Der Rest der Reise nach Thark verlief ohne weitere Vorkommnisse. Wir waren zwanzig Tage unterwegs und passierten zwei ausgetrocknete Meere sowie zahlreiche verfallene Städte, wovon die meisten kleiner als Korad waren. Zweimal überquerten wir die berühmten Wasserwege des Mars, von unseren Astronomen auf der Erde auch Marskanäle genannt. Als wir uns diesen näherten, wurde ein Krieger mit einem starken Feldstecher ausgesandt, um nach größeren Truppen roter Marsmenschen Ausschau zu halten. Heimlich schlichen wir uns heran, so weit es ging, und da wir unbemerkt bleiben wollten, machten wir bis zum Einbruch der Dunkelheit Rast und bewegten uns erst dann langsam auf das kultivierte Land zu. Auf einer der zahlreichen, breiten Straßen, die dieses Gebiet in regelmäßigen Abständen kreuzten, stahlen wir uns vorsichtig an das unfruchtbare Gelände auf der anderen Seite heran. Wir brauchten ohne Pause fünf Stunden bis zur nächsten Kreuzung, und der Marsch zur nächsten nahm die ganze Nacht in Anspruch. Es wurde bereits hell, als wir die von hohen Mauern eingegrenzten Felder verließen.
Beim Marsch im Dunkeln konnte ich nicht das geringste erkennen, immer nur dann, wenn der erste Mond forsch seine unablässige Bahn über den Himmel von Barsoom zog, dabei zeitweise kleine Flecken der Umgebung, eingegrenzte Felder sowie flache, unregelmäßig gebaute Gebäude erhellte, die fast so aussahen wie auf der Erde unsere Farmen. Hier wuchsen viele Bäume, man hatte sie in regelmäßigen Abständen angepflanzt. Einige davon waren von stattlicher Größe. In manchen Gehegen stand Vieh, das seine Anwesenheit durch erschrecktes Schreien und Schnauben zu erkennen gab, sobald es die sonderbaren wilden Tiere und die noch wilderen Menschenwesen witterte.
Nur einmal entdeckte ich ein menschliches Wesen, und zwar an einem weißen, großen Schlagbaum, wo unsere Straße einen der Wege kreuzte, der jedes bebaute Feldstück in der Mitte durchzog. Der Mann mußte neben der Straße geschlafen haben, denn als ich an ihm vorbeiritt, richtete er sich etwas auf, sprang nach einem kurzen Blick auf die herannahende Karawane schreiend davon, stürzte blindlings die Straße entlang und verschwand behend wie eine erschreckte Katze hinter der nächsten Eingrenzung. Die Thark schenkten ihm keine Beachtung, denn sie hegten keine kriegerischen Absichten. Das einzige, was daraufhinwies, daß sie ihn gesehen hatten, war, daß sie ihren Schritt in Richtung der angrenzenden Wüste beschleunigten, an der Tal Hajus’ Reich begann.
Kein einziges Mal sprach ich mit Dejah Thoris, da sie mich nicht wissen ließ, daß ich in ihrer Kutsche willkommen sei. Mein törichter Stolz hielt mich davon ab, von allein die Initiative zu ergreifen. Ich bin fest überzeugt: Je kühner ein Mann unter seinesgleichen auftritt, desto unsicherer ist sein Verhalten Frauen gegenüber. Dem Schwachling und Hohlkopf fällt es oft leicht, das schöne Geschlecht für sich zu gewinnen, während der Krieger, der sonst ohne Zaudern tausend wirklichen Gefahren die Stirn bietet, sich wie ein ängstliches Kind in den Schatten flüchtet.
Genau dreißig Tage nach meiner Ankunft auf Barsoom erreichten wir das altehrwürdige Thark, die uralte Stadt jenes vor Zeiten untergegangenen Volkes, dessen Namen sich diese grüne Horde zu eigen gemacht hatte. Etwa dreißigtausend Menschen hausten hier, sie teilten sich in fünfundzwanzig Gemeinschaften auf. Eine jede von ihnen besaß ihren eigenen Jed und niedere Befehlshaber, doch standen alle unter der uneingeschränkten Herrschaft von Tal Hajus, Jeddak von Thark. Fünf Gemeinschaften hatten ihren Wohnsitz ausschließlich in Thark, der Rest hauste vereinzelt in anderen verlassenen Städten des Gebietes, das Tal Hajus für sich beanspruchte.
