13.

Noch während der Nacht hatte es zu schneien begonnen: schwere, nasse Flocken, die beinahe senkrecht zu Boden schwebten und alles, was mehr als zehn oder zwölf Schritte entfernt war, hinter einem wehenden weißen Schleier verschwimmen ließen. Die Kälte nahm ein wenig ab, aber das flockige Weiß, das sie einzuhüllen begann, ließ die Welt unwirklich werden und erfüllte die gewaltige weiße Ebene mit Leben und Bewegung, die nicht da waren. Es war, als wäre ein zorniger Gott mit einer einzigen gewaltigen Bewegung über die Welt gefahren und hätte jeden Unterschied zwischen Himmel und Erde verwischt. Das Eis dehnte sich endlos vor ihnen aus. Skar hatte längst den Glauben an ein Vorne oder Hinten, Rechts oder Links oder Oben und Unten, irgendeine beliebige Richtung, aufgegeben; es gab nur noch diese endlose blinkende Fläche aus mattglänzendem brüchigem Eis, die das schwache Licht der Sterne, das ab und zu zwischen den zerrissenen weißen Schleiern über ihren Köpfen sichtbar wurde, und die Geräusche ihres mühsamen Vorwärtsquälens wie ein gewaltiger schwarzer Schwamm aufsaugte, als wäre ihre Bewegung nicht mehr als bloße Illusion.

Skar wechselte sein Bündel zum fünften oder sechsten Mal innerhalb der letzten halben Stunde auf die andere Schulter. Das Gewicht schien seinen Körper trotzdem wie eine Zentnerlast niederzudrücken, als schleppe er Felsbrocken statt ein paar Nahrungsmittel und Decken. Er ging vornübergebeugt und schleppend wie ein alter Mann. Skar konnte fühlen, wie das Reservoir an Energie in seinem Inneren von Augenblick zu Augenblick zusammenschmolz. Seine Kräfte ließen jetzt rapide nach, und mit der Erschöpfung machte sich auch eine beständig stärker werdende Übelkeit in ihm breit. In seinem Mund war bitterer Kupfergeschmack, und seine Beine waren von den Knien abwärts taub; starre Klötze aus Eis, die jede Bewegung mit einer Welle stechender Schmerzen quittierten. Die Luft schien aus winzigen Eiskristallen zu bestehen, die seiner Kehle bei jedem Atemzug eine neue Anzahl kleiner schmerzhafter Schnitte zufügten.

Sie waren unmittelbar nach seiner und Gowennas Rückkehr in die Höhle aufgebrochen. Keiner der Freisegler hatte auch nur mit einem Wort widersprochen, als Gowenna sie aufforderte, das Nötigste an Nahrung und Kleidungsstücken zusammenzupacken und auf die Eismauer hinaufzuschaffen, aber der Aufbruch kostete mehr Zeit, als Skar vorher geglaubt hatte. Die Männer waren erschöpft, ausgelaugt bis an den Rand des Zusammenbruchs, und es war, im nachhinein betrachtet, ein reines Wunder, daß der Aufstieg ohne Verletzte oder gar Tote abging.

Seltsamerweise hatte sie auch der Dronte in Ruhe gelassen. Er brannte noch immer, als sie endlich losmarschiert waren.

Jetzt waren sie unterwegs; eine Stunde, schätzte Skar, kaum daß sie sich eine, höchstens anderthalb Meilen nach Osten geschleppt hatten. Die Nacht mußte nahezu vorbei sein. Automatisch legte er den Kopf in den Nacken und blinzelte nach oben. Aber der immer dichter fallende Schnee machte es unmöglich, die Zeit anhand der Sterne zu bestimmen. Vielleicht würde diese Nacht auch nie mehr enden, und sie befanden sich auf dem Marsch ins ewige Nichts, hinein in einen Bereich der Welt, in dem selbst die Zeit gefroren war, und in dem es nichts mehr gab als den Tod.

