Gowenna löste mit spitzen Fingern den blutdurchtränkten Verband von Skars Arm, schüttelte den Kopf und tunkte den Stoffetzen mehrmals hintereinander in eine Schale mit Wasser. »Ich habe schon Wunden behandelt, die besser aussahen«, murmelte sie.
Skar verdrehte den Hals und bewegte die Schulter, um die Wunde besser sehen zu können. Der Bizeps war geschwollen und rot und blau angelaufen, der Muskel verkrampft und schmerzend, und die Haut glänzte fiebrig. Trotzdem war es nicht mehr so schlimm wie zu Anfang. Wenigstens konnte er die Hand wieder bewegen, wenn auch nicht gut. Ein Schwert würde er in den nächsten Tagen kaum damit führen können.
»Du hast Glück gehabt, weißt du das?« fragte Gowenna, während sie den Verband wieder anlegte und prüfend mit den Fingerspitzen über Skars Haut fuhr. »So ein Ding ins Gesicht oder in den Hals...« Sie lächelte flüchtig, ließ sich zurücksinken und legte die Hände in den Schoß. Ihr Harnisch schrammte hörbar über das gefrorene Holz des Mastes. Es dämmerte. Die Sonne war bereits hinter der Krone der turmhohen Eismauer verschwunden, und die länger werdenden Schatten tasteten wie substanzlose Finger einer bizarren schwarzen Hand über den See. Rings um den flachen Eisstrand, an dem die SHAROKAAN angelegt hatte, schien noch die Sonne; ein winziger halbkreisförmiger Bereich goldener Helligkeit, von allen Seiten durch näher kriechende Schatten und Nacht bedrängt. Der Anblick erschien Skar von einer fast aufdringlichen Symbolik. Aber Symbole halfen weder ihm noch der Besatzung weiter. Was sie brauchten, war ein praktischer Vorschlag.
»Woran denkst du?« fragte Gowenna.
Skar lächelte. »Vielleicht an nichts. Wie kommst du darauf, daß ich denke?«
Gowennas Lächeln wurde um eine Spur spöttischer. »Man sieht es, großer weiser Meister«, sagte sie sarkastisch. »Außerdem höre ich deine Gedanken knirschen. Suchst du nach einer rettenden Idee?« Skar nickte. Gowennas offenkundiger Spott war ganz und gar unberechtigt, aber verständlich. Eine Art Galgenhumor, der ihr helfen mochte, mit der Situation fertig zu werden. So wie Helth in stummes Brüten verfallen war, Del in verbissenes Nachdenken und ein Großteil der Mannschaft seine Angst mit hektischer Arbeit betäubte, war es bei Gowenna Sarkasmus, in den sie Zuflucht suchte. Er paßte nicht zu ihr, aber die Frau, die ihm gegenübersaß, hatte ohnehin kaum noch viel mit der Gowenna gemein, die er vor fünf Monaten in Cosh verlassen hatte. Durch Velas Verrat war mehr in ihr zerstört worden, als ihm bisher klargeworden war. Sie hatte mehr verloren als ihr Vertrauen und ihre Schönheit. Sie hatte sich selbst verloren. Ihr scheinbar irrationales Verhalten war nichts als ein verzweifelter Versuch, eine neue Identität zu finden. Sie war zeit ihres Lebens immer in Rollen geschlüpft. Selbst zum Schluß, als sie gegen die Errish kämpfte, hatte sie nichts als eine Rolle gespielt: die der Rächerin. Jetzt konnte sie das nicht mehr. Er dachte daran, was sie einmal über Vela gesagt hatte - daß sie nichts als ein Spiel spielte, ein gewaltiges, böses Spiel mit höchstem Einsatz, und in gewissem Sinne stimmte das noch immer. Aber jetzt war es ein Spiel, dessen Regeln ihr nicht vertraut waren, jetzt mußte sie mit einer Situation fertig werden, auf die sie nicht vorbereitet war und die in keine der Schablonen, nach denen sie bisher gelebt hatte, hineinpaßte. Vielleicht, dachte er, war nicht einmal ihr Haß echt. Vielleicht war es nur die einzige Reaktion, die ihr denkbar schien.