Am frühen Nachmittag trafen wir auf dem großen Zentralplatz ein. Die Willkommensfreude gegenüber den Ankömmlingen hielt sich in Grenzen. Die zufällig Anwesenden nannten bei ihrer formellen Begrüßung jene Krieger und Frauen beim Namen, mit denen sie in Berührung kamen. Als jedoch bekannt wurde, daß der Zug zwei Gefangene mit sich führte, wurde das Interesse größer, Dejah Thoris und ich rückten in den Mittelpunkt des Geschehens.
Man teilte uns bald neue Unterkünfte zu. Den Rest des Tages verbrachten wir damit, uns einzurichten. Meine Wohnung befand sich an der südlichen Ausfallstraße, die wir, von den Stadttoren kommend, entlangmarschiert waren. Sie führte zum Zentralplatz. Ich hatte das Gebäude ganz für mich allein, es lag am hinteren Teil des Viertels. Jene Erhabenheit, durch die sich die Architektur von Korad ausgezeichnet hatte, war auch hier zu finden, nur in größeren Dimensionen, wenn das überhaupt möglich war. Meine Bleibe hätte dem mächtigsten Kaiser der Erde als Unterkunft wohl angestanden, doch diese seltsamen Kreaturen beeindruckte daran nur die Größe der Bauwerke und Gemächer. Je weiträumiger ein Gebäude war. desto begehrter war es. So belegte Tal Hajus ein Haus, das früher öffentlichen Zwecken gedient haben mußte. Es war riesengroß und als Unterkunft gänzlich ungeeignet. Das zweitgrößte war Lorquas Ptomel vorbehalten, das nächste dem niedrigeren Jed, und so weiter bis zum letzten der fünf Jeds. Die Krieger hausten in den Gebäuden der Befehlshaber, deren Gefolge sie angehörten, oder suchten sich, wenn sie wollten, ihre Bleibe in einem der vielen tausend unbewohnten Baulichkeiten der unmittelbaren Umgebung, denn jeder Gemeinschaft war ein bestimmtes Stadtviertel zugeteilt worden. Dementsprechend hatte auch die Auswahl der Unterkünfte zu erfolgen. Lediglich die Jeds bildeten eine Ausnahme, sie bewohnten alle Gebäude am Zentralplatz.
Als ich mich in meiner Bleibe endlich eingerichtet, oder besser gesagt, dabei zugesehen hatte, war es kurz vor Sonnenuntergang, und ich eilte hinaus, um Sola und ihre Schützlinge ausfindig zu machen. Ich wollte unbedingt mit Dejah Thoris sprechen, sie zumindest zu einer Art Waffenstillstand bewegen, bis ich einen Weg gefunden hatte, wie ich ihr bei der Flucht behilflich sein konnte. Der obere Rand der großen, roten Sonne verschwand gerade am Horizont, und ich war noch immer auf der Suche, als ich den häßlichen Kopf Woolas erspähte, der im ersten Stock eines gegenüberliegenden Gebäudes aus dem Fenster blickte. Es befand sich in eben meiner Straße, lag nur mehr zum Platz hin.
Ohne auf eine Einladung zu warten, stürmte ich die Wendeltreppe hoch und betrat einen großen Raum auf der Vorderseite des Hauses. Woola begrüßte mich stürmisch und warf sich mit ganzem Gewicht auf mich, so daß ich beinahe umkippte. Der wackere Geselle freute sich derart über das Wiedersehen, daß ich glaubte, er wolle mich auffressen. Er grinste koboldartig übers ganze Gesicht und entblößte dabei die drei Reihen Stoßzähne bis zu den Ohren.
