Rayan erwachte wieder, als sie ihn an Bord brachten. Die Männer hatten aus Segeltuch und Stangen eine Trage improvisiert, aber die SHAROKAAN schlingerte so, daß das Gestell immer wieder gegen das Schiff stieß und sich die Erschütterungen schmerzhaft auf den Freisegler übertrugen. Rayan stöhnte, bewegte sich unruhig und warf den Kopf hin und her. Aber sein Blick war klar, als er zu Skar hinaufsah. Skar wartete, bis die Matrosen das Tragegestell abgesetzt hatten. Jemand hängte ihm eine vorgewärmte Decke über die Schultern, und in seinen Händen dampfte ein Becher mit heißem Wein; Dinge, die die Freisegler für sie alle bereithielten und die plötzlich sinnlos geworden waren. Allmählich kehrte das Gefühl in seine abgestorbenen Glieder zurück; ein schmerzhaftes Kribbeln und Stechen, das jede Bewegung zur Qual werden ließ. Zum ersten Mal, seit er die SHAROKAAN betreten hatte, sehnte er sich nach der muffigen Kabine unter Deck. »Skar...« Rayan hob den Kopf, starrte sekundenlang auf den Stumpf seines rechten Armes und zog eine Grimasse. »Jetzt... hat er uns doch noch erwischt...«, flüsterte er.
Skar tauschte einen Blick mit Helth, nahm einen Schluck Wein und kniete neben der Bahre nieder. Der Vede begann unruhig hinter ihm auf und ab zu gehen. Seine Hände zuckten, und seine Lippen flüsterten lautlose Worte.
Skar legte die Hand unter Rayans Kopf, zwang sich, das zerstörte Gesicht des Freiseglers anzusehen und setzte ihm den Becher mit dem heißen Wein an die Lippen. Rayan wehrte mühsam ab. »Laß es, Satai«, murmelte er. »Es ist... Verschwendung. Man gießt keinen guten Wein in ein durchlöchertes Faß.«
»Sprich jetzt nicht, Rayan«, sagte Skar. »Ich habe nach Gowenna geschickt. Sie wird dir helfen.«
»Unsinn.« Rayans Stimme zitterte, aber sie war trotzdem noch klar. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal mehr Schmerzen. »Ich weiß, daß... daß ich sterbe. Jetzt. Aber das... das macht nichts. Ich... ich wußte immer, daß er mich eines Tages erwischen würde. Es war... es war ein Spiel, weißt du? Ein Spiel um den höchsten Einsatz, um den ein Mann spielen kann. Fast... fast hätte ich gewonnen.«
Skar musterte den Freisegler verwirrt. Er verstand nicht, was Rayan ihm mit seinen Worten sagen wollte, aber er begriff, daß sie mehr waren als die Fieberphantasien eines Sterbenden.
»Er hat uns alle geholt«, fuhr Rayan fort. »Einen nach dem anderen. Zuerst Suquann, dann... dann Brad... und... und jetzt mich... Helth... was... was ist mit Helth?«
»Er lebt«, sagte Skar leise. Der Vede kniete neben ihm nieder und legte behutsam die Hand auf Rayans Schulter. »Dein Sohn lebt.« Rayan sah Skar mit einer Spur von Überraschung an. »Du... weißt...«
»Brad erzählte es mir, ehe er starb. Oben, auf der Klippe.«
»Er muß... großes Vertrauen zu dir gehabt haben«, murmelte Rayan. »Es... es gibt nicht sehr viele Menschen, die das Vertrauen eines Veden erringen.«
Skar sah auf, als hinter ihm hastige Schritte über das Deck polterten und Gowenna herbeigeeilt kam. Ein Ausdruck ungläubigen Schreckens huschte über ihr Gesicht, als sie den verletzten Freisegler sah. Sie ließ sich neben Rayan in die Hocke sinken und untersuchte mit geübten Bewegungen seinen Arm und die Wunde in seinem Schädel. »Was ist passiert?« fragte sie ungläubig. »Bei allen Göttern, Skar - was ist dort draußen geschehen?«
»Der Dronte«, murmelte Helth dumpf. »Er war nicht ganz so tot, wie dein Freund geglaubt hat.«
Skar sah alarmiert auf, aber Helth starrte mit unbewegtem Gesicht auf den See hinaus. Er schüttelte den Kopf, ließ Rayans Haupt behutsam zurücksinken und setzte sich etwas bequemer hin.
»Kannst du ihm helfen?« fragte er leise.