Die Ebene war nicht so flach, wie sie geglaubt hatten, aber das monotone Weiß ließ alle Unterschiede verschwimmen. Es gab zahllose kleine eisige Buckel; Spalten und handbreite Risse, die den Boden wie ein Spinnennetz gefährlicher Fallstricke und Gruben bedeckten, und der Schnee überzog alles mit einer trügerischen weißen Decke, so daß sie sich noch vorsichtiger bewegen mußten und noch langsamer vorankamen als ohnehin. Selbst wenn die Berge - von denen er nun wußte, daß es sie gab - wirklich nicht mehr als zwanzig Meilen entfernt waren, würden sie länger als einen Tag und eine Nacht brauchen, um sie zu erreichen. Es waren nicht nur Erschöpfung und Kälte, die an ihren Kräften nagten; es war, als hätten sich alle Gewalten der Natur - oder welche Mächte auch immer über diesen Teil der Welt gebieten mochten - gegen sie verschworen. Vielleicht, überlegte Skar matt, war der Dronte gar nicht die reißende Bestie, für die sie ihn hielten, sondern nur ein Werkzeug dieses Landes, ein Ding, das zufällig dagewesen war und dessen sich der böse Geist dieser verbotenen Insel am Ende der Welt bediente, um sie zu vernichten.

Er lächelte. Wie immer, wenn er erschöpft war, begann er, Geheimnisse in Dingen zu sehen, die es nicht gab. Er fragte sich, ob es den Männern ebenso erging. Vielleicht war es gut, daß sie zu müde waren, um zu denken.

Skar sah immer wieder auf und versuchte, die gezackte Schattenlinie weit vor ihnen zu erkennen, aber je mehr er sich anstrengte, desto dichter schien der Schnee vor ihm zu wirbeln, und seine Müdigkeit ließ graue, treibende Schleier vor seinen Augen erscheinen, hinter denen wie ein knöchernes graues Gespenst Erschöpfung und Tod lauerten. Er blinzelte, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und atmete tief durch. Die eisige Luft schmerzte in seiner Kehle, aber die Kälte vertrieb auch die grauen Spinnweben, die sich hinter seiner Stirn eingenistet hatten und schufen für einen kurzen - einen ganz kurzen - Moment so etwas wie Klarheit in seinen Gedanken.

Einer der Männer strauchelte, versuchte mit einem raschen Schritt sein Gleichgewicht wiederzufinden, verlor aber auf dem unsicheren Boden dadurch erst vollends die Balance und fiel schwer auf die Knie. Der Laut, mit dem er auf das steinharte Eis prallte, drang wie ein dünner scharfer Schmerz durch den Mantel aus Lethargie, der sich für einen winzigen Moment um Skars Gedanken gelegt hatte. Der Mann wankte, versuchte sich auf Hände und Füße hochzustemmen und fiel unter dem Gewicht seines Bündels abermals nach vorne; Skar konnte es erkennen wie durch die Linse eines unsauber geschliffenen Teleskopes, die nur einen winzigen verschwommenen Kreis der Wirklichkeit bestehen ließ, während ringsum das Nichts lauerte. Er wartete darauf, daß der Mann aufstehen würde, aber er blieb liegen. Sein Gesicht war verzerrt, aber nicht der leiseste Schmerzenslaut kam ihm über die Lippen, und die anderen gingen einfach an ihm vorbei, als hätten sie seinen Fall nicht einmal bemerkt. Er versuchte sich hochzustemmen, aber seine Arme knickten unter dem Gewicht seines Körpers ein, und er stürzte ein drittes Mal schwer auf das glasharte Eis, das unter der trügerischen Decke aus Schnee lauerte. Erst beim vierten Versuch gelang es ihm, auf die Beine zu kommen und weiterzutaumeln.

Sie sind tot, dachte Skar mit einer seltsamen Mischung aus Resignation und Schrecken. Helth hatte recht. Seine Reaktion war falsch, aber er hatte recht. Der Dronte hat nicht nur die SHAROKAAN verbrannt, sondern auch ihr Leben. Sie sind tot. Ein Heer lebender Leichname, das nur noch weitermarschierte, weil er es befahl und sie ihm irgendwann einmal die Treue geschworen hatten. Weil sie ihm vertrauten. Aber er hatte sie enttäuscht. Sie hatten ihr Leben in seine Hände gelegt, und er hatte es verspielt. Von Helth war nur zu Ende gebracht worden, was von ihm begonnen worden war. Und alles, was Skar noch zu tun blieb, war, das Ende hinauszuzögern.

Er drehte müde den Kopf und versuchte den jungen Veden zwischen den anderen Männern zu entdecken, konnte es aber nicht. Helth hatte seine durchnäßten Gewänder abgelegt und sich wahllos irgendwelche Kleider aus den Vorräten herausgegriffen, und es gab jetzt nichts mehr, was ihn noch von einem der anderen unterschieden hätte. Das letzte Mal, daß Skar ihn bewußt gesehen hatte, war während des Aufstieges gewesen. Sie hatten dem Freisegler und Del von ihrer Begegnung mit den beiden Eisriesen erzählt, aber auch auf Helth' Gesicht war als Antwort auf diese neuerliche Hiobsbotschaft nur Resignation und Fatalismus zu lesen, kein wirklicher Schrecken mehr. Er ist auch tot, dachte Skar mit einem neuerlichen Anflug von Hysterie. Sein verzweifelter Angriff auf den Dronte war nicht mehr als ein kurzes Aufbegehren gewesen, ein letztes, kraftloses Flackern des Feuers, das einmal in ihm gebrannt hatte. Helth war im Grunde seiner Seele kein Vede. Er war Freisegler wie sein Vater, ein Mann, der für die Unendlichkeit des Meeres geboren war und nur dort wirklich leben konnte. Er war es immer gewesen und würde es immer bleiben. Mit seinen Kleidern hatte er auch seine Identität als Vede abgelegt; er war jetzt nicht mehr als ein müder verängstigter Mann unter anderen müden verängstigten Männern. Skar hatte für einen kurzen Augenblick darüber nachgedacht, wie Brad in dieser Situation reagiert hätte, aber er war zu keinem Ergebnis gekommen. Seltsam - es fiel ihm immer schwerer, sich auf den wortkargen Veden zu besinnen; die Erinnerung an ihn schien mit jedem Schritt ein kleines bißchen mehr zu verblassen. Nicht einmal sein Gesicht vermochte er sich noch vorzustellen - wenn er es versuchte, sah er nur eine verschwommene Fläche mit dünnen, konturlosen Linien, und selbst sie verschmolz sofort mit den weißen Schwaden vor ihm, verging, versank in der Vergangenheit, als hätte es sie nie gegeben.

Ein grauer Schatten löste sich aus der Gruppe und kam durch den treibenden Schnee auf ihn zu. Skar erwachte für einen Moment aus seiner Lethargie, als er Del erkannte. Er und Vela waren die einzigen, die keine Last trugen. Selbst die Verwundeten hatten sich ihr Bündel aufgeladen, nur der junge Satai nicht. Es hatte ihn auch niemand darum gebeten. Von wenigen kurzen Ausnahmen abgesehen, trug er Vela. Sie war zu schwach zum Laufen.

»Nun«, sagte Skar, »willst du nachsehen, ob ich noch nicht zusammenbreche?« Er versuchte, spöttisch zu klingen, aber es mißlang. Del schwieg einen Moment und sah ihn ernst an. Er fiel zurück, ging schneller und versuchte sich an den Rhythmus von Skars Schritten zu gewöhnen; aber es schien ihm schwerzufallen. Der Blick, mit dem ihn Skar musterte, gefiel ihm nicht. »Ich mache mir Sorgen um dich«, begann Del ernst.

Skar lächelte mühsam. »Wenigstens einer«, murmelte er. »Aber keine Angst - ich halte schon noch ein bißchen durch.« Er hob die Hand und wischte sich eine Schneeflocke aus dem Auge. Seine Haut prickelte vor Kälte.

»Etwas geschieht mit dir«, fuhr Del fort, ohne auf den bissigen Ton seiner Worte zu reagieren. »Etwas, das mir nicht gefällt. Du siehst müde aus.«

»Ich bin nicht mehr so recht in Form«, erwiderte Skar. »Normalerweise fechte ich in der Woche zwei bis drei Seeschlachten mit irgendwelchen Ungeheuern aus, weißt du? Aber in der letzten Zeit bin ich nicht mehr im Training.« Er lachte, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn Dels Worte erschreckt hatten. Sieht man es mir jetzt schon an? dachte er erschrocken. Steht es in meinem Gesicht geschrieben, daß ich den Kampf verliere? Daß ER immer stärker wird, und ich nicht mehr die Kraft habe, mich zu wehren?

Wieder schwieg Del eine Weile, als müsse er Skars Worte genau überdenken. Er war ruhiger geworden, seit sie sich wiedergefunden hatten. Ernsthafter. Seltsamerweise hatte es bis jetzt gedauert, bis Skar dies wirklich erkannte. Vielleicht, dachte er müde, war es wirklich so, daß Del einfach erwachsen wurde. Oder er selbst alt...

»Wenn ich dir helfen kann, Skar«, sagte Del, stockend und beinahe verlegen, »dann...«

»Ich glaube nicht, daß du mir helfen kannst«, murmelte Skar, ohne Del anzusehen. Lautlos und nur für sich fügte er hinzu: Niemand kann das, mein Junge. Nicht einmal der Mann, der du einmal warst. Es war weder der Dronte noch irgendeine der anderen Gefahren in ihrer Umgebung, was an ihm nagte, so sehr an den Kräften seiner Seele zehrte wie der eisige Wind und die Erschöpfung an denen seines Körpers. Er war es selbst, aber es war ein Teil von ihm, vor dem er sich fürchtete. Sein Dunkler Bruder. Seltsam - aber er hatte es noch nie so klar gesehen wie in diesem Augenblick. Und die Erkenntnis war eigentlich erst gekommen, nachdem er diesen Gedanken so bewußt formuliert hatte. Waren es überhaupt seine Gedanken ? Oder gewann dieses Ding jetzt bereits Gewalt über seine Zunge?

Del sah ihn nachdenklich an. »Du willst nicht darüber reden«, meinte er. »Gut. Es ist deine Sache. Aber wenn du Hilfe brauchst, dann rufe mich.«

Skar sah ihn an. Dels Gesicht wirkte so müde wie das der anderen, aber es war noch etwas darin, irgendwo zwischen den tiefen Linien der Erschöpfung. Er schien noch etwas sagen zu wollen, zuckte aber dann nur stumm mit den Achseln und ging ohne ein weiteres Wort.

Skar sah ihm nach, bis seine Gestalt im Schneetreiben mit den Schatten der anderen verschmolzen war. Er spürte Zorn, aber nur für einen kurzen Augenblick.

Del konnte nicht wissen, was es war, das er mit sich herumschleppte. Er wußte es ja nicht einmal selbst wirklich. Es war erwacht, als er in den glühenden Sanddünen der Nonakesh um sein Leben gekämpft hatte, aber es war schon lange vorher in ihm gewesen, vielleicht seit seiner Geburt, vielleicht sogar schon davor. Es war vielleicht der Grund, aus dem er Satai geworden war, aus dem er - selbst in der Kriegerkaste Enwors - ein herausragender Mann war, vielleicht der stärkste Satai, den es jemals gegeben hatte. Jemand, dem der Mythos der Unbesiegbarkeit vorauseilte. Vielleicht war er nicht einmal ein Mensch, dort unten, tief in seiner Seele, sondern vielleicht war das, was er selbst von sich wußte, nichts als eine Maske, hinter der das Ding jahrzehntelang geduldig gelauert hatte, eine Maske wie die Gowennas, nur ungleich perfekter, und vielleicht...

...und vielleicht waren Velas Worte wahr gewesen, und er trug wirklich das Erbe der alten Menschheit in sich, einen Teil einer Welt, die vor Äonen untergegangen war. Aber wenn das zutraf, wenn das, was er spürte, wenn diese finstere, nur aus Haß und Gewalt bestehende Facette seiner selbst wirklich das Erbe der alten Götter sein sollte, ein Schatten der Welt, wie sie einmal gewesen war, dann konnte es nur gut sein, daß sie versunken und vergessen war.

Er drehte sich herum und sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Eine Windböe riß den wehenden Schleier aus Grau und flockig fallendem Weiß auseinander, als hätte er in diesem Moment ein Anrecht auf besondere Klarheit, und er konnte den See erkennen; ein gewaltiges, perfekt gerundetes Loch, dessen seeseitige Begrenzung mit dem wogenden Grau des Ozeans verschmolz, so daß es aussah, als hätte ein Meeresungeheuer im Spiel ein gewaltiges Stück aus der Eismauer herausgebissen.

Warum war er eigentlich hier? Nicht hier auf diesem öden Eisklotz, auf den sie der Dronte gejagt hatte, sondern überhaupt hier in diesem Geschehen, auf das er längst keinen Einfluß mehr ausübte? Warum hatte er es zugelassen, daß ihn nun Gowenna statt Vela zu einem Bauer in ihrem Schachspiel degradierte?

Er wußte die Antwort nicht, noch nicht.

Aber er würde sie finden. Irgendwo dort vorne, hinter den Schatten, von denen sie nur hoffen konnten, daß sie Berge waren und daß hinter ihnen ein anderes, weniger tödliches Land lag.

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