Ich beruhigte ihn mit einem Wort und einer Liebkosung und versuchte fieberhaft, Dejah Thoris im Halbdunkel ausfindig zu machen. Da ich sie nicht sehen konnte, rief ich sie beim Namen. Ein Murmeln aus einer Ecke des Raumes war die Antwort. Mit einigen schnellen Schritten war ich bei ihr. Sie hockte auf einem altertümlichen, geschnitzten Holzstuhl inmitten von Fellen und Seidentüchern. Da ich wartete, erhob sie sich, blickte mir in die Augen und sagte: »Was möchte Dotar Sojat, Thark, von seiner Gefangenen Dejah Thoris?«
»Dejah Thoris, ich weiß nicht, womit ich dich verärgert habe. Es lag mir völlig fern, dich zu verletzen oder zu beleidigen, wo ich dich beschützen und trösten wollte. Wenn es dein Wille ist, bekommst du mich nicht mehr zu Gesicht. Aber laß mich dir bei der Flucht behilflich sein, sofern diese im Rahmen des Möglichen liegt, und das ist keine Bitte, sondern ein Befehl. Wenn du dann am Hof deines Vaters bist, kannst du mit mir nach Belieben verfahren. Bis dahin bin ich jedoch dein Gebieter, dem du gehorchen und helfen wirst.«
Sie blickte mich lange sehr ernst an, und ich hatte den Eindruck, daß sie sich mir gegenüber etwas öffnete.
»Deine Worte verstehe ich, Dotar Sojat, doch nicht ihren Sinn«, entgegnete sie. »Du bist eine seltsame Mischung aus Kind und Mann, Grobian und Edelmann. Ich wünschte, ich könnte in deinem Herzen lesen.«
»Sieh zu deinen Füßen, Dejah Thoris, dort liegt es seit jener Nacht in Korad. Es wird allein für dich so lange schlagen, bis der Tod es für immer zum Schweigen bringt.«
Sie trat ein Stück auf mich zu, die Hände in einer seltsamen, tastenden Geste ausgestreckt.
»Was meinst du damit, John Carter?« flüsterte sie. »Was willst du damit sagen?«
»Ich spreche aus, was ich mir geschworen hatte, dir nicht zu sagen, zumindest solange du eine Gefangene der grünen Menschen bist, und was ich dir nach deinem Verhalten mir gegenüber in den letzten zwanzig Tagen niemals sagen wollte. Dejah Thoris, ich bin mit Leib und Seele der deine, ich will dir dienen, für dich kämpfen und sterben. Als Gegenleistung bitte ich nur um eines: Daß du mit keiner Miene und keinem Zeichen deinen Unwillen oder dein Einvernehmen zu erkennen gibst, bis du bei deinem Volk bist, und daß du darauf achtest, deine Gefühle nicht von Dankbarkeit beeinflussen zu lassen, welcher Art sie auch immer sein mögen. Denn was ich für dich tue, geschieht einzig und allein aus selbstsüchtigen Motiven, da ich mehr Freude daran habe, dir zu dienen, als nichts zu tun.«
»Ich respektiere deinen Wunsch, John Carter, und da ich verstehen kann, warum du so handelst, nehme ich deine Dienste ebenso gern an, wie ich mich dir unterordne. Dein Wort soll mein Gesetz sein. Zweimal habe ich dir in Gedanken unrecht getan, und wieder bitte ich dich um Vergebung.«
Dem weiteren persönlichen Gespräch wurde durch Solas Erscheinen Einhalt geboten, die sehr aufgeregt war, ganz im Gegensatz zu ihrem gewöhnlich ruhigen, beherrschten Wesen.
»Diese fürchterliche Sarkoja war bei Tal Hajus«, rief sie aus. »Nach allem, was ich auf dem Platz vernommen habe, gibt es für keinen von euch Hoffnung.«
»Was sagen sie denn?« erkundigte sich Dejah Thoris.
