27.

Es waren Schiffe. Aber sie würden damit nicht zurückfahren können.

Skar hatte fast ein Drittel der Frist, die Yar-gan ihm zugestanden hatte verbraucht, um das Hafenbecken soweit zu umrunden, daß aus den gedrungenen flachen Schatten, die sie gesehen hatten, zuerst dreidimensionale Körper und dann die Rümpfe von Schiffen geworden waren.

Schiffe einer Bauart, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie waren groß, sehr groß, dabei aber so flach gebaut, daß ihr Deck nur wenig mehr als einen Fuß über die Wasserlinie hinausragte. Trotzdem waren ihre Rümpfe gewaltig; die Dunkelheit und die spiegelnde Wasseroberfläche machten es schwer, Einzelheiten zu erkennen, aber Skar hatte den Eindruck von etwas Großem, Klobigem, einem Ding wie ein gigantischer schwarzer Wal, das Masten und Aufbauten wie bizarre Flossen und Finnen durch das Wasser des Hafenbeckens in die Luft reckte. Die Schiffe mußten seit Jahrtausenden hier liegen, dachte Skar, während er langsam näher an die gewaltigen schwarzen Leiber heranging. Seine Schritte waren - ohne daß er es selbst gemerkt hatte - immer langsamer geworden, und jetzt, eine halbe Pfeilschußweite von den Schiffen entfernt, war er beinahe stehengeblieben. Ein seltsames Gefühl hatte von ihm Besitz ergriffen; keine Furcht, sondern nur das Empfinden von Alter und Größe, einer stummen, erstarrten Macht, die von den drei unförmigen Schatten ausging.

Vor der Hafeneinfahrt lag noch immer Nacht wie ein schwarzer Vorhang, und die Dunkelheit kroch auf schwarzen Spinnenfüßen zu ihm hinein. Skar hielt die Fackel hoch über den Kopf, und das flackernde rote Licht trieb die Schatten ins Wasser zurück und spiegelte sich rot wie geschmolzenes Gold auf den niedrigen Wellen, aber die Dunkelheit wich trotzdem nur zögernd von den Schiffen; hielt sie eifersüchtig umklammert wie eine finstere Geliebte und verschluckte das Licht der Flamme. Das Meer bewegte sich träge zu seinen Füßen, viel langsamer als draußen, wie es ihm vorkam, als hätten selbst die Gezeiten hier drinnen ihre Macht verloren. Die Wellen brachen sich mit leisen, gluckernden Lauten an den senkrechten Flanken der Schiffe, und ab und zu gelang einem schaumigen weißen Spritzer der Sprung bis zu Skar hinauf. Das Wasser war eisig.

Aber die Schiffe bewegten sich nicht.

Zuerst hatte er geglaubt, es wäre eine Täuschung, ein Trugbild, hervorgerufen durch die Dunkelheit und das tanzende Licht der Fackel, die Bewegung entstehen ließ, wo keine war, und sie umgekehrt verbarg, aber als er näher kam, sah er, daß die Schiffe reglos wie schwarze Riffe im Wasser lagen, der Tide und allen Naturgesetzen trotzend. Eine Anzahl lächerlich dünner Trossen verband sie mit drei großen eisernen Ringen, die in Kopfhöhe in die Felswand eingelassen waren. Auch die Taue schienen starr, durchgebogen und schlaff, aber starr, etwa wie Holz.

Skar ging zögernd weiter, senkte die Fackel, um mehr Einzelheiten erkennen zu können und berührte eine der Trossen mit der Hand. Das Seil war versteinert. Die feinen, zu einem Seil verdrillten Hanffasern waren noch genau zu erkennen, jede winzige Unebenheit, jede rauhe Stelle und jeder Kratzer mit fast schon übertriebener Deutlichkeit erhalten, aber es war kein Tau mehr, sondern eine schwarze granitharte Masse, zusammengebacken von Salzwasser und den unzähligen Millenien, die es hier gehangen hatte.

Skar drehte sich um und ging, die rechte Hand auf dem Tau, wie ein Blinder an einem Seil, das ihn führte, auf das Schiff zu. Seine Fackel warf zuckende Lichtreflexe auf den schwarzen Rumpf, aber sie waren hart, glitzernd wie ein Kristall oder Glas, und er wußte, noch bevor er niederkniete und behutsam die Finger nach der niedrigen Reling ausstreckte, daß auch die Schiffe versteinert waren, unlösbar verwachsen mit der Hafenmauer und vermutlich auch dem Meeresgrund.

Tiefe Enttäuschung machte sich in ihm breit. Er hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, mit diesen Schiffen davonsegeln zu können wie mit einem Geschenk des Himmels, aber was er sah, erschien ihm wie ein besonders boshafter Scherz der Natur, eigens dazu erschaffen, ihn zu verhöhnen.

Er stand auf, ging vorsichtig über die durchhängenden Taue hinweg und inspizierte auch noch die anderen beiden Schiffe. Selbst jetzt, als er direkt vor ihnen stand, fiel es ihm schwer, ihre genaue Form und Größe zu bestimmen. Ganz leicht erinnerten sie ihn an den Dronte, aber die Ähnlichkeit war nur oberflächlich und vielleicht nur da, weil er sie sehen wollte.

