem Geschrei Einhalt, und im Trab setzten wir unseren Ritt zu dem Eingang eines der prächtigsten Gebäude fort, das je ein Sterblicher zu Gesicht bekommen hat.

Das Bauwerk war flach, nahm indes eine riesige Fläche ein. Es bestand aus glänzendem weißen Marmor, der mit Gold und Brillanten verziert war, die im Sonnenlicht funkelten und glitzerten. Das Hauptportal war einige hundert Fuß breit und ragte so weit nach vorn, daß es der Eingangshalle ein riesiges Vordach verschaffte. Keine Treppe, nur eine flache Schräge führte zum ersten Geschoß in einen riesigen Saal, der von Balkons umgeben war.

In diesem Saal, in dem hier und da einige hohe, geschnitzte Tische und Stühle standen, hatten sich ungefähr vierzig bis fünfzig männliche Marsmenschen um eine Rednerbühne versammelt. Auf dieser hockte ein hünenhafter Krieger, angetan mit Metallschmuck, farbenfrohen Federn und wunderschön verarbeitetem, mit kostbaren Steinen kunstvoll besetzten Lederzeug. Von seinen Schultern hing ein kurzer weißer Fellumhang, der mit glänzender, scharlachroter Seide gefüttert war.

Angesichts dieser Horde und des Audienzzimmers fiel mir sofort auf, daß die Tische, Stühle und anderen Möbel in keinem Verhältnis zur Größe der Anwesenden standen. Sie paßten eher zu menschlichen Wesen wie mir, während diese Hünen von Marsbewohnern sich nicht in einen Stuhl hätten zwängen, geschweige denn ihre langen Beine unter den Tischen ausstrecken können. Offenbar gab es auf dem Mars noch andere Einwohner als jene wilden und seltsamen Kreaturen, in deren Hände ich gefallen war, denn die antiken Gegenstände um mich herum bewiesen, daß diese Gebäude in grauer Vorzeit einer lang ausgestorbenen und vergessenen Marsrasse gehört haben mochten.

Unsere Gruppe war im Eingang stehengeblieben. Auf ein Zeichen unseres Befehlshabers setzte man mich ab, er schob wieder den Arm unter den meinen, und wir betraten gemeinsam die Halle. Als wir uns dem Anführer der Marsbewohner näherten, konnte ich die nur kurze Begrüßungszeremonie mitverfolgen. Mein Bewacher schritt ohne viel Aufhebens energisch auf das Pult zu, die anderen traten bei seinem Kommen auseinander. Der Anführer erhob sich und nannte meinen Begleiter beim Namen, der seinerseits stehenblieb und den Namen des Herrschers sowie seinen Titel aussprach.

Zu jener Zeit sagten mir diese Handlungsweise und die Worte gar nichts, später aber verstand ich, daß sich grüne Marsmenschen üblicherweise auf diese Art begrüßten. Wären die Ankömmlinge Fremde und demzufolge nicht in der Lage gewesen, einander beim Namen zu nennen, so hätten sie, falls sie in friedlicher Absicht gekommen waren, wortlos Schmuck ausgetauscht. Andernfalls hätten sie Schüsse gewechselt oder ihre Vorstellung mit Waffengewalt ausgefochten.

Mein Bewacher hieß Tars Tarkas, er war so etwas wie der Vizekönig der Gesellschaft, ein Mann mit großen staatsmännischen und kriegerischen Fähigkeiten. Offenbar faßte er nun zusammen, was sich neben meiner Gefangennahme auf seiner Expedition noch abgespielt hatte. Als er geendet hatte, sprach mich der Herrscher schließlich an.

Ich antwortete in unserem guten alten Englisch, nur um ihn davon zu überzeugen, daß keiner von uns den anderen verstehen könne; doch als ich am Ende meiner Rede etwas lächelte, erwiderte er mein Lächeln. Jene Tatsache und das ähnliche Vorkommnis während meines ersten Gesprächs mit Tars Tarkas überzeugten mich, daß wir zumindest eine Sache miteinander gemein hatten: die Fähigkeit zu lächeln und demzufolge zu lachen. Dies zeigte letztendlich einen Sinn für Humor. Gleichwohl sollte ich erfahren, daß das Lächeln des Marsmenschen eine oberflächliche Sache war, und sein Lachen ein Vorgang, der starke Männer vor Schreck erstarren ließ.

Der Humor der grünen Marsmenschen steht im krassen Widerspruch zu dem, was unserer Meinung nach Heiterkeit erregt. Der Todeskampf eines Mitmenschen löste bei diesen merkwürdigen Kreaturen Heiterkeitsausbrüche aus, und am häufigsten verschafften sie sich dadurch Amüsement, indem sie einen ihrer Kriegsgefangenen auf sinnreiche und schreckliche Weise zu Tode brachten.

Die anwesenden Krieger und Anführer unterzogen mich einer eingehenden Untersuchung, befühlten meine Muskeln und prüften die Beschaffenheit meiner Haut. Der oberste Anführer hatte offensichtlich den Wunsch, meine Vorstellung zu sehen, hieß mich ihm folgen und begab sich mit Tars Tarkas zum offenen Platz.