»Daß ihr bald den wilden Calots (Hunden) in der Arena vorgeworfen werdet, sobald sich die Horden zu den alljährlichen Spielen versammelt haben.«
»Sola, du bist eine Thark, doch du haßt und verachtest die Bräuche deines Volkes ebenso wie wir«, sagte ich. »Möchtest du uns nicht auf unserer Flucht begleiten? Ich bin überzeugt, Dejah Thoris könnte dir bei ihrem Volk eine Heimat und Schutz bieten, und dich kann dort kein schlimmeres Schicksal erwarten als hier.«
»Ja«, rief Dejah Thoris. »Komm mit, Sola. Bei den roten Menschen von Helium wird es dir besser ergehen als hier, und ich kann dir bei uns nicht nur ein Heim versprechen, sondern all die Liebe und Zuneigung, nach denen sich dein Inneres sehnt und welche die Bräuche deines Volkes dir immer versagen werden. Komm mit uns mit, Sola. Wir könnten ohne dich fliehen, doch dann erwartet dich ein schreckliches Schicksal, da sie glauben werden, du wärest uns bei der Flucht behilflich gewesen. Ich weiß, daß du dich uns selbst aus dieser Befürchtung heraus nie in den Weg stellen würdest, doch wir möchten dich bei uns haben. Du sollst uns ins Land des Sonnenscheins und der Glückseligkeit begleiten, zu einem Volk, das die Bedeutung der Worte Liebe, Mitgefühl und Dankbarkeit kennt. Sag, daß du mitkommst, bitte!«
»Der große Wasserweg, der nach Helium führt, befindet sich nur fünfzig Meilen südlich von hier«, murmelte Sola halb zu sich selbst. »Ein schnelles Thoat braucht dafür drei Stunden. Von dort sind es noch fünfhundert Meilen bis Helium. Der Weg führt meist durch dünn besiedeltes Gebiet. Das wissen sie, und sie würden uns verfolgen. Wir könnten uns eine Zeitlang zwischen den großen Bäumen verstecken, doch die Chancen sind in der Tat sehr gering. Sie würden uns bis zu den Toren von Helium nachstellen und auf Schritt und Tritt ihren tödlichen Tribut fordern, ihr kennt sie nicht.«
»Gibt es keinen anderen Weg nach Helium?« fragte ich. »Kannst du mir das Land einmal grob skizzieren, das wir durchqueren müssen, Dejah Thoris?« Sie nahm sich einen großen Diamant aus dem Haar und zeichnete auf dem Marmorboden die erste Karte von Barsoom, die ich zu sehen bekam. Kreuz und quer durchs Land verliefen lange gerade Linien, teilweise parallel, dann trafen sie sich wiederum bei einem großen Kreis. Diese Linien, sagte Dejah Thoris, seien Wasserstraßen, die Kreise Städte, und einen weit nordwestlich von uns gelegenen bezeichnete sie als Helium. Es gab auch Städte in geringerer Entfernung, doch viele davon fürchtete sie aufzusuchen, da nicht alle Helium freundlich gesonnen waren.
Nachdem wir im hereinfallenden Mondlicht die Karte sorgfältig studiert hatten, wies ich schließlich auf eine Wasserstraße weit nördlich von uns, die auch nach Helium zu führen schien.
»Kommt man auf diesem Weg nicht auch zu deines Großvaters Territorium?« fragte ich.
»Ja, aber sie befindet sich zweihundert Meilen nördlich von uns, es ist eine der Wasserstraßen, die wir auf der Reise nach Thark überquert haben«, antwortete sie.
»Sie werden nie vermuten, daß wir uns dorthin begeben«, entgegnete ich. »Deswegen denke ich, daß das der beste Fluchtweg ist.«
Sola stimmte mir zu, und wir entschieden, Thark noch an diesem Abend zu verlassen, besser gesagt, so schnell, wie ich meine Thoats finden und satteln konnte. Sola würde auf dem einen reiten, Dejah Thoris und ich auf dem anderen, und jeder sollte Lebensmittel und Wasser für zwei Tage mitnehmen, denn bei einer solchen Entfernung konnten wir die Tiere nicht allzu sehr antreiben.
Sola und Dejah Thoris sollten sich auf einer der weniger bevölkerten Straßen zur südlichen Stadtgrenze begeben, wo ich sie mit den Thoats so bald wie möglich treffen wollte. Dann verließ ich sie, damit sie die nötigen Lebensmittel sowie die Seidentücher und Pelze zusammenpacken konnten. Lautlos schlüpfte ich hinunter ins Erdgeschoß und betrat den Innenhof, wo unsere Tiere wie immer vor Anbruch der Nacht ruhelos umherstreiften.
Die Thoats und Zitidars waren sowohl im Schatten der Gebäude als auch draußen im hellen Mondschein anzutreffen, die Dickhäuter gaben leise Kehllaute von sich, die Thoats gelegentlich scharfe Schreie, ein Zeichen jener Wut, die diese Kreaturen während ihres ganzen Daseins beherrscht. Sie waren nur ruhiger, wenn niemand bei ihnen war. Als sie mich jedoch witterten, wurden sie nervös und stießen ihre widerlichen Rufe weitaus häufiger aus. Es war riskant, sich nachts mutterseelenallein in ein Gehege von Thoats zu wagen. Erstens, weil die zunehmende Lautstärke den in unmittelbarer Nähe befindlichen Kriegern mitteilen würde, daß etwas nicht in Ordnung sei; zweitens, weil irgendein riesiger Bulle sich aus geringstem oder gar keinem Anlaß einfallen lassen könnte, anzugreifen.