Gowenna lächelte traurig. »Ich kann ihm seinen Tod erleichtern, Skar«, sagte sie. »Mehr nicht.«
Helth fuhr auf. »Aber du hast ihn ja nicht einmal untersucht.«
»Es gibt nichts, was ich für ihn tun könnte«, wiederholte Gowenna ruhig. »Es tut mir leid, Helth. Er stirbt.«
»Die... die Errish könnte ihm helfen«, stammelte Helth. Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, war von seiner übermenschlichen Selbstbeherrschung nicht einmal mehr eine Spur geblieben. Er war jetzt nur noch ein Sohn, der um seinen sterbenden Vater bangte. »Auch sie kann nicht zaubern, Helth«, erwiderte Gowenna. »Die Errish können heilen, aber wo der Tod einmal seinen Anspruch angemeldet hat, sind auch sie hilflos.«
»Versuche es«, bat Skar. »Geh hinunter und hole sie.«
»Aber es ist sinnlos, Skar«, sagte Gowenna. »Du weißt es so gut wie ich. Sie...«
»Sie steht unter dem Einfluß der Droge, die du ihr gibst«, sagte Del hart. »Das ist es doch, nicht wahr?«
Gowenna sah mit einem zornigen Laut auf. »Das ist es nicht«, sagte sie wütend. »Sie könnte so oder so nichts mehr für ihn tun. Er stirbt. Er ist schon tot, siehst du das nicht? Er wehrt sich nur noch.«
»Hört auf«, murmelte Rayan. »Bitte - Gowenna hat recht. Ich... weiß, daß es zu Ende geht. Aber... aber ich möchte dich um etwas bitten, Satai. Du... du mußt mir etwas versprechen.«
Skar nickte, und Rayan fuhr nach langem Schweigen fort: »Ich habe dich belogen, Skar. Dich und Gowenna. Es... war kein Zufall, daß wir auf den Dronte gestoßen sind. Nicht auf dieser Fahrt.«
»Wie meinst du das?« fragte Skar. Er spürte, wie sich Helth neben ihm spannte.
Rayans zerschmettertes Gesicht verzerrte sich zu einem mühsamen Lächeln. »Ich habe ihn gesucht«, sagte er. »Mein ganzes Leben lang habe ich ihn gesucht. Ich wollte ihn haben. Ich... wollte diesen Kampf. Die letzten zwanzig Jahre meines Lebens habe ich allein dieser Aufgabe gewidmet, Skar. Ich... habe mehr Fahrten durch das Gebiet des Dronte gemacht als irgendein anderer Kapitän. Ich... ich wußte, daß es eines Tages so kommen würde. Und ich wußte auch, daß nur einer von uns die Begegnung überleben konnte. Die Welt ist nicht groß genug für den Dronte und mich.«
»Den Dronte?« wiederholte Skar betont. »Du redest, als gäbe es nur diesen einen.«
»Das stimmt«, nickte Rayan. »Ich... ich habe ihn so oft gesehen wie kein anderer. Es gibt nur diesen einen. Deshalb... muß er vernichtet werden.«
»Du bist absichtlich in sein Gebiet gesegelt?« fragte Skar ungläubig. »Ja. Noch... noch nie waren die Karten besser verteilt. Wir hätten es schaffen können. Wir waren nicht so wehrlos wie die anderen. Zwei Veden und zwei Satai auf einem Schiff... Der... der Dronte hat niemals gegen einen gefährlicheren Gegner kämpfen müssen. Wir haben auf diesen Tag zwanzig Jahre lang gewartet, Brad, Helth und ich.«
»Aber warum?« fragte Skar. Er ahnte den Sinn von Rayans Worten. Aber sein Verstand weigerte sich, sie zu glauben.
»Suquann«, murmelte Rayan. »Sie war... mein Weib. Die Mutter von Brad und Helth. Sie... sie starb, als das Schiff, mit dem sie nach Hause kommen sollte, vom Dronte vernichtet wurde. An... an diesem Tag habe ich Rache geschworen. Und... ich habe meinen Schwur gehalten. Beinahe, jedenfalls.« Mit einer Kraft, die Skar seinem geschundenen Körper niemals mehr zugetraut hätte, stemmte er sich hoch und sah ihn an.
»Versprich mir etwas, Satai«, flüsterte er. »Rette das Schiff. Ich... lege das Kommando in deine Hände. Du... du kannst es schaffen, Skar. Nur du.«
»Aber Helth...«
Rayan unterbrach ihn mit einem abgehackten Kopfschütteln.
»Du!« beharrte er. »Du bist... wie Brad, und Brad... hätte es geschafft. Es darf nicht alles umsonst gewesen sein! Ich will nicht, daß alle umsonst gestorben sind. Rette das Schiff, Skar! Du... du mußt es zurückbringen und allen sagen, was hier geschehen ist. Sie müssen es wissen. Die... die ganze Welt muß erfahren, daß der Dronte nicht unverwundbar ist. Wir... hätten es schaffen können, aber wir waren nicht stark genug. Aber wenn es alle wissen..., sie..., gemeinsam können sie es schaffen. Gemeinsam können sie ihn vernichten... Sage ihnen, wie man das Meer von dieser Plage befreien kann. Sag ihnen, wie...« Seine Stimme ging in einem unterdrückten Aufschrei unter, als ein neuer Krampf seinen Körper schüttelte. Er fiel zurück, bäumte sich noch einmal auf und lag dann still.
»Er ist tot«, sagte Gowenna.
Skar nickte. Rayan war tot, aber es war ein Tod, um den Skar den Freisegler fast beneidete, trotz all der Qualen, mit denen er verbunden gewesen war. Wenigstens hatte er etwas mit hinüber in das dunkle, schweigende Reich jenseits des Styx nehmen können. Etwas, das wohl die wenigsten auf diesem Fluß ohne Wiederkehr bei sich hatten: Hoffnung.
Er stand auf und winkte einen Matrosen herbei. »Bringt ihn fort. Und behandelt ihn vorsichtig. Er war ein tapferer Mann.«
Ein paar der Seeleute machten sich daran, seinen Befehl zu befolgen, während die anderen stumm dastanden und abwechselnd Skar und den Veden ansahen.
Skar spürte plötzlich die Spannung, die zwischen ihm und Helth bestand. Die ganze Mannschaft war hier auf dem Vorderdeck zusammengekommen. Sie alle hatten die letzten Worte ihres Kapitäns vernommen, und es war wohl nicht einer unter ihnen, der nicht wußte, welcher Schrecken in der treibenden Nebelwand dort vorne auf sie lauerte. Auf allen Gesichtern waren die gleichen Empfindungen geschrieben: Angst, Hoffnungslosigkeit und Schrecken; da und dort Verzweiflung. Keine Hoffnung mehr. Mit Rayan war mehr gestorben als ihr Kapitän.
Skar begann sich mit jeder Sekunde unwohler zu fühlen. Der Freisegler hatte ihm die Verantwortung für ein halbes Hundert Menschenleben aufgebürdet. Eine Verantwortung, die er weder tragen konnte noch wollte. Und da war noch Helth. Rayans Sohn und Erbe. Auch wenn ihn die Besatzung offensichtlich nicht besonders mochte, so war er immer noch Rayans Sohn und bekannter als Skar, der fremde, von allen halbwegs gefürchtete, halbwegs wohl auch bewunderte, aber von keinem geliebte Satai.
»Ihr habt gehört, was Rayan gesagt hat«, sagte er laut. »Ich bin euer neuer Kapitän, bis wir einen Hafen erreicht haben. Erkennt ihr mich an?«
Sein Blick glitt über die Reihe stummer Gesichter und bohrte sich schließlich in den des Veden. Helth blieb stumm; sein Gesicht eine starre, undurchdringliche Maske.
»Erkennt ihr mich an?« fragte er noch einmal.
»Sie werden dich nie anerkennen«, sagte Helth leise. »Nicht dich, Satai. Aber Rayans Letzten Willen. Du bist der Kommandant.«
»Und du Rayans Sohn«, gab Skar ebenso leise zurück. »Ich will keinen Streit mit dir, Helth.«
Der Vede lachte leise. »Ich beuge mich Rayans Wunsch. Er wußte, was er tat. Und ich beneide dich nicht um deine Aufgabe, Satai. Wahrhaftig nicht.« Er starrte Skar noch einen Herzschlag lang durchdringend an, wandte sich dann mit einem Ruck um und ging steifbeinig zum Heck. Skar sah ihm nach, bis er unter Deck verschwunden war. Er straffte sich. Helth' Worte hatten die letzten Hindernisse beseitigt. Er spürte, daß die Besatzung ihm gehorchen würde, ob er nun ein Fremder war oder nicht.
»Gut«, sagte er mit erhobener Stimme. »Ihr alle habt es gehört. Wendet das Schiff. Wir fahren zurück zum Eisstrand.«