Da ich nach meinem ersten außerordentlichen Mißerfolg nicht wieder ohne Tars Tarkas’ Arm gelaufen war, bewegte ich mich hüpfend und flatternd wie ein riesiger Grashüpfer zwischen den Tischen und Stühlen auf und ab. Nachdem ich mich sehr zur Erheiterung der Marsbewohner ernsthaft verletzt hatte, nahm ich wieder zum Kriechen Zuflucht, doch das paßte ihnen nicht, denn ein riesiger Typ, der über mein Mißgeschick am meisten gelacht hatte, zerrte mich nach oben.

Als er mich unsanft auf die Füße stellte, kam sein Gesicht dem meinen sehr nahe, und ich tat das einzige, was ein Gentleman in einer solchen, von Brutalität, flegelhaftem Benehmen und Rücksichtslosigkeit gegenüber Fremden gekennzeichneten Situation tun konnte: Ich schwang meine Faust direkt gegen sein Kinn, und er sackte wie ein gefällter Ochse zu Boden. Alsbald fuhr ich herum und stellte mich mit dem Rücken zum nächsten Tisch, da ich glaubte, daß seine Leute mich vor Wut überwältigen würden. Ich war entschlossen, ihnen einen so guten Kampf zu liefern, wie es mir die ungleiche Kräfteverteilung erlaubte, bevor ich mein Leben hingab.

Meine Befürchtungen waren unbegründet, da die anderen zuerst vor Bewunderung sprachlos waren und schließlich in ein wildes Getöse von Gelächter und Applaus ausbrachen. Anfangs erkannte ich den Applaus nicht als solchen, aber als ich später mit ihren Bräuchen vertraut geworden war, verstand ich, daß ich errungen hatte, was sie selten gewährten: ihren Beifall.

Der Niedergeschlagene blieb liegen, wo er hingestürzt war, auch kümmerte sich keiner von seinen Leuten um ihn. Tars Tarkas trat auf mich zu, streckte mir einen seiner Arme entgegen, so daß wir unseren Weg wohlbehalten fortsetzen konnten. Natürlich wußte ich nicht, warum wir uns ins Freie begeben hatten, doch ließ man mich darüber nicht lange im Unklaren. Zuerst wiederholten sie mehrmals das Wort ›Sak‹, dann machte Tars Tarkas einige Sprünge, wobei er vorher jedesmal ›Sak‹ sagte, wandte sich an mich und sagte es wieder. Ich verstand schließlich, was sie wollten, holte Schwung und ›sakte‹ mit überwältigendem Erfolg, so daß ich gut hundert und fünfzig Fuß schaffte; auch verlor ich diesmal nicht die Balance, sondern landete ohne zu stürzen direkt auf den Füßen. Anschließend kehrte ich mit leichten Sprüngen von fünfundzwanzig bis dreißig Fuß zu der kleinen Gruppe Krieger zurück.

Mein Auftritt war von einigen hundert kleineren Marsbewohnern mitverfolgt worden. Sie verlangten sofort eine Wiederholung, was mir der Herrscher dann schließlich auch befahl, doch war ich sowohl hungrig als auch durstig und beschloß auf der Stelle, von diesen Kreaturen jenes Verständnis zu fordern, das sie mir freiwillig offenbar nicht entgegenbringen würden, denn darin lag meine einzige Rettung. Deswegen ignorierte ich den wiederholten Befehl, zu ›saken‹, wies jedesmal auf meinen Mund und rieb mir den Bauch.

Tars Tarkas und der Herrscher wechselten einige Worte. Ersterer rief eine junge Frau aus der Menge zu sich, erteilte ihr einige Anweisungen und wies mich an, sie zu begleiten. Ich ergriff den mir dargebotenen Arm, und wir gingen gemeinsam auf ein großes Gebäude auf der anderen Seite des Platzes zu.

Meine hübsche Begleiterin maß ungefähr acht Fuß, sie war gerade erwachsen geworden, hatte jedoch noch nicht ihre volle Größe erreicht. Ihre glatte, glänzende Haut war hell olivgrün gefärbt. Wie ich später erfuhr, war ihr Name Sola. Sie gehörte zu Tars Tarkas’ Gefolge und brachte mich zu einer geräumigen Kammer in einem der Gebäude am Rande des öffentlichen Platzes, in dem sich den Seidenund Fellresten auf dem Fußboden zufolge die Schlafräume einiger Marsbewohner befinden mußten.

Durch mehrere große Fenster fiel ausreichend Licht in den Raum, die Wände waren mit Gemälden und Mosaiken geschmückt, doch über allem schwebte der Hauch einer unbestimmbaren alten Kultur, der mich davon überzeugte, daß die Architekten und Erbauer dieser wundervollen Werke nichts mit den groben Halbwilden gemein hatten, die sie nun behausten.

Sola ließ mich auf einem Stapel von Seidenstoffen fast in der Mitte des Zimmers Platz nehmen, wandte sich um und gab einen eigentümlich zischenden Laut von sich, als gebe sie jemandem im Nebenzimmer ein Zeichen. Prompt erblickte ich ein weiteres neues Marswunder. Es kam auf zehn kurzen Beinen dahergewatschelt und hockte sich wie ein gehorsames Hündchen vor dem Mädchen hin. Das Wesen hatte die Größe eines Shetland-Ponys, doch der Kopf ähnelte leicht dem eines Frosches, mit Ausnahme der Kiefer, die mit drei Reihen langer, scharfer Stoßzähne versehen waren.

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