Ich verspürte kein Bedürfnis, ihre unangenehmen Launen in einer Nacht wie dieser zu wecken, wo alles unbemerkt und schnell vor sich gehen mußte. So hielt ich mich im Schatten der Gebäude, jederzeit daraufgefaßt, in das nächste Fenster oder in einen Eingang zu flüchten. Lautlos schlich ich zu den großen Toren an der Hinterseite des Hofes, die sich zur Straße hin öffnen ließen, und rief leise nach meinen zwei Tieren. Wie sehr dankte ich der freundlichen Vorsehung, die mich in weiser Voraussicht die Liebe und das Vertrauen dieser wilden, stummen Geschöpfe hatte gewinnen lassen, denn bald sah ich, wie sich von der anderen Seite des Hofes zwei massige Ungetüme einen Weg durch die Fleischberge zu mir bahnten.
Sie kamen direkt auf mich zu, rieben die Mäuler an mir und schnupperten nach den kleinen Leckerbissen, die ich zu ihrer Belohnung immer bei mir trug. Ich öffnete das Gatter, befahl den beiden Gesellen herauszukommen und lief ihnen leise hinterher, nachdem ich das Gatter wieder verschlossen hatte.
Ich ließ sie ungesattelt und saß auch nicht auf, sondern begab mich lautlos im Halbdunkel der Gebäude zu einer verlassenen Straße, die dorthin führte, wo ich mich mit Dejah Thoris und Sola verabredet hatte. Mucksmäuschenstill bewegten wir uns durch die menschenleeren Viertel, doch begann ich erst aufzuatmen, als das Flachland vor der Stadt zu erkennen war. Ich war überzeugt, daß Sola und Dejah Thoris unseren Treffpunkt mühelos und unbehelligt erreichen würden. Ich selbst befand mich wegen der großen Thoats eher in Gefahr, da es sehr ungewöhnlich war, daß ein Krieger nach Einbruch der Dunkelheit die Stadt verließ. Eigentlich gab es innerhalb der Stadt keinen Ort, wohin man sich hätte begeben können, es sei denn auf einen langen Marsch.
Ohne Zwischenfall erreichte ich die verabredete Stelle, und da Dejah Thoris und Sola noch nicht dort waren, führte ich meine Tiere in die Vorhalle eines großen Gebäudes. Wahrscheinlich hatte eine der anderen Frauen des Haushaltes Sola aufgesucht, um mit ihr zu reden, und die beiden aufgehalten. In der ersten Stunde hegte ich keine übermäßigen Befürchtungen, aber nachdem noch eine halbe Stunde verstrich, ohne daß weit und breit etwas von ihnen zu sehen war, ergriff mich ernste Besorgnis. Mit einemmal wurde die nächtliche Stille von einer nahenden Reitergruppe gestört, dem Lärm nach konnten es unmöglich Flüchtlinge sein, da diese sich heimlich und verstohlen ihren Weg in die Freiheit suchen würden. Als sie näherkamen, erkannte ich aus meinem schattigen Eingang zwanzig berittene Krieger; einige Gesprächsfetzen, die ich aufschnappte, ließen mein Herz erstarren.
»Er wird sich wahrscheinlich mit ihnen kurz vor der Stadt treffen, und so...« Mehr hörte ich nicht, denn sie waren schon wieder vorbei. Doch es genügte. Unser Plan war entdeckt worden, und die Chancen minimal, jetzt noch unserem schrecklichen Ende zu entkommen. Ich konnte nur hoffen, unbemerkt zu Dejah Thoris Unterkunft zurückzukehren und herauszufinden, welches Schicksal ihr widerfahren war. Aber wie ich das mit den großen Thoats anstellen sollte, wo die ganze Stadt wahrscheinlich auf den Beinen war, meine Fluchtabsichten nun bekannt waren, stellte ein schier unlösbares Problem dar.
Plötzlich kam mir eine Idee. Ich wußte, wie diese uralten Marsstädte angelegt waren: Jeweils vier Gebäude schlössen einen Innenhof ein. Ich tastete mich durch die dunklen Gemächer und rief meinen Thoats zu, mir zu folgen. Bei einigen Toren hatten sie Schwierigkeiten, doch da alle Gebäude dem allgemeinen Stadtbild entsprechend in weiträumiger Pracht angelegt waren, konnten sich die Tiere schließlich ohne weiteres durchschlängeln. So kamen wir schließlich zum Innenhof, der wie erwartet von dem Moosteppich bedeckt war, der ihnen als Nahrung dienen und Flüssigkeit spenden würde, bis ich sie in ihr eigentliches Gehege zurückbringen konnte. Ich vertraute darauf, daß sie hier genauso ruhig und zufrieden waren wie sonstwo. Auch bestand nur geringe Wahrscheinlichkeit, daß man sie entdeckte, da die grünen Menschen kaum das Bedürfnis verspürten, diese abgelegenen Gebäude zu erkunden, die von den einzigen Wesen heimgesucht wurden, welche ihnen meines Erachtens Angst einjagten – den großen, weißen Affen von Barsoom.
Ich nahm den Tieren das Geschirr ab, versteckte es im Hintereingang des Gebäudes, durch den wir den Hof gerade betreten hatten, band sie los und eilte durch das Haus auf der anderen Hofseite zur dahinterliegenden Straße. Ich hielt mich eine Weile im Eingang versteckt, bis ich mir sicher war, daß niemand kam. Dann lief ich hinüber zum nächsten Gebäude, weiter in den Hof und durchquerte so ein Viertel nach dem anderen, wobei ich lediglich Gefahr lief, beim Überqueren der Straßen entdeckt zu werden, bis ich schließlich unbehelligt auf dem Hof hinter Dejah Thoris Unterkunft anlangte.
Wie erwartet weideten hier die Tiere der in den angrenzenden Häusern wohnenden Krieger. Betrat ich den Hof, so stieß ich dort vielleicht auf die Kämpfer selbst. Zu meinem Glück fiel mir jedoch eine andere und ungefährlichere Methode ein, das Obergeschoß zu erreichen, in dem Dejah Thoris zu finden sein mußte. Nachdem ich mich erst einmal weitestgehend vergewissert hatte, wo sie überhaupt wohnte (hatte ich doch die Gebäude nie von hinten gesehen), nutzte ich meine außergewöhnliche Stärke und Wendigkeit, sprang hoch und hielt mich am Sims eines Fensters im ersten Obergeschoß fest, das sich meines Erachtens auf der Rückseite ihrer Wohnung befand. Ich zog mich nach innen und schlich vorsichtig auf das Vorderzimmer zu. Als ich die Tür erreichte, vernahm ich Stimmen. Also hielt sich jemand darin auf.
Ich blieb stehen, um sicherzugehen, daß es Dejah Thoris war und keine Gefahr drohte. Diese Vorsichtsmaßnahme gereichte mir zum Vorteil, denn die leisen, kehligen Stimmen waren die von Männern, und die Worte, die an meine Ohren drangen, warnten mich rechtzeitig. Der Sprecher war ein Anführer, der vier Kriegern Anweisungen erteilte.
»Wenn er hierher zurückkehrt, was er mit Sicherheit tun wird, sobald er feststellt, daß sie nicht am vereinbarten Treffpunkt erscheint, dann fallt ihr vier über ihn her und entwaffnet ihn. Dabei bedarf es all eurer Kraft, wenn wir den Berichten von Korad glauben können. Sobald ihr ihn gefesselt habt, bringt ihn zu den Gewölben unter den Wohnungen der Jeddaks und kettet ihn fest an, damit man ihn dort auch findet, wenn Tal Hajus ihn zu sehen wünscht. Er darf mit niemandem sprechen. Auch soll bis zu seinem Eintreffen keiner dieses Gebäude betreten. Es besteht kaum eine Gefahr, daß das Mädchen zurückkehrt, denn bis dahin wird sie sich unversehrt in Tal Hajus’ Händen befinden, und dann können all ihre Vorfahren sie nur bemitleiden, Tal Hajus kennt kein Erbarmen. Die große Sarkoja hat eine bedeutende Tat in dieser Nacht vollbracht. Ich gehe jetzt, und wenn ihr bei seinem Eintreffen versagt, übergebe ich eure Kadaver dem kalten Iss.«