Er stand auf, reckte sich - vorsichtig, damit der frisch angelegte Verband nicht verrutschte - und trat an die Reling. Der weit geschwungene Eisstrand reflektierte das Sonnenlicht so stark, daß er blinzeln mußte. Er stützte sich mit den Unterarmen ab, verschränkte die Hände und beugte den Oberkörper leicht vor, so daß er in einer halb nachdenklichen, halb an einen Betenden erinnernden Haltung an der Reling stand. Der Wind ließ ihn frösteln. Aber solange er fror, dachte er in einer Anlehnung an Gowennas Sarkasmus, lebte er wenigstens noch.
Er sah auf, als sie neben ihn trat und sich in ungeschickter Nachahmung seiner eigenen Haltung auf die Reling sinken ließ.
»Sie arbeiten wie die Besessenen«, sagte sie nach einer Weile. Skar nickte stumm und betrachtete die doppelte Reihe kleiner, ameisengleicher Gestalten, die sich wie eine dunkel gepunktete Linie vom Strand zu der gezackten Öffnung hoch oben im Eis bewegte. Eine schwankende Planke spannte sich vom Deck der SHAROKAAN zum Strand. Das Wasser war zu seicht, als daß sie bis unmittelbar an den Eisstrand hätten heranfahren können; sie hatten die SHAROKAAN so weit ans Ufer heranmanövriert, bis der Rumpf unter Wasser knirschend gegen Eis geschrammt war, aber es verblieb ein gut fünf Meter breiter Streifen tödlich kalten Wassers, über das sie diese Planke gelegt hatten - ein kaum armdickes Stück Holz, das sich unter jedem Tritt wie ein nicht straff genug gespanntes Seil durchbog und wieder hochfederte, so daß das Darübergehen der Männer zu einem absurden Tanz wurde. Es erschien Skar fast wie ein Wunder, daß noch keiner der schwerbeladenen Matrosen auf dem spiegelblanken Stück Holz ausgeglitten und ins eisige Wasser gestürzt war. Aber die Männer bewegten sich so sicher auf dem schwankenden Steg, als hätten sie massiven Fels unter den Füßen. Das Entladen dauerte nun schon fast drei Stunden; trotzdem waren die Laderäume der SHAROKAAN noch lange nicht leer. Sie schafften nur einen kleinen Teil der Ladung an Land, aber es würde noch bis weit in den nächsten Morgen hinein dauern, ehe sie fertig waren.
»Weißt du, was mich wundert?« fragte Gowenna.
»Nein. Und es interessiert mich auch nicht«, antwortete Skar grob. »Daß sie es so widerspruchslos tun«, fuhr Gowenna fort, als hätte sie seine Worte gar nicht gehört.
Skar zuckte mit den Achseln. »Ich bin der Kommandant.«
Gowenna machte ein abfälliges Geräusch. »Quatsch«, sagte sie. »Du bist hier so lange Kommandant, wie es Helth zuläßt, und keinen Augenblick länger. Oder bildest du dir wirklich ein, sie würden dir gehorchen, wenn es dieser Vede nicht wollte?«
Skar fuhr sich müde mit der Hand durch das Haar. Natürlich hatte Gowenna recht. Er selbst war wohl von allen an Bord am meisten erstaunt über das Benehmen des jungen Veden gewesen. Es paßte einfach nicht zu Helth, aufzugeben und kampflos das Feld zu räumen. »Du magst ihn nicht, wie?«
Gowenna schnaubte. »Helth? Sicher mag ich ihn. Ungefähr so, wie ich den Dronte mag.«
»Brad erzählte mir, daß du ihn auf den Knien geschaukelt hast, als er ein Kind war.«
»Das stimmt«, antwortete Gowenna so schnell, als hätte sie die Worte erwartet. »Aber ich mochte ihn nie. Ich glaube, niemand an Bord mag ihn. Nicht einmal Rayan - Brad war immer sein Lieblingssohn. Und es ist besser, zu mißtrauisch zu sein als zu vertrauensselig. Wenn ich du wäre, würde ich ihn nicht eine Sekunde aus den Augen lassen.«
»Du bist aber nicht ich«, gab Skar mit erzwungener Ruhe zurück. »Wo ist er überhaupt?«
»Irgendwo unten in den Laderäumen. Er beaufsichtigt die Arbeiten - hattest du ihm das befohlen?«
»Ich habe ihn darum gebeten«, korrigierte Skar. »Ich bin nur Kommandant, solange er es zuläßt - vergiß das nicht.«
Ein Schatten von Ärger huschte über Gowennas Gesicht. »Mach dich ruhig über mich lustig«, grollte sie. »Ich hoffe nur, Helth lacht nicht als letzter. Wenn du mich fragst, dann überläßt er dir nicht das Kommando, sondern nur die Verantwortung. Ich hoffe, daß dir der Unterschied früh genug klar wird.«
Skar verzichtete auf eine Antwort. Was geschehen war, hatte zu sehr an ihren Kräften gezehrt, als daß er noch Ruhe und Überlegenheit von Gowenna oder irgendeinem an Bord verlangen konnte.
Sein Blick glitt an der Reihe der Matrosen entlang und blieb schließlich am gezackten Eingang der Eishöhle hängen. Der schmale, kaum mannshohe und mit messerscharfen eisigen Haifischzähnen besetzte Spalt führte in ein wahres Labyrinth voller kälteklirrender Höhlen und Gänge. Unmöglich, dort oben länger als ein paar Tage zu leben - aber zumindest würden ihnen die mächtigen Wände aus Eis Schutz vor den Geschossen des Dronte gewähren. Die SHAROKAAN mochte hier unten verbrennen, aber die Männer würden leben; wenigstens eine Weile.
Skar lächelte bitter, als ihm dieser Gedanke endgültig vor Augen führte, wie schwer die Bürde war, die Rayan ihm auferlegt hatte. Er nahm diesen Männern mehr, als er je wirklich begreifen konnte. Freisegler waren keine gewöhnlichen Seeleute. Für sie war ihr Schiff nicht ein x-beliebiger Ort, an dem sie arbeiteten und ihren Lebensunterhalt verdienten, sondern ihr Leben selbst. Viele von ihnen - vielleicht alle - wären lieber mit dem Schiff gestorben, als es zu verlassen. Um so härter mußte sie Skars Anordnung getroffen haben, Nahrung und Waffen von Bord zu schaffen und alles für ein endgültiges Verlassen des Schiffes vorzubereiten. Es war nicht einfach ein Aufgeben des Schiffes. Die SHAROKAAN war ihre Heimat, der Ort, an dem sie aufgewachsen waren und gelebt hatten. Viele von ihnen waren sogar auf dem Schiff geboren.
Nein - Rayan hatte ganz genau gewußt, warum er ihm und nicht Helth das Kommando übergab; und Helth wußte es auch. Helth hätte das Schiff niemals aufgegeben, auch wenn er sich jetzt scheinbar widerspruchslos seinen Anordnungen fügte. Der Vede wußte so gut wie er, daß sie - wenn überhaupt - nur dort oben, hinter den meterdicken Eismauern der Höhle, Schutz vor den Brandgeschossen des Dronte finden konnten. Der Mordsegler hatte sich bisher nicht gerührt, aber es konnte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis er wie ein feuerspeiender Rachegott über sie herfallen würde. Und es bestand in diesem Kessel nicht die Möglichkeit einer verzweifelten Flucht wie beim ersten Mal. Helth hatte sich seiner Entscheidung gebeugt, weil er das so gut wußte wie Skar. Aber er wußte auch, daß die Besatzung, auf die impulsive, unlogische Art, in der Menschen nun einmal fühlen, es wie Verrat auslegen mußte. Sie würden es begreifen, natürlich. Aber es gab einen Unterschied zwischen Begreifen und Verstehen. Für sie würde es wie Verrat aussehen, Verrat an Rayans Letztem Willen, nicht wie Rückzug und Flucht, sondern Mord, Mord an der SHAROKAAN, an ihrer Vergangenheit, ihrem Leben. Wenn dies alles hier vorüber war, wenn sie wirklich noch das Unmögliche schaffen und diesen Alptraum irgendwie überleben sollten, dann würden die Männer einen Verantwortlichen suchen, jemand, dem sie die Schuld am Verlust des Schiffes, an der Niederlage, ja selbst am Tode Rayans und Brads geben konnten. Und dieser Jemand würde er sein, nicht Helth.
Er ballte in stummem Zorn die Fäuste und blickte in die Richtung, in der der Dronte, noch immer hinter dichten Nebelschwaden verborgen, auf sie lauerte. Er konnte das Schiff nicht sehen, aber dadurch gewann es eher noch an Bedrohlichkeit. Der Nebel entzog den Dronte ihren Blicken, aber er ließ ihrer Phantasie freien Spielraum. Der größte Schrecken ist der, den man nicht sieht.
»Ich begreife es immer noch nicht«, murmelte er mit halb geschlossenen Augen. »Manchmal kommt mir das Ganze wie ein böser Traum vor, aus dem ich nur zu erwachen brauche, um ihn zu überstehen. Aber ich kann nicht erwachen.«
»Wer von uns ist jetzt der Träumer?« fragte Gowenna. »Warst du es nicht, der mir zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten gepredigt hat, kühl und sachlich zu bleiben? Der mir erklärt hat, wie gefährlich es ist, seinen Gefühlen zu folgen?«
Skar atmete hörbar ein. »Du bist unfair.«
»Unfair?« Gowenna lächelte, drehte sich um und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen gegen die Reling. Das grelle Gegenlicht der versinkenden Sonne ließ sie zu einem flachen, schwarzen Schatten werden. Skar fiel plötzlich wieder auf, wie weiblich sie trotz allem war. Groß, kräftig und stark wie ein Mann - fast so stark wie er -, aber trotz allem noch eine Frau. Aber nicht nur das. Es war noch etwas an ihr, etwas, das ihn fast ängstigte und das er noch immer nicht verstand und vielleicht niemals verstehen würde. Sie waren sich ähnlich, trotz allem. Manchmal fragte er sich ernsthaft, ob es wirklich ein Zufall war, daß sie sich begegnet waren, oder ob es früher oder später so hatte kommen müssen. Sein Blick glitt an ihrer Gestalt empor, verharrte dort, wo hinter den dunklen Schatten der verbrannte Teil ihres Gesichtes war. Für einen winzigen Moment erinnerte ihn der schwarze Schatten an den Dronte, und für die Dauer eines Lidzuckens spürte er so etwas wie eine widersinnige Angst in sich aufsteigen. Warum hat sie diese Narben behalten? dachte er. Die Sumpfleute hätten sie behandeln können, und auch die Ehrwürdigen Frauen von Elay hätten ihr helfen können. Wahrscheinlich wäre sie nie wieder die schöne Frau geworden, die sie einmal gewesen war, aber sie hätte nicht länger mit diesem abstoßenden Dämonengesicht herumlaufen müssen. Warum hatte sie es nicht getan?
»Ich versuche lediglich nach den Grundsätzen zu handeln, die du mir beigebracht hast, Skar«, fuhr sie fort. »Erkenne die Gefahr, ehe du versuchst, sie zu bekämpfen«, zitierte sie einen von seinen Lieblingssätzen.
Skar lächelte müde. »Vielleicht hast du recht«, murmelte er. »Vielleicht liegt die Lösung offen vor uns, und wir sind zu dumm, sie zu erkennen.«
»Warum schwimmst du nicht hinüber und bittest den Dronte recht freundlich, uns durchzulassen?« fragte Gowenna. Sie mußte an der Reaktion auf seinem Gesicht sehen, wie unüberlegt und verletzend ihre letzte Bemerkung gewesen war, denn sie stockte, trat einen Schritt vor und breitete verlegen die Arme aus.
»Verzeih«, sagte sie.
Skar winkte ab. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, entgegnete er. »Ich glaube, es ist dein gutes Recht, verletzend zu sein.« Er drehte sich wieder um, stützte sich erneut auf die Reling und starrte dumpf auf die Wasseroberfläche hinab. Wozu das alles ? dachte er. Hat es überhaupt einen Sinn gehabt? Und wenn, hat es sich gelohnt? »Das hat es, Skar«, antwortete Gowenna. »Auch wenn du's vielleicht nicht begreifst.«
Skar wurde sich plötzlich der Tatsache bewußt, daß er den letzten Gedanken laut ausgesprochen hatte, ohne es zu merken.
»Glaubst du?« fragte er. »Vier Männer sind gestorben, bevor wir überhaupt hierherkamen. Zwei weitere an Bord des Dronte. Dann Rayan und Brad. Acht Menschenleben, Gowenna. Acht! Gibt es einen Grund, der den Tod von acht Menschen rechtfertigt?«
»Seltsame Worte aus dem Mund eines Mannes, dessen Lebensinhalt das Töten ist.«
»Wenn du das wirklich glaubst«, erklärte Skar ruhig, »dann hast du nie verstanden, was ein Satai wirklich ist. Ich habe niemals sinnlos getötet.«
»Das -« Gowenna fuhr auf, wurde aber sofort wieder von Skar unterbrochen.
»Hast du auch nie getan«, führte er den Satz zu Ende. »Ich weiß. Aber diese acht Männer wären noch am Leben, wenn du Rayan nicht zu dieser Fahrt überredet hättest.«
»Ich habe ihn nicht überredet«, widersprach Gowenna zornig. »Ich habe ihn für diese Fahrt bezahlt, Skar, so wie für viele Fahrten zuvor.«
»Und du willst mir wirklich einreden, du hättest nichts gewußt? Nichts vom Schicksal seiner Frau, nichts von seinem Haß auf den Dronte, nichts von seiner... seiner Besessenheit?«
Gowenna schwieg eine Weile.
»Natürlich«, antwortete sie schließlich. »Ich wußte, was mit seiner Frau geschehen ist. Ich... ich war dabei, als er die Nachricht von ihrem Tod erhielt. Ich kenne ihn seit zwanzig Jahren.«
»Und du hast die ganze Zeit nichts gemerkt?« fragte Skar höhnisch. »Nein, Skar, das habe ich wirklich nicht. Rayan ist nicht der einzige, der einen Menschen an den Dronte verloren hat. Jeder haßt den Dronte, und jeder Seefahrer fürchtet ihn. Aber deswegen sind doch nicht alle Seeleute besessen. Es ist zwei Jahrzehnte her, daß seine Frau starb - woher sollte ich wissen, daß er seinen Haß die ganze Zeit über mit sich herumgeschleppt hat?«
Es hätte eine Menge gegeben, das Skar darauf antworten konnte - gerade ihr und gerade über das Thema Haß. Aber er tat es nicht. Zwanzig Jahre, dachte er düster. Rayan hatte zwanzig Jahre lang für diesen Augenblick gelebt, für diesen einen, flüchtigen Moment, in dem er über den Dronte triumphieren konnte. Und für ihn war es ein Triumph gewesen, auch wenn er ihn mit dem Leben bezahlt hatte. Wenn nur einer, ein einziger von diesem halben Hundert Menschen, über das Skar plötzlich gebot, überlebte und die Botschaft in die Welt hinaustragen konnte, dann hatten sie gesiegt. Der Dronte war nur so lange stark, wie niemand sein Geheimnis kannte. Er würde vielleicht trotzdem noch jahrelang Schrecken und Tod verbreiten, aber irgendwann würden sie ihn stellen und erlegen. Ja - Rayan hatte triumphiert. Wenn ein Tod wie seiner überhaupt einen Sinn haben konnte, dann hatte der des Freiseglers ihn gehabt.
Skar seufzte, drehte sich um und ließ Gowenna ohne ein weiteres Wort stehen. Er rechnete halbwegs damit, daß sie ihm folgen würde, aber sie blieb reglos an der Reling stehen und starrte ihm bloß nach. Er war froh, daß sie es nicht tat. Es schien ihm sinnlos, das Gespräch fortzusetzen. Er hatte gehofft, daß Gowenna aus dem, was geschehen war, gelernt hatte, aber das stimmte nicht. Selbst Rayans Tod war für sie nur ein weiteres Argument für ihren Haß, eine weitere scheinbare Rechtfertigung für etwas, das nicht zu rechtfertigen war. Rayan war vielleicht besessen gewesen, aber Gowenna, das wußte er jetzt, war krank. Krank vor Haß. Er würde sich von ihr trennen, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit.
Das Schiff hatte sich verändert. Ein Teil der Decksplanken war verschwunden, so daß der Blick frei in die mächtigen, bis tief unter die Wasserlinie reichenden Laderäume fiel. Die Männer hatten den Hauptmast mit ein paar raschen Handgriffen in einen Ladebaum verwandelt, und der improvisierte Kran hievte in ununterbrochener Folge Kisten, Bündel und Fässer von Deck. Lebensmittel, Wasser, Wein, Decken, Waffen, die den Männern wenigstens für ein paar Tage das Überleben sichern würden.
Skar balancierte vorsichtig über die schmalen Balken, die zwischen den offenstehenden Luken stehengeblieben waren, zum Achteraufbau hinauf. Die Menge der Waren überraschte ihn. Sicher - es waren an die fünfzig Männer, aber sie würden auswählen und sich von allem, was nicht unbedingt lebensnotwendig war, trennen müssen, wenn sie den Marsch durch die Eiswüste antraten.
Wenn sie ihn antraten, dachte er düster. Wenn es etwas gab, wohin sie gehen konnten.
Er rief einem vorüberhastenden Seemann zu. »Wo ist Helth?« Der Matrose blieb stehen und versuchte, nicht die Balance mit seiner Last zu verlieren. »Unter Deck, Herr«, sagte er. »Er beaufsichtigt die Entladearbeiten, wie Ihr befohlen habt.« .
Skar entließ den Mann mit einem Kopfnicken, sah eich einen Moment unschlüssig um und trat an eine der Ladeluken. Eine schmale Holzleiter führte beinahe senkrecht in die Tiefe. Skar wartete, bis der nächste Matrose, ein unförmiges Bündel auf Kopf und Schultern balancierend, die Leiter heraufgeklettert war, griff nach der obersten Sprosse und stieg mit raschen Bewegungen hinab.
Kälte und Feuchtigkeit hüllten ihn ein, als er den tief unter der Wasserlinie liegenden Boden des Laderaumes betrat. Unter seinen Stiefeln platschte Wasser, und ein wahrhaft atemberaubender Gestank schlug ihm entgegen. Kleine, heftig rußende Kohlebecken verbreiteten die Illusion von Wärme und flackernde, rötliche Helligkeit, in der die Bewegungen der Männer abgehackt und clownhaft erschienen. Der Raum war größer, als er erwartet hatte; und weitaus besser aufgeräumt. An den Wänden zogen sich deckenhohe Regale hin, davor stapelten sich Kisten, Stoffballen und Fässer, und selbst von den Deckenbalken hingen noch zahlreiche Netze, die meisten jetzt schlaff und leer, aber eindeutig zur Aufnahme von Gütern bestimmt. Und dies war nur einer von beinahe einem Dutzend Laderäumen.
Er blieb stehen, trat dann einen Schritt zur Seite, um den vorüberhastenden Männern nicht im Wege zu sein, und hielt gleichzeitig nach Helth Ausschau. Der Vede stand im Hintergrund des Raumes, beaufsichtigte die Arbeit und deutete mit knappen, von scharf vorgebrachten Befehlen begleiteten Gesten auf die Dinge, die sie mitnehmen sollten. Skar beobachtete ihn eine Weile. Helth trug noch immer den zerschlissenen, blutigen Umhang, mit dem er an Bord des Dronte gegangen war; sein Haar war strähnig und von Schmutz verkrustet, winzige Salzkristalle glitzerten darin, und auf seinen Händen waren dunkle, an geronnenes Blut erinnernde Flecken. Irgend etwas war anders an ihm, dachte Skar. Der Vede wirkte verändert, nicht nur äußerlich - so wie sich alle an Bord in erschreckendem Maße verändert hatten. Auch er war nicht mehr der, der in Anchor an Bord des Schiffes gegangen war. Aber er vermochte nicht, den Unterschied in Worte zu fassen. Vielleicht erschreckte ihn der Anblick des Veden auch nur so sehr, weil Helth wie ein Spiegel war, in dem er sich selbst zu erkennen glaubte. Er räusperte sich, wartete eine Lücke in der Reihe der Männer ab und ging dann mit schnellen Schritten zu Helth hinüber. Der Vede drehte sich erst um, als er bereits ganz nahe war, obwohl er ihn schon lange gehört haben mußte.
»Wie lange braucht ihr noch?« fragte Skar.
Helth deutete auf den kleiner werdenden Stapel mit Lebensmitteln vor sich. Trotz der Mengen, die die Männer von Bord trugen, schienen sie sich gemäß Skars Anweisungen auf das unbedingt Nötige zu beschränken. Aber auch das Allernotwendigste war viel bei einem halben Hundert Menschen.
»Nicht mehr lange«, sagte der Vede. »Waffen, Brennholz und Kleider sind bereits oben in der Höhle. Es fehlen nur noch die Lebensmittel - drei, vielleicht vier Stunden. Bei Sonnenaufgang ist das Schiff soweit leer, daß wir es verlassen können, wie du befohlen hast.« Skar überlegte einen Moment, ob er auf den vorwurfsvollen Klang in Helth' Stimme reagieren sollte oder nicht. Er hätte es übergehen können - aber das hieße, die Auseinandersetzung zu verschieben. »Ich verstehe deine Gefühle, Helth«, sagte er. »Ich verstehe und respektiere sie. Aber du mußt auch mich verstehen. Dein Vater hat mir eine schwere Last übergeben. Ich versuche nur, seinen Letzten Willen zu befolgen.«
Helth lachte leise, aber es klang fast wie ein Schluchzen, das er im letzten Moment unterdrücken und in ein Lachen umwandeln wollte, was ihm aber nicht ganz gelang. »Du verstehst mich«, sagte er bitter. »O ja, ich bin sicher, daß du mich verstehst, Satai. Es ist ja auch so einfach.«
»Das ist es gewiß nicht, Helth«, antwortete Skar. »Und ich bin hier, um mit dir darüber zu reden.«
»Reden?« Helth zog die Augenbrauen zusammen. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, vielleicht ein Reflex der Fackeln, die überall an den Wänden aufgehängt waren, vielleicht auch etwas anderes. »Es gibt nichts zu reden, Satai. Du bist der Kommandant. Ich gehorche dir.«
»Ich will dieses Kommando nicht«, sagte Skar. »Du kannst es haben. Sag mir einen anderen Weg, das Leben der Männer zu retten, und ich wähle ihn. Egal, wie schwer er ist.«
»Darum geht es dir?« Helth starrte unverwandt an ihm vorbei. Seine Stimme klang tonlos, beinahe, als rede er mit sich selbst oder mit jemandem, der unsichtbar hinter Skar stand. »Nein - es gibt sicher keinen anderen Weg, ihr Leben zu retten. Aber Leben allein«, fuhr er nach einer sekundenlangen Pause fort, »ist nicht alles. Sie mögen überleben, dort oben. Vielleicht ein paar Tage, vielleicht eine Woche oder zwei. Vielleicht gelingt dir sogar das Unmögliche und du findest einen Weg zurück. Aber es ist kein Leben mehr für sie, Skar. Nicht ohne die SHAROKAAN.«
»Für sie - oder für dich?«
Für einen Moment durchbrach Zorn den Ausdruck der Starre auf Helth' Zügen. »Was ich empfinde, das zählt nicht«, sagte er. »Dieses Schiff gehört weder mir, noch ist es meine Heimat. Selbst, wenn wir überleben, werde ich nicht bei ihnen bleiben, sondern nach Thbarg zurückkehren, um -«
»Der Tod deines Vaters und deines Bruders scheint dich nicht sonderlich zu beeindrucken«, unterbrach ihn Skar. Helth' gespielte Ruhe machte ihn allmählich rasend.
Der junge Vede schwieg einen Moment. Skars Angriff war unfair gewesen; er war aus einer Richtung gekommen, aus der er ihn nicht erwartet hatte. Skar spürte deutlich, daß seine Selbstsicherheit erschüttert war. Aber er empfand keine Freude über diesen kleinen Sieg. Wieder spürte er diese Müdigkeit; Müdigkeit zu kämpfen, sich immer wieder gegen ein Schicksal zu wehren, gegen das er letztlich machtlos war. Allmählich begann Helth - sein Verhältnis zu Helth - so zu werden, wie es zwischen ihm und Gowenna war. Bei allen Göttern, dachte er - er hatte lange genug gebraucht, um mit Gowenna eine Art Burgfrieden zu schließen. Er konnte keine Zweitausgabe desselben Streites gebrauchen.
»Beeindrucken?« murmelte Helth nach einer Weile. »Nicht mehr als dich, Skar. Sie starben im Kampf, und auch, wenn du es nicht einsehen willst, es war ein ehrenvoller Tod.«
Skar hätte ihn gerne nach dem Unterschied zwischen einem ehrenvollen und einem unehrenhaften Tod gefragt, aber er sah ein, daß er damit nichts erreichen würde. Helth war einfach noch zu jung, um zu begreifen, daß es keinen ehrenhaften Tod gab. Nicht einmal für einen Veden. Es gab nur den Tod, und er war schmutzig und gemein und voller Blut und Schmerzen, und sonst nichts.
»Gut«, fuhr er mit veränderter Stimme fort. »Deine Gefühle gehen mich nichts an, und ich bin auch nicht hier, um mit dir darüber zu streiten.«
»Sondern?«
»Was verstehst du von Seefahrt und Karten?«
Helth zuckte mit den Achseln. »Nicht viel mehr als du - warum?«
»Ich möchte wissen, wo wir sind«, antwortete Skar.
»Wenn es nicht einmal Rayan wußte, woher soll ich es wissen?« gab Helth zurück. »Wir sind weiter im Norden als jemals ein Schiff vor uns. Vielleicht ist es nicht einmal Land - vielleicht ist nur das Meer gefroren. Kalt genug ist es ja. Unter den Matrosen sind ein paar, die die Position anhand der Sterne zu ermitteln vermögen - aber was soll dir das nutzen? Es gibt keine Karten von diesem Teil der Welt.«
»Ich weiß, aber...« Skar sprach den Satz nicht zu Ende. Er begann sich zu fragen, wozu er überhaupt hier heruntergekommen war; vielleicht, um sich selbst zu beruhigen. Sein Gewissen. Sie hatten nur die Wahl, hierzubleiben und zu sterben - oder das Schiff aufzugeben und einen Marsch ins Ungewisse anzutreten. Es gab nicht nur keine Karten über diesen Teil der Welt - bisher hatten sie nicht einmal gewußt, daß er überhaupt existierte. Was erwartete er zu finden?
»Führ mich zu einem dieser Männer«, bat er halblaut.