28.

Die Geburt begann am frühen Morgen, im gleichen Moment, in dem sich der erste Streifen fahlgrauer Dämmerung am Himmel vor der Hafeneinfahrt zeigte; eine Stunde, bevor die Sonne aufging.

Skar war nicht von Anfang an dabei. Er hatte Yar-gan und die Krieger geholt und hierher geführt, hatte das Schiff aber trotz der grausamen Kälte bereits nach wenigen Augenblicken wieder verlassen und oben an Deck eine einsame Wache angetreten. Nicht, weil er sie für nötig gehalten hätte. Helth und die Eiskrieger würden nicht kommen, das wußte er. Nicht, solange das Kind noch nicht geboren war. Sie hatten zwei weitere Tote auf dem schmalen Eisbalkon in der Wand zurückgelassen, ein dritter Mann war auf halbem Wege gestolpert, von dem schmalen Felsband abgekommen und ins Wasser gestürzt. Er war nicht einmal mehr an die Oberfläche gekommen. Die anderen warteten unten im Schiff in einem kleinen Verschlag dicht neben der Kammer, in der Yar-gan und Gowenna verzweifelt um Velas Leben kämpften. Die meisten schliefen, aber er hatte, bevor er hier heraufgekommen war, einen kurzen Blick zu ihnen hereingeworfen und gesehen, daß ein paar von ihnen mit offenen Augen dalagen und gegen die Decke starrten.

Skar hatte versucht, sich in die Gedanken dieser Männer zu versetzen, nachzuempfinden, welche Enttäuschung, was für ein grausamer Schock der Anblick der erstarrten Schiffe für sie gewesen sein mußte, aber es war ihm nicht gelungen. Vielleicht irrte er sich auch, und vielleicht waren sie viel zu erschöpft, um überhaupt noch etwas anderes als Müdigkeit zu empfinden.

Mit der Dämmerung begannen graue Schatten in die Höhle zu kriechen, und die Kälte wurde quälender. Skar stand auf und begann auf Deck auf und ab zu gehen, um das taube Gefühl aus seinen Gliedern zu vertreiben. Er konnte die Hafeneinfahrt jetzt deutlich erkennen, und sie war noch größer, als er angenommen hatte. Selbst einer der gewaltigen thbargschen Kapersegler hätte bequem unter dem steinernen Bogen hindurchlaufen können, ohne ihn auch nur mit der Mastspitze zu berühren; ein Schiff von der Größe des Dronte oder der SHAROKAAN mußte winzig und verloren darunter aussehen.

Er wandte sich ab, wickelte sich enger in seinen Mantel und nahm seine unruhige Wanderung wieder auf. Das Geräusch seiner Schritte klang überlaut auf dem steinernen Deck und mußte überall im Schiff zu hören sein. Der Wind hatte sich während der letzten Stunden gedreht und fauchte nun direkt in die Höhle hinein, peitschte die Wellen und riß schaumige Spritzer aus der Wasseroberfläche. Eine seltsame Stimmung überkam ihn. Es war die Stunde zwischen Nacht und Tag, die Zeit, in der die Dunkelheit nicht mehr ganz und das Licht noch nicht völlig herrschte - die Stunde der Entscheidung. Er wußte, daß nicht mehr viel Zeit blieb. Wenn die Sonne aufging, würden sie kommen: der Dronte, Helth oder die Eiskrieger, vielleicht alle drei. Die Vorstellung hätte ihn überwältigen müssen, aber er empfand nichts als eine absurde Heiterkeit bei dem Gedanken, daß sich irgendwann in den nächsten Stunden das Schicksal seiner Welt entscheiden würde, daß nur noch wenige Augenblicke bis zu dem Moment fehlten, nach dem Recht oder Unrecht, Gut oder Böse über Enwor herrschten. Gut oder Böse... Er lachte, lautlos und sehr bitter. Wieso maßten sie sich an, zu entscheiden, welche Seite im Recht war? Nur weil sie Menschen waren, weil dies ihre Welt war? Weil es die Laune eines Gottes oder bloßer Zufall - was das gleiche sein mochte - gewollt hatte, daß zuerst die Menschen und dann die Sternengeborenen ihren Fuß auf den Boden dieser Welt setzten? Was hatten sie ihr gebracht, Ihrer Welt? Eine Geschichte voller Krieg und Leid und Tod, voller Hunger und Schmerzen, voller Unterdrückung und Folter, eine...

Laß das, du Narr! dachte er streng. Gedanken wie diese führten zu nichts und nirgendwohin, außer in den Wahnsinn. Es war vollkommen egal, welche Seite im Recht war. Vielleicht waren die Sternengeborenen - einer höheren Gerechtigkeit zufolge - das bessere Volk, vielleicht waren sie es, die Menschen, die im Unrecht waren und Leid über die Welt brachten, und vielleicht würden sie irgendwann, nach weiteren tausend Jahren Krieg und Morden voller Entsetzen begreifen, daß die Sternengeborenen nicht als Eroberer, sondern als Boten der Götter gekommen waren, um das Universum von einer Pest zu befreien, die sich Mensch nannte. Für ihn, für Gowenna und Vela und die Männer dort unten spielte nichts von alledem eine Rolle. Sie würden kämpfen, solange sie lebten, einfach, weil sie Menschen waren. Er hörte Schritte, drehte sich langsam um und erkannte den dunkelhaarigen Matrosen von Bord der SHAROKAAN. »Du schläfst nicht?« fragte er leise.

Der Mann schüttelte den Kopf und kam näher. Seine Hände zitterten vor Kälte und Erschöpfung, und als er sprach, klang seine Stimme wie die eines alten Mannes. »Nein, Herr«, sagte er. »Gowenna schickt mich, um Euch zu holen.«

»Das Kind?«

Der Mann nickte und wollte sich umdrehen, aber Skar hielt ihn mit einem raschen Griff zurück. »Wie ist dein Name?« fragte er.

Der Mann schien verwirrt. Er sah Skar unsicher an, schüttelte abermals den Kopf und machte einen Schritt auf die Treppe zu, blieb dann aber erneut stehen. »Gajan, Herr«, sagte er.

»Gajan.« Skar nickte. »Warum bist du nicht bei den anderen und ruhst dich aus, Gajan ?« Er erinnerte sich jetzt, daß Gajan einer von denen gewesen war, die nicht geschlafen, sondern mit offenen Augen gegen die Decke gestarrt hatten.

»Warum? Nun...« Der Matrose zögerte, sah zur Ausfahrt hinüber und starrte ins Leere. »Wozu, Herr?« fragte er leise. »Der große Schlaf kommt früh genug. Dann ist Zeit genug, auszuruhen.«

»Der große Schlaf«, wiederholte Skar nachdenklich. »Nennt ihr Freisegler so den Tod?« Gajan nickte, und Skar fuhr fort: »Das klingt... gut. Besser als Tod. Friedlicher.«

»Das ist es, Herr«, bestätigte Gajan leise. »Wir fürchten ihn nicht.«

»Aber ihr wißt, daß wir keine Chance mehr haben, lebend von dieser Insel herunterzukommen?«

Gajan nickte, als hätte er ihm eine Selbstverständlichkeit mitgeteilt. »Natürlich, Herr. Wir wußten es, als die SHAROKAAN sank.«

»Und trotzdem seid ihr mit mir gekommen?«

»Ihr seid Rayans Nachfolger, Herr. Sein Befehl gilt auch über seinen Tod hinaus. Und es liegt nicht in unserer Hand zu entscheiden. Wenn es der Wille der Götter ist, daß wir alle hier und heute sterben, so wird es geschehen.«

Skar antwortete nicht mehr. Gajans Worte waren überraschend sanft gewesen, aber auch sehr bestimmt, und er spürte, daß es keine leeren Phrasen waren, sondern daß der Mann an das glaubte, was er sagte. Für ihn, Skar, gab es keine Götter, und wenn, so nur zornige Götter, Götter, die Tod und Schmerzen und Leid brachten, aber wer war er, daß er diesen Männern ihren Glauben und das letzte bißchen Hoffnung nehmen durfte? Plötzlich beneidete er Gajan beinahe um seinen Glauben. Es mußte schön sein, an ein Weiterleben nach dem Tod - oder wenigstens eine göttliche Fügung, eine höhere Gerechtigkeit oder was auch immer - glauben zu können. Er konnte es nicht. »Noch ein Wort, Gajan«, sagte er, als der Matrose weitergehen wollte.

Gajan blieb abermals stehen und sah ihn an. »Ja?«

»Nur eine Frage«, murmelte Skar. »Und ich bitte dich, sie mir ehrlich zu beantworten.« Seine Stimme versagte ihm den Dienst, er schluckte, schmeckte bittere Galle auf der Zunge und fuhr erst nach sekundenlangem Schweigen fort: »Habe ich versagt?«

Gajan sah ihn an, schwieg.

»Ich habe es, nicht wahr?«

Der Matrose nickte. »Ja, Herr«, antwortete er. »Das habt Ihr.« Skar ließ seinen Arm los, wandte sich mit einem Ruck um und nickte knapp. »Ich danke dir«, schloß er. »Du kannst gehen. Sage Gowenna, daß ich... komme.«

Er wartete, bis Gajans Schritte auf dem harten Boden verklungen waren, dann drehte er sich abermals herum und stieg die steile Treppe hinab. Ein leises, wimmerndes Stöhnen und ein Schwall warmer Luft wiesen ihm den Weg. Gowenna hatte die Feuer zu größerer Glut entfacht und weitere Schalen aufgestellt; nach der grausamen Kälte an Deck war es hier unten beinahe zu warm, obwohl an den Wänden noch immer Eis glitzerte. Skar ging langsamer als nötig gewesen wäre, und am Ende des Ganges blieb er noch einmal stehen und zögerte unmerklich; fast, als könne er das Geschehen aufhalten, indem er einfach die Augen verschloß und sich wie ein Kind unter eine Decke verkroch, um die Ungeheuer aus seinem Traum auszusperren. Aber er war kein Kind, und dies war kein Traum. Mit einem resignierenden Kopfschütteln ging er weiter.

Es konnte nur noch wenige Augenblicke dauern. Vela war wach, ihre Augen waren einen Spaltbreit geöffnet, und ihr Körper wurde in immer rascherer Folge von heftigen, krampfartigen Wehen geschüttelt. Ihre Hände waren verkrampft, die Fingernägel fuhren mit kratzenden Geräuschen über den steinharten Boden, einige waren abgebrochen und blutig. Es war keine leichte Geburt. Gowenna hatte sich hinter sie gekniet und stützte ihren Oberkörper, so daß sie halb sitzend, halb liegend mit weit gespreizten Beinen und angezogenen Knien dahockte. Trotz der Kälte glänzte ihre Haut vor Schweiß, und als Skar näher herantrat, sah er, daß aus Velas Mund und Nase dünne, hellrote Blutfäden sickerten. Er erschrak. Sie stirbt! dachte er entsetzt. Er wollte noch näher herantreten, aber Gowenna hielt ihn mit einem raschen Kopfschütteln zurück. Er blieb stehen.

Gowennas Hände strichen beruhigend über Velas Haar. Sie beugte sich vor, flüsterte der Errish etwas ins Ohr und tauschte einen raschen Blick mit Yar-gan. Der Sumpfmann kniete vor Vela nieder und machte sich an ihrem Leib zu schaffen; Skar konnte nicht erkennen, was er tat. Er wollte es auch gar nicht wissen.

Die Situation kam ihm immer absurder vor. Gowenna hatte diese Frau gehaßt, mit jeder Faser ihrer Seele gehaßt. Sie hatte sie bis ans Ende der Welt gejagt und unvorstellbare Entbehrungen auf sich genommen, um sie zu stellen und ihre Rache zu vollziehen - und jetzt hielt sie sie im Arm, schaukelte sie wie ein fieberndes Kind, flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr und kämpfte mit der gleichen verzweifelten Kraft um ihr Leben, mit der sie sie vorher verfolgt hatte.

Skar wußte nicht, wie lange es dauerte - Sekunden, Minuten, vielleicht Stunden. Er stand einfach still da, wie ein unbeteiligter Zuschauer. Die Krämpfe, die den Körper der Errish durchrasten, wurden stärker, und nach einer Weile kamen die Wehen so schnell hintereinander, daß die Pausen dazwischen nicht mehr wahrzunehmen waren. Es war nicht das erste Mal, daß Skar die Geburt eines Kindes miterlebte, aber er hatte noch nie eine Niederkunft gesehen, die so voller Schrecken war wie diese. Vela begann zu schreien und sich zu winden, so heftig, daß Yar-gans und Gowennas vereinte Kräfte kaum ausreichten, sie zu halten. Sie blutete aus Nase, Mund und Ohren, und ihr Atem wurde von einem rasselnden Geräusch begleitet.

Sie starb, als der Kopf des Kindes sichtbar geworden war.

Ihr Körper bäumte sich in einem letzten qualvollen Zucken auf, und über ihre Lippen kam ein Schrei, der nichts Menschliches mehr hatte. Dann erschlaffte sie. Der Blick ihrer weit geöffneten, blutenden Augen brach.

Gowenna schrie auf, warf sich mit einer verzweifelten Bewegung über ihren Leib und begann zu pressen, und Skar drehte sich endgültig um. Übelkeit stieg in ihm hoch. Er sah nicht mehr, was geschah, aber er hörte Laute, schreckliche Geräusche, die er nie wieder vollkommen vergessen sollte und die nichts mehr mit einer normalen Geburt gemein hatten. Gowenna rief etwas, das Skar nicht verstand, Yar-gan antwortete in der gleichen Sprache, dann sah er den Sumpfmann aus den Augenwinkeln aufspringen, zu den Feuerschalen stürzen und einen Dolch aus der brennenden Kohle ziehen. Seine Klinge glühte rot, und der lederbezogene Griff schwelte bereits.

Skar schloß die Augen, preßte die Stirn gegen die Wand und schlug die Hände vor die Ohren. In seiner Brust begann sich wieder dieser Druck aufzubauen, ein Gefühl, als würde eine Stahlfeder bis zum Zerreißen gespannt, immer weiter gespannt, immer und immer und immer weiter...

Er schrie auf, als ihn Gowenna an der Schulter berührte. Ihre Hand war feucht und warm, und Skars Übelkeit wurde unerträglich. Mühsam kämpfte er den Brechreiz nieder, der in seiner Kehle emporstieg, drehte sich um und sah Gowenna an. Ihr Gesicht wirkte erschöpft und müde, aber in ihren Augen stand ein seltsames Flackern, ein Ausdruck, den er nie zuvor an ihr gesehen hatte.

»Komm.«

Skars Herz begann wie rasend zu hämmern, als er neben ihr auf Vela und Yar-gan zuging. Der Sumpfmann kniete neben der toten Errish und drehte ihm den Rücken zu, aber die Haltung seiner Schultern verriet Skar, daß er etwas in den Armen hielt. Es schreit nicht, dachte er. Kinder schreien, wenn sie geboren sind. Es schreit nicht. Es muß tot sein. Aber gleichzeitig spürte er, daß es nicht tot war, daß es lebte und genau in diesem Moment erwachte, zum ersten Mal so etwas wie einen bewußten Gedanken formte, die Welt, in die es geboren worden war, mit unsichtbaren Händen betastete und befühlte...

Er blieb stehen. Er wollte nicht weitergehen. Mit einem Male hatte er Angst, unsägliche Angst, die nächsten Schritte zu tun und das Kind zu sehen, aber Gowenna schob ihn mit sanfter Gewalt weiter.

Yar-gan richtete sich auf, als er neben ihm stehenblieb. Das Kind lag in seinen Armen, unendlich klein und verloren in den gewaltigen Pranken, die sich der Sumpfmann von Del geliehen hatte.

Es war ein ganz normales Kind, klein und mit dem zerknautschten Greisengesicht der meisten Neugeborenen, noch voller Blut und Schleim, und Skar fragte sich bestürzt, was er erwartet hatte. Ein Monster? Ein spinnenköpfiges schwarzes Ding mit Krakenarmen und Pferdefuß und Vampirzähnen? Es war ein normales Kind. Es sah normal aus, und es war normal, das wußte er, ganz plötzlich. Er spürte die Macht, die hinter der Stirn dieses winzigen Wesens schlummerte, aber gleichzeitig wußte er - und es waren genau diese Worte, die er dachte, Worte, über die er noch vor Augenblicken gelacht hätte -, daß es unschuldig und rein war wie alle Neugeborenen, und daß, wenn es böse werden würde, sie es waren, die das Böse in seine Seele pflanzen würden.

Zögernd streckte er die Hände aus, nahm das Kind entgegen und legte es ungeschickt in seine Armbeuge. Ein leises, seltsam friedlich klingendes Seufzen kam über die Lippen des Knaben, und ein sonderbar fremdes Gefühl von Frieden ergriff von Skar Besitz.

Yar-gan und Gowenna wichen lautlos von ihm zurück. Er sah, wie der Sumpfmann an seinen Gürtel griff und sein Schwert zog, und er hörte das leise Kratzen hinter sich, als Gowenna dasselbe tat, aber er achtete nicht darauf, sondern blickte weiter wie gelähmt auf das Kind in seinen Armen herab, sein Kind, ein Stück von ihm, ganz gleich, wie man es sah. Seine Hände regten sich, griffen mit einer Bewegung, die es noch nicht beherrschen dürfte, in die Luft und suchten nach Halt. Dann hob es die Lider. Ihre Blicke trafen sich.

Und Skar hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen.

Es dauerte nur wenige Sekunden, aber als es geschah, schienen es Ewigkeiten zu sein.

Skar wußte nicht, was es war. Er hatte niemals etwas Derartiges erlebt oder davon gehört, ja, nicht einmal geglaubt, daß es möglich wäre. Es war eine Vereinigung, etwas, als würden ihre Seelen sich berühren und miteinander verschmelzen, mehr noch, es war, als wären er und dieses Kind eins, nur zwei Teile eines gewaltigen Ganzen, das getrennt worden war und sich jetzt wieder zusammenfand in einem erlösenden, freudigen Aufschrei. Er spürte die Gedanken des Kindes - es war kein Denken wie seines, sondern ein behutsames, noch unsicheres Tasten und Erforschen, und er spürte die ungeheure Macht, die diese Gedanken hätten, wäre ein Bewußtsein hinter ihnen, das sie lenkte. Eine Macht, die fähig war, diese Welt zu zertrümmern. Es war die gleiche Kraft, die auch ihn trieb, das Ding in seinem Innern, das er seinen Dunklen Bruder getauft hatte und das doch sein größter Feind war, aber es war tausend-, millionenmal stärker, ein gewaltiger Vulkan gegen das Flackern einer Kerzenflamme.

Und es war leer.

Wo in ihm dieses böse Flüstern, die zynische, berechnende Stimme des anderen, finstern Skar herrschte, war in dem Kind nichts. Es war stark, ungeheuer stark, eine Waffe, wie Gowenna gesagt hatte, aber es war auch gleichzeitig unschuldig, leer und bereit, geformt und gelenkt zu werden.

Für einen unendlich kurzen Moment spürte er die Verlockung. Nimm ihn! - wisperte die Stimme in seinem Inneren. Sein Dunkler Bruder sprang ihn an wie ein Raubtier, das bisher geduldig in seinem Versteck gelauert und auf den Moment gewartet hatte, in dem es zuschlagen konnte, in dem er unaufmerksam war und seine Deckung vernachlässigte, verletzbar wurde. Nimm ihn, wisperte sie. Du wirst Macht haben, Skar. Unglaubliche MACHT! Niemand wird dich mehr aufhalten können. Die Stimme wurde lauter, machtvoller, zwingender. Nimm ihn! drängte sie. Es ist leicht, Skar. Noch ist es leicht. Er wußte, daß sie nicht log. Sie waren eins, für diesen Moment, ein einziger Geist in zwei verschiedenen Körpern, und es war ein Augenblick, der sich nie mehr wiederholen würde. Er konnte die Kraft dieses Kindes in sich aufnehmen, sie mit der flüsternden Stimme in seinem Innern vereinen, und er würde die Macht haben, von der sein Dunkler Bruder sprach: Niemand und nichts würde ihm mehr widerstehen können, nicht einmal mehr Helth oder der Dronte.

Aber er wußte auch gleichzeitig, daß das Flüstern in seiner Seele dann zu einem machtvollen Schrei werden, daß sein Dunkler Bruder endgültig und unwiderruflich Gewalt über ihn erlangen würde. Unsterblichkeit und vielleicht Unverwundbarkeit gegen den Preis seiner Menschlichkeit.

Was nutzt sie dir, deine Menschlichkeit? wisperte die Stimme. Was hat sie dir bisher genutzt, wobei hat sie dir geholfen ? Was wirst du vermissen? Liebe? Es gibt niemanden, der einen Satai liebt, Bruder. Und selbst wenn - es wäre ein geringer Preis. Du hättest die Macht, diese Welt zu retten. Du und ich und dieses Kind, wir können Enwor zu einem Paradies machen. Wolltest du das nicht immer? Ist es nicht das, was die Satai schwören in ihren geheimen Zeremonien? Kriege und Not und Ungerechtigkeit zu beseitigen ? Du kannst es, du - Skar schrie. Für einen schrecklichen Moment glaubte er seinen Dunklen Bruder mit Velas Stimme reden zu hören, und plötzlich wußte er, was mit ihr geschehen war, welcher Art die Verlockung gewesen war, die ihr den Untergang gebracht hatte.

Er taumelte, brach in die Knie und spürte, wie der Geist des Kindes mit einem lautlosen Schrei vor dem Schmerz und der Dunkelheit zurückschreckte, die plötzlich zu ihm hinüberflossen, wo vorher Liebe und Vertrauen gewesen waren.

»Gowenna«, wimmerte er. »Hilf... mir...«

Er sah die Gestalt der Errish wie einen verzerrten Schatten vor sich auftauchen, versuchte nach ihr zu greifen und verfehlte sie. Gowennas Hände preßten sich gegen seine Schläfen, nicht flüchtig und sanft wie vorhin, als sie seinen Dunklen Bruder das erste Mal zurückgedrängt hatte, sondern mit schmerzhafter Kraft; und diesmal war es kein Verjagen, keine Warnung mehr, sondern ein vernichtender Hieb, mit aller Gewalt geführt.

Hinter seiner Stirn schien ein Vulkan auszubrechen. Er sah Flammen, und für den Bruchteil einer Sekunde fühlte er unerträglichen Schmerz.

Yar-gan sprang im letzten Moment vor, als Skar das Bewußtsein verlor und das Kind seinen Armen entglitt.

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