19 Besuch am Abend

Der ewig forschende Menschengeist sucht sich oft Aufgaben, die zu schwer für ihn sind und an denen er zerbricht.

Seit Menschengedenken lebt unsere Familie am Polje von Biluka, nicht weit von der Burg derer von Sirp. Wie ein Raubvogelnest hängt sie oben an der Wand. Nur ein Weg führt hinauf, und der läuft an unserem Haus vorbei. Selten versäumt einer, der dorthin will, vor dem mühseligen Aufstieg noch einmal in unserer Herberge Rast zu machen und sich zu stärken.

Die Herren von Sirp hatten keinen guten Ruf, und nicht immer ließen sie uns in Frieden. Aber wir wußten unsere Freiheit zu verteidigen. Heute noch erzählt man sich von dem Streit, den mein Urgroßvater mit ihnen hatte und der erst dadurch beendet wurde, daß er die einzige Tochter des Burgherrn oben in der Schlucht abfing und in unseren Keller sperrte. Er gab ihr kaum zu essen und kein Wasser zum Waschen und führte sie jeden Tag die Biluka entlang. Dabei hielt er sich so eng an sie, daß die Gegner nicht zu schießen wagten. Vom anderen Ufer konnte der Herr von Sirp sehen, wie sie von Tag zu Tag magerer und schmutziger wurde – das Haar hing ihr in Strähnen herunter. Aber erst am zehnten Tag gab er seine Belagerung auf. Und als er dann abzog, konnte man ihn noch eine Viertelstunde weit fluchen hören.

Heute ist das Verhältnis nicht mehr so gespannt, dennoch sehen wir einander stets mit gewissem Mißtrauen an. Es lebt nur mehr einer oben in der Burg, Mirko von Sirp, und es scheint, er wird der letzte seiner Sippe bleiben. Man hört, daß er sich schon dreimal verheiraten wollte, doch jedesmal paßte ihm irgend etwas an seinen Bräuten nicht, und er jagte sie mit Schimpf und Schande aus dem Haus.

Das liegt nun schon Jahre zurück. Was er jetzt eigentlich treibt, weiß niemand. Aber gerade darum munkeln die Holzknechte, die zu uns auf ein Gläschen Apfelschnaps kommen, manch seltsame Dinge über ihn. Ganz unrecht haben sie sicher nicht, denn welcher normale Mensch braucht solche Mengen von Porzellanteilen, Drähten und Chemikalien, wie sie die Arbeiter auf dem Rücken den Berg hinaufschleppen mußten, während sie die Lastwagen bei uns einstellten. Ihn selbst hatte ich schon lange nicht mehr getroffen. Doch wenn ich mich an diese unsere vorletzte Begegnung erinnere, dann muß ich zugeben, daß er sich tatsächlich etwas merkwürdig gebärdete. Ich sah ihn nämlich unten am Waldrand in hastigen Sprüngen über die Wiese hetzen, wobei er mehrfach jäh die Richtung wechselte. Langsam kam ich dieser Szene näher und merkte, daß Sirp einem weißen Karnickel nachlief und es zu fangen versuchte. Das Tier schlug jedoch einen Haken nach dem andern und Sirp blieb immer weiter zurück. Ich zeigte mich nicht, ließ aber meinen Hund los und hetzte ihn auf das Tier. Die beiden verschwanden rasch im Wald. Nach einer Weile kam der Hund zurück, doch wie sah er aus! Er ließ die Rute hängen und blutete von den Lefzen, und als ich genauer schaute, fand ich, daß er das Maul voller Glassplitter hatte.

Seither traf ich mit Sirp nicht mehr zusammen. Um so erstaunter war ich, als es eines Abends ungestüm an der Tür pochte, und er eintrat. Aber nicht allein: Ein weibliches Wesen kam mit ihm. Soviel ich im trüben Licht unserer Lampen erkennen konnte, war es eine junge Frau, vielleicht auch ein Mädchen, schlank wie eine Gerte, zart wie eine Taubenfeder.

»Schau nicht lang herum, richt ein Zimmer her für meine Frau und mich!« polterte Mirko und hielt seinen Arm um die Taille der Frau gelegt, als müßte er sie stützen.

»... Geduld«, gab ich zurück. »Setz dich erst nieder, iß etwas und trink.«

Ich schickte die Magd zu den Zimmern hinauf und holte Brot und Wein.

Mit unwilligem Knurren ließ sich Sirp nieder, seine Gemahlin neben ihm, und während er nach Speis und Trank griff, nahm sie keinen Bissen zu sich.

Mir kam die Sache nicht geheuer vor. Die junge Frau war so still und traurig, daß mir das Herz schwer wurde. Sie ist unglücklich, dachte ich. Kein Wunder bei dem alten knurrigen Griesgram. Schlecht sah sie aus, das Gesicht war von einer durchscheinenden Blässe, aber – und Gott ist mein Zeuge – es war so schön, daß man es nicht beschreiben kann. Mich erfaßte plötzlich ein unbezähmbares Mitleid, und ich legte auf der dem Burgherrn abgewandten Seite meine Hand auf die ihre, die wie tot auf der Bank lag. Sie machte keine Abwehrbewegung, willenlos lagen die Finger in den meinen. Kein Funken von Leben war in dieser Hand. Was mußte dieses feine Wesen bei diesem Klotz Sirp ausstehen!

»... Zimmer ist bereit, Herr!« meldete die Magd, und schon war Mirko aufgesprungen und zerrte seine junge Gattin hinter sich die Stufen hinauf.

Ich hörte oben die Tür gehen, Schleifen von Schritten, das Rücken eines Stuhls. Dann erschien er plötzlich wieder und fragte mich aufgeregt, warum die Spannung an der Lichtleitung so niedrig sei.

»Heilige Mutter«, sagte ich, »wo soll denn stärkere Spannung herkommen, wenn doch die Biluka halb ausgetrocknet ist. Unser Aggregat arbeitet nicht ohne Wasser!«

»... kann man tun?« rief Sirp.

Ich antwortete: »... Schlafengehen reicht das Licht«, und drehte mich um. Unverständliche Worte vor sich hermurmelnd, stapfte er wieder hinaus. Wieder begannen oben Schritte, die Dielen knackten, und als ich schon zur Ruhe gegangen war, kam es mir vor, als ob ich von oben her leises Weinen hörte.

Dann muß ich doch eingeschlafen sein. Erst ein gegen Morgen einsetzendes Gewitter weckte mich. Es war schwül, und ich setzte mich schweißgebadet auf, um nach der Uhr zu sehen. Ich sah jedoch nur, daß das Licht ganz grell und blendend brannte – die Biluka mußte mit einem Male Unmengen Wasser führen –, da gab es irgendwo im Haus einen Schlag und es war wieder stockdunkel, nur die Blitze zuckten. Ich war zu müde, um gleich nach den Sicherungen zu sehen. Erst als einige Zeit später eine Tür schlug, raffte ich mich auf. Mir fiel auf, daß der Hut des Grafen vom Kleiderständer verschwunden war, daraufhin stieg ich nach oben, die Zimmertür stand offen, der Raum war leer. Aber durchs Fenster sah ich in der aufsteigenden Morgendämmerung eine menschliche Gestalt, die etwas Lichtes in den Armen trug, sich gegen das Polje zu bewegen. Irgend etwas bei diesem Anblick setzte mich in unbeschreibliche Aufregung, meine Beine begannen zu zittern, doch dann lief ich, so schnell ich es vermochte, hinunter und hinter den beiden her. Sie verschwanden gerade hinter der Felsbarriere.

Als ich die Biluka erreichte, war weit und breit nichts zu sehen. Das Wasser strudelte trüb und gelblich, es reichte fast bis zum Rand des Flußbettes. Die paar Schritte bis zur Schwinde legte ich mehr stürzend als laufend zurück. Das Wasser fiel mit Gebraus in den runden Kessel hinein.

Einen Blick warf ich hinunter – da trieb ein heller Körper in dem aufgestauten Wasser! Von Mirko keine Spur.

Vorsichtig kletterte ich in einem Kluftriß hinunter, ein schmales ebenes Band zog hier in einem Halbkreis an der Wand entlang. Mit einer Hand an eine Felszunge geklammert, versuchte ich mit der andern, die treibende Gestalt zu ergreifen. Endlich konnte ich einen Arm erfassen, das gischtende Wasser wollte mir meine Beute wieder entreißen, aber es glückte mir doch, die Verunglückte aufs Land zu zerren. Noch immer war das Gesicht von einem unbeschreiblichen Liebreiz, kein Kratzer verunstaltete die feinen Züge. Mir fiel auf, daß überhaupt keine Verletzung zu bemerken war. Erst als ich den Körper auf den Rücken drehte, fand ich einen großen versengten Fleck an der Schulter und noch etwas: Ein Riß klaffte an der Achselhöhle, doch keine Spur von Blut war zu sehen, nur etwas Draht und einige Elektronenröhren kamen zum Vorschein.

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