33 Vergangenheit und Zukunft

Für die Menschen ist die Zeit ein Ablauf. Es gibt ein Vorher, Jetzt und Nachher. Dadurch unterscheidet sie sich vom Raum, dessen Punkte alle gleich gegenwärtig und erreichbar sind. Die moderne Physik hat Zeit und Raum verflochten. Ihre Vorgänge spielen sich in einem räumlich-zeitlichen Kontinuum ab, in dem es keine ausgezeichnete Gegenwart gibt. Alles, was jemals war, was ist und was sein wird, ist gleich gegenwärtig.

Ich sitze in meinem Pilotensitz und zugleich laufe ich den Weg zum Gebäude der Golyten entlang. Ich blicke auf die Menschenmenge unter mir, als ich die Luke schließe – darin für einen winzigen letzten Augenblick das blasse Gesicht Mauds –, und zugleich rufe ich verzweifelt nach dem Arzt, als mich kurz vor der Landung das Raumfieber packt. Ich sehe die Golyten ans Raumschiff kommen und uns aus der Erstarrung befreien, weil sie uns für harmlos halten, und zugleich höre ich Jack, der mir stammelnd berichtet, daß die Expansionsgeschwindigkeit des Weltraums in den letzten Tagen so rapide zugenommen hat, daß es fraglich scheint, ob unser Antrieb für die Rückkehr ausreicht.

Alles strudelt durcheinander, alles ist wirr und unverständlich, alles mischt sich, Wichtiges und Unwichtiges, Heiteres und Trauriges, Vergangenes und Zukünftiges. Erst allmählich gelingt es mir, mich auf ein kontinuierliches Zeitband zu konzentrieren und darüber klarzuwerden, was geschieht...

Da ist er wieder, der Schreck über die Worte Jacks. Um mich habe ich keine Angst. Aber Maud ist so ungeheuer fern und wartet. Wir prüfen die Berechnungen Jacks und finden unsere Befürchtungen bestätigt. Wir müssen sofort starten, und selbst dann ist fraglich, ob wir gegen den sich vergrößernden Abstand erfolgreich anlaufen können.

Das bedeutet mindestens zwei Jahre Ungewißheit. Zwei Jahre zwischen Hoffnung und Zweifel. Zwei Jahre, in denen ich jede Minute Angst haben muß, Angst, Maud nie wiederzusehen.

Ich denke gleich an die Golyten. Für sie gibt es keinen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft, alles was je geschieht, ist ihnen gleich gegenwärtig. Aber sie kümmern sich nicht um uns, sie geben uns weder Antwort noch Hilfe. Ich erinnere mich aber an die Bibliothek, an deren Durchsicht uns niemand gehindert hat. Für die Golyten hat sie offenbar Museumswert. Vielleicht verhilft sie mir aber zu einem Ausweg. Ich fürchte mich vor nichts, nur vor der Ungewissen Zukunft, die mir bevorsteht. Während die Kameraden den Start vorbereiten, suche ich Literatur über die Zeit. Nach einer halben Stunde finde ich, was ich brauche. Nach einer weiteren halben Stunde habe ich die Anlage aufgebaut, die diese kleine Eigentümlichkeit unseres Gehirns beseitigt, stets nur einen kleinen Ausschnitt aus der Zeit ins Bewußtsein zu heben. Ohne Zögern schalte ich das Feld ein.

Ich sitze im Pilotensitz. Ist es zu Beginn oder gegen Ende der Reise, die fast drei Jahre dauert? Was sind drei Jahre? Eine Koordinatendifferenz. Zugleich schließe ich Maud in die Arme. Wenn ich ihren Körper an meinem spüre, ist es gleichgültig, ob es Abschied oder Wiedersehen ist. Vielleicht ist sie das junge Mädchen, das ich – ohne die Kälte zu beachten – an einem stürmischen Winterabend zum erstenmal küsse, vielleicht die alte Frau, die sich gebrechlich zu mir herüberbeugt. Aber neben dem Glück ist stets das andere gleich gegenwärtig. Jahre des Alleinseins und die Abgründe an den Enden meines Lebens. Es gibt keine Hoffnung mehr, nur Gewißheit. Jetzt weiß ich aber, daß es gerade die Hoffnung ist, die unserem Leben den Sinn gibt.

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