Skar ging bis zum letzten der drei Boote, starrte einen Moment in die Dunkelheit dahinter und drehte sich dann, enttäuscht und beinahe niedergeschlagen, herum.

Aus der Achterluke des mittleren Schiffes schimmerte Licht herauf. Skar blieb stehen, senkte seine Fackel und schirmte sie mit der Hand ab, so gut es ging. Aber das Licht blieb: ein schwacher, dunkelroter Schimmer, der durch die Ritzen der nicht völlig geschlossenen Luke heraufdrang, der Widerschein eines Feuers oder einer anderen Fackel, die dort drinnen brannte. Als er das erste Mal an den Schiffen vorübergegangen war, mußte es vom Schein seiner eigenen Fackel überdeckt worden sein, nur ein Lichtreflex unter vielen, die das Jahrtausend der Dunkelheit über diesen Booten durchbrochen hatten. Jetzt sah er es deutlich.

Skars Gedanken überschlugen sich für einen Moment. Sein Blick irrte zurück zu der Stelle, an der Del und die anderen auf ihn warteten, tastete - beinahe angstvoll - wieder über den schwarzen Rumpf des versteinerten Schiffes und blieben erneut an dem schmalen Streifen trübroter Helligkeit hängen. Seine Hand legte sich auf das Schwert, er zog die Waffe halb aus dem Gürtel und schob sie wieder zurück. Yar-gans Warnung fiel ihm ein. Er hätte zurückgehen und den Sumpfmann und die Krieger holen müssen. Sie wenigstens warnen.

Statt dessen ging er langsam in die Hocke, legte die Fackel zu Boden - schräg auf das versteinerte Tau gestützt und so, daß sie weder umfallen und erlöschen konnte noch die Flamme das Seil berührte -, richtete sich wieder auf und trat, nach einem weiteren, unmerklichen Zögern, auf das Schiff hinauf. Er erwartete instinktiv, das uralte Holz unter seinen Stiefeln knarren zu hören, aber der Schiffsrumpf saugte das Geräusch seiner Schritte im Gegenteil auf. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Seine Handflächen waren feucht, als er das Achterdeck erreichte und sich neben der Luke auf die Knie sinken ließ. Er beugte sich vor, lauschte einen Moment und versuchte, durch die Ritzen zu spähen.

Alles, was er sah, war Licht. Rotes Licht und Schatten, wie symmetrische dunkle Flecken in den trüben Schein hineingeschnitten, und alles, was er hörte, waren das Geräusch der Wellen und sein eigener hämmernder Herzschlag. Wieder sah er auf und blickte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war, und wieder flüsterte eine Stimme in ihm, daß er zurückgehen mußte. Es war nicht nur sein eigenes Leben, das er in Gefahr brachte.

Skar griff zögernd nach dem schweren Lukendeckel, spannte die Muskeln und hob ihn um Zentimeter an. Die Scharniere waren versteinert wie alles auf diesem Schiff, aber sie funktionierten noch: Die Luke schwang leicht und beinahe lautlos nach oben. Der Deckel war schwer, viel schwerer, als er erwartet hatte, und Skar mußte rasch nachgreifen, um ihn nicht wieder fahren zu lassen. Behutsam stand er auf, stemmte den Deckel ganz hoch und lehnte ihn gegen den Achteraufbau. Eine schmale versteinerte Holztreppe führte nahezu senkrecht in die Tiefe. Unter ihm lag ein langgestreckter, nach allem, was er erlebt hatte, wohltuend normal aussehender Raum.

Rotes Licht und Wärme schlugen ihm entgegen, als er in das Schiff hinabstieg. Skar blieb am Fuße der Leiter stehen, drehte sich einmal um seine Achse und lauschte. Wieder senkte sich seine Hand auf das Schwert, aber er zog die Waffe auch diesmal nicht. Es war beinahe unheimlich still hier drinnen. Selbst das kaum hörbare Geräusch, mit dem das Schwert aus der Scheide glitt, konnte ihn verraten.

Der Lichtschein kam vom entgegengesetzten Ende des Raums. Eine schmale, kaum anderthalb Meter hohe Tür führte tiefer in den Schiffsrumpf hinein, und als er weiterging, stieg ihm ein leichter Geruch wie nach schwelender Kohle in die Nase.

Es wurde wärmer. Auf den versteinerten Planken zu seinen Füßen glitzerte Wasser; Kälte, die unter dem warmen Hauch, der aus dem Leib des Schiffes heraufdrang, geschmolzen war. Skar ging vorsichtig bis zur Tür, sah sich noch einmal sichernd um und drang dann, gebückt, denn der Gang war so niedrig, daß er gegen die Decke gestoßen wäre, hätte er sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet, tiefer in das Schiff vor. Licht und Brandgeruch wurden stärker, seine Gesichtshaut begann unter dem warmen Hauch zu prickeln. Der Gang führte zehn, zwölf Schritte geradeaus und endete vor einer schmalen, irgendwie geduckt wirkenden Tür, versteinert und schwarz wie alles hier, aber brüchig und von fingerbreiten gezackten Rissen durchzogen, so daß das Licht aus dem dahinterliegenden Raum hindurchschimmern konnte. Skar blieb abermals stehen und sah sich aufmerksam um. Seine Augen hatten sich an den blutigroten Schein gewöhnt; er erkannte mehr Einzelheiten seiner Umgebung. Direkt neben der Tür hing ein Bