29 Die Tausendfüßler

Kitsch ist schwer von Kunst zu trennen. Von ihm lebt die Vergnügungsindustrie. Er wird seine Geltung nicht verlieren, denn er ist die zuckersüße Ingredienz unserer heimlichen Sehnsüchte.

Dr. Mohammed Kirman schaltete alle Gedanken aus und gab sich dem Kommenden hin...

Die Dunkelheit, die ihn umfing, wich einer graugelben Dämmerung. Bald da, bald dort stieß eine weiße Wolke auf ihn zu, verharrte irgendwo in der Nähe und fiel dann jäh zurück. Manchmal umfaßte ihn der Nebel, wogte, wallte und war schon wieder verschwunden, wie weggeblasen. Ihm entgegen wölbte sich eine Kugel, links in ein Meer gelben Lichtes gebadet, rechts in fahles Violett getaucht. In der Mitte wanderte eine Zone des Halbdunkels, aus der sich einzelne Berge als scharf gezeichnete Kegel heraushoben.

Das Raumboot schwenkte um und schwebte heckvoran dem Land entgegen. Mohammed übernahm die Kontrolle und dirigierte es auf einen bewaldeten Wiesenhang zu, der durch ein burgartiges Gebäude begrenzt war. Er setzte ruhig auf, öffnete die Schraubtür und sprang hinaus. Die Erde war von dünnem braunem Gras bedeckt. Einzelne orangene Lampionblumen schwankten im Wind. Das Burgtor öffnete sich, und einige Gyroschweber kamen auf ihn zu. Ihnen entstiegen Männer in wallenden Gewändern, und einer von ihnen, silbergeschmückt, trat auf ihn zu. Die anderen bildeten in achtungsvoller Entfernung einen Halbkreis.

»... bin der Herr dieses Planeten«, begann er und begleitete seine Worte mit einer weitausholenden Bewegung. »... heiße dich bei uns willkommen. Komm auf mein Schloß – zu einem kleinen Mahl.«

Mohammed dankte und stieg auf einen Schweber, der sich sofort in Bewegung setzte. Er betrachtete seine Begleiter – braunhäutige, wollhaarige Gestalten, ein wenig exotisch, aber freundlich, vertrauenerweckend.

Das stattliche Gebäude war prächtig eingerichtet. Sie saßen auf dem flachen Dach eines der Türme und genossen den Rundblick über die Landschaft, die sich in flachen Wellen bis zu einem Flußlauf senkte und von dort aus bis zu einer Kette schneebedeckter Kegelberge anstieg, zwischen denen die Sonnenscheibe versank. Er saß zwischen dem Gebieter und dessen Tochter Meena, einer achtzehnjährigen, dunklen, glutäugigen Schönheit, und hörte sich Erzählungen über das Leben auf diesem Planeten an. Es verlief im allgemeinen friedlich, doch hatten sich vor kurzem auf einem Mond unbekannte Wesen festgesetzt, die zwar bis jetzt noch nicht in Erscheinung getreten waren, doch vielleicht eine Bedrohung darstellten. Dann lag er in einem breiten Himmelbett und mußte eben eingeschlafen sein, als ihn ein Knirschen weckte. Er schaltete das Licht an und sah einen grauen zylindrischen Körper aus der Wand herauskommen, etwa einen Meter hoch und zwei Meter lang. Der Vorderteil spitzte sich zu und begann mit einer Öffnung, die mit einem Gitter verschlossen war. Was in dessen Bereich gelangte, wurde eingesaugt und kam hinten in Brocken zerlegt wieder heraus.

Das Fahrzeug bewegte sich quer durch den Raum. Mit einem mahlenden Geräusch schob es eine Welle von Schutt vor sich her. Sonst ging der Vorgang bemerkenswert still vor sich. Die gegenüberliegende Wand bildete ihm kein Hindernis, es drang ohne Stocken ein, schob sich hindurch und ließ eine häßliche runde Öffnung in der Wand zurück.

Mohammed sprang aus dem Bett, packte seinen Blaster und lief auf den Gang hinaus. Er war matt beleuchtet, einige aufgeregte Männer tauchten an den Türen auf, da und dort erschienen und verschwanden metallglänzende Zylinder. Das Knirschen drang jetzt durch das ganze Schloß.

Und dann erscholl ein Schreckensruf: »Meena wurde entführt!« Jetzt waren nur noch einzelne Fahrzeuge der Eindringlinge sichtbar. Die Schloßbewohner hatten sich so weit gesammelt, daß sie ihre Waffen darauf richten konnten. Aber die Schüsse prallten wirkungslos ab.

Mohammed sah gerade einen Zylinder in eine Mauer eindringen, als er auch schon seinen Blaster darauf richtete. Die Rückwand lief rot an und löste sich dann in eine Staubwolke auf. Als sich aber das Gefährt ungehemmt weiterbewegte, lief Mohammed nach, sprang auf, drang ein...

Er fühlte einen Stoß am Knie, das Geräusch schleifender Schritte drang zu ihm durch. Mit der Hand wehrte er unwillig ab. Einige gemurmelte Worte der Entschuldigung. Die Störung war beseitigt, er konnte sich wieder ganz dem Geschehen hingeben...

Im Hohlraum lag ein Tausendfüßler, fast eineinhalb Meter lang, ein vielfach gegliedertes, borstig behaartes Wesen mit überentwickeltem, geschnäbeltem Kopf. Er schien durch den Blasterstoß betäubt zu sein. Das Fahrzeug aber schob sich weiter – offenbar war es automatisch gelenkt. Mohammed warf den leblosen Körper heraus. Vorne bewegte sich eine Platte, sie wölbte sich auf, Reliefmuster liefen darüber hinweg. Da erkannte er, daß es sich um eine Art Abbild der Außenwelt handelte, wohl um jene Form, die mit Fühlern versehenen Wesen am besten angepaßt ist. Es war zuerst ein wenig schwierig, die Bilder zu lesen, aber Mohammed gewöhnte sich bald daran: Sie befanden sich auf dem Weg über den Wiesenhang, und nun tauchte ein scheibenförmiger durchlöcherter Körper vor ihnen auf. Jeder der Fahrzylinder schob sich in ein Loch, das sich hinter ihm schloß, und als alle geborgen waren, erhob sich das Rad und schwebte in die Höhe. Bald war das Ziel zu erkennen: ein ellipsoidischer Mond, der bald den Himmel beherrschte.

Als sie landeten, sah Mohammed Unmengen von Tausendfüßlern versammelt. Die im Schiff Befindlichen krochen heraus und einige schoben Meena vor sich her, die die Hände vor die Augen drückte – sie war außer sich vor Angst.

Eine unbändige Wut ergriff Mohammed. Er richtete seinen Blaster auf die Chitinleiber – es war ein wohliges Gefühl zuzusehen, wie sich die häßlichen Tiere reihenweise in Staub auflösten. Nur jene um das Mädchen herum mußte er schonen. Als alle übrigen niedergemäht waren, nahm er den Blaster beim Lauf und stürzte auf die Gliederfüßler zu. Ein mörderischer Kampf begann. Mit dem Griff seiner Waffe drosch er darauf los. Glücklicherweise waren den Insekten keine automatischen Abwehrmittel greifbar, aber sie verteidigten sich mit ihren natürlichen Paaren von spitzen Stacheln, die ihren Hinterleibern entwuchsen.

Mohammed sprang vor und zurück, stets auf der Hut, getroffen zu werden, keine Gelegenheit verpassend, furchtbare Schläge auszuteilen. Gestachelte Hinterleiber bäumten sich vor ihm auf, sein Blaster zuckte vor, eines der Tiere nach dem andern krümmte sich, blieb hilflos zappelnd liegen, dann stand er allein mit Meena, inmitten der greulichen hingestreckten Körper. Noch immer preßte sie sich die Hände vor die Augen. Zart faßte Mohammed ihre Arme, zog ihr die Hände vom Gesicht.

»... sind gerettet«, sagte er leise.

Meena blickte auf, ihm in die Augen, sie erkannte ihn, lächelte. Dann sah sie die Kampfspuren um sich herum – sie schloß die Augen wieder und lehnte den Kopf an seine Schulter.

Erst jetzt fand Mohammed Zeit, seinen Taschenfunker in Betrieb zu setzen. Einen Arm schützend um Meena gelegt, zog er die Antenne...

Die Umgebung verblaßte, verschwamm, wurde grau, dann schwarz. Bankreihen formten sich aus dem Nichts, die Köpfe der Kollegen bewegten sich unruhig.

Prof. Petroff trat auf das Podium: »... habe die Vorführung dieses Machwerks unterbrochen – ich glaube, es erübrigt sich, den Film bis zum Ende durchlaufen zu lassen. Was ich damit zeigen wollte...«

Dr. Mohammed Kirman, Bundesbeauftragter für Erwachsenenbildung, öffnete den Riemen und schob die Kontaktplatte von den Schläfen. Die Vorhänge hoben sich, draußen wurde die Stadt sichtbar – die Luft- und Wasserbehälter, die Energiestrahlenantennen, die Ortungstürme für den Weltraumflug –, eine Wüste aus Metall und Plastik. Aber er sah nichts davon, und er hörte auch die Worte seiner Kollegen nicht, die mit der Diskussion begannen. In ihm klang etwas nach, das er nicht in Worte fassen konnte, das er gern gehalten hätte und das ihm doch von Sekunde zu Sekunde mehr entglitt.

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