58 Die Entscheidung

Unser Lebensraum besitzt drei räumliche und eine zeitliche Dimension. Bisher sind wir nicht aus ihm herausgekommen. Aber es kann sein, daß er in einem vieldimensionalen Raum, dem Pararaum, eingebettet liegt. Dieser hätte noch Platz für viele andere Räume. Es kann sein, daß sie unabhängig von unserem sind, es kann auch sein, daß es Beziehungen gibt. Etwa in der Art, daß es Welten anderer Kausalketten sind – also Welten, zu denen auch die unsere hätte werden können, wäre nicht irgendeinmal eine Entscheidung getroffen worden, die jene Abläufe nach sich zog, die zum heutigen Zustand führten: zum Zustand, jetzt und hier!

Acht Jahre meines Lebens habe ich dafür gegeben. Nun stehe ich am Ziel. Und soll mich entscheiden.

Ich wußte nicht, daß es so nahe war. Aber das ist ja bedeutungslos. Nah und fern – Begriffe, die sinnlos sind. Die Traubenernte hat ihren Höhepunkt erreicht. Von überallher dringen der Gesang der Winzer und das rhythmische Klappern der Traubenscheren. Welt des Friedens, immer schon war ich überzeugt, daß es dich gibt! Das Vollkommene ist mehr als ein Traumbild. Das Vollkommene ist Wirklichkeit. Wir Menschen haben es verloren. Aber wir suchen es. Solange wir uns zurückerinnern können, suchen wir es...

Schon als kleiner Junge widerte es mich an: daß unser Leben ein ununterbrochenes Töten ist. Daß wir uns gegen andere wehren müssen, wenn wir uns durchsetzen wollen. Daß es Kriege gibt, in denen Menschen einander abschlachten. Daß wir Fleisch abgestorbener Tiere essen, daß jeder Schritt, jeder Schluck Wasser, jede Handlung Tausenden Mikroorganismen – lebendigen Wesen! – den Tod bringt.

Aber niemand verstand mich.

Ich hätte die Expedition nie ausrüsten können, hätte ich nicht die vier Fabriken geerbt. Ich verkaufte sie. Drei Jahre dauerte der Bau des Raumschiffs. Dann startete ich. Allein.

Zwei Jahre kreuzte ich in den unvorstellbaren Weiten des Alls. Ich lief sämtliche Planeten an, die menschliches Leben gestatten. Ich fand höhere und niedrigere Wesen. Ich verließ sie wieder, enttäuscht. Alle bekämpften, bekriegten, töteten sich.

Ich kreuzte länger, als mir Zeit gegeben war. Der Treibstoff reichte nicht zum Abbremsen. Ich lief auf die Erde zu, mit riesiger Geschwindigkeit. Es war mir gleichgültig. Ich war verbittert, hoffnungslos.

Das Sonnensystem sprang auf mich ein, als ob es mich verschlingen wollte. Die Erde schwoll zu einer Scheibe, wie sich ein Tropfen Öl über Wasser verbreitet. Ich war auf mein Ende gefaßt...

Dann kam es aber anders. Um mich herum krümmte sich etwas, etwas schlug um – ich kann es nicht anders ausdrücken. Als ich wieder klar denken konnte, schaukelte mein Schiff auf dem Wasser. Die Sonne war im Untergehen, am Horizont hing der Mond – es war der altbekannte Mond, mit seiner unvergeßlichen Zeichnung. Ich war auf der Erde gelandet. Und doch nicht auf der Erde. Es war die Erde des ewigen Friedens, die Erde, von der die mir bekannte Art mißgestaltetes Zerrbild war. Es waren Menschen, die aussahen wie gewöhnliche Menschen. Es waren aber Menschen, die ohne Streit ihrer Arbeit nachgingen, einer Arbeit, die ihnen keine Strafe – was für irrsinnige Verblendung –, sondern Lust und Freude war. Menschen, die es nicht notwendig hatten, Tiere zu töten. Die nicht von Bakterien verseucht waren. Es gab keine, und sie brauchten auch keine. Es kam mir vor, als wäre die Erde meiner Geburt von einer bösen Krankheit befallen.

Alle behandelten mich freundlich. Sie nahmen mich auf. Sie gaben mir Nahrung, Kleider und Wohnraum. Sie waren nicht erstaunt – sie schienen viel zu wissen.

Zwei Jahre lebte ich bei ihnen. Ich diskutierte häufig mit einigen Freunden. Ich beklagte das Schicksal meiner früheren Mitmenschen.

Sie lächelten. »Jeder ist dort, wo es für ihn am besten ist«, meinten sie.

Eines Tages nahmen sie mein kleines Raumschiff ins Schlepptau eines ihrer großen. »Zwei Jahre hast du bei uns gelebt«, sagten sie. »Es war eine Probezeit. Du hast sie bestanden. Du darfst bei uns bleiben. Du darfst auch zu deiner Erde zurück. Entscheide dich!«

»... bleibe bei euch«, antwortete ich, ohne nachzudenken. Sie baten mich, in mein Schiff zu steigen. Zum erstenmal nach langer Zeit war ich in meiner alten Umgebung, in einem Stück Heimat.

Die Sprechanlage klickte: »Überlege gut! Willst du nicht dorthin zurückkehren, woher du gekommen bist?«

Ich besann mich. Ich wog das Gefühl der Unschuld auf dieser friedvollen Welt gegen das des ewigen Kampfes auf meiner eigenen. »... bleibe«, sagte ich.

Lange kam keine Antwort. Dann noch einmal das Mikrophon: »Du befindest dich im Schwerefeld der Erde. Deiner und unserer Erde. Beide liegen auf derselben Stelle, nur in drei anderen Dimensionen. Wenn du auf den Hebel drückst, der die Luftschleuse schließt, kappst du zur gleichen Zeit das Verbindungsseil. Du fällst hinunter. Die Energie des Aufpralls wird so schnell frei, daß sie nichts zerstört. Sie kippt dich nur um die gemeinsame Symmetrieachse unserer beiden Welten. Du landest bei den Deinen. Zu Hause!«

Was soll ich zu Hause? Ich habe nichts, was mich zurückzieht. Ich habe niemanden, nach dem ich mich sehne. Aber ich stehe wieder in einem Trubel von Töten und Getötetwerden, im Zwang mich zu wehren, mich gegen andere zu behaupten. Ein seltsames Gefühl wird in mir lebendig. Sich wehren, sich durchsetzen, gewinnen! Ist das so schlimm?

Aber das Leben ohne Schuld? Das Leben der allumfassenden Liebe, das ich überall suchte! Natürlich bleibe ich!

Ist das wirklich meine Entscheidung? Wie an einem Fremden beobachte ich, wie sich meine Hand zum Hebel stiehlt, wie ein Finger nach dem Druckknopf tastet, wie sich der Metallbügel in die Schaltwand einsenkt...

Ein Ruck geht durch den Raum. Ich falle. Noch sehe ich den grauen Körper des Fahrzeuges meiner Freunde. Er verschwindet schnell. Ich frage mich, ob ich bereue. Ich weiß es nicht...

Die Erde stößt auf mich zu. Ich habe es schon einmal erlebt: Der Raum biegt, krümmt, windet sich, klappt um...

Ich sehe mich um. Trübes Wasser plätschert vor den Fenstern. Ein Lichtermeer in der Ferne – New York! Meine Vaterstadt! Ein Anflug von Dankbarkeit für meine nun für immer verlorenen Freunde steigt in mir auf. Aber man läßt mir keine Zeit für Gefühle. Etwas klopft fordernd auf die Wand meines Gefährts.

Ich öffne den Ausstieg. Unsanfte Hände stoßen mich in die Polizeibarkasse. Man bringt mich ans Ufer, führt mich zur Hafenkommandantur. Ich reiße mich los... Sechs Polizisten sind hinter mir her – einer stellt mir den Fuß, alle stürzen auf mich ein, ich schlage um mich, kratze, beiße, trete. Einmal liege ich unten, einmal ein anderer. Einmal lande ich einen Treffer in einem verzerrten Gesicht, einmal klatscht es in meinem. Endlich haben sie mich fest. Meine Arme auf den Rücken gedreht, bringen sie mich fort, gaffende Menschen drängen sich um uns herum. Nun sitze ich in einer Gefängniszelle, schmutzig, zerrissen, zerschunden. Aber seltsam! Ich freue mich, freue mich – freue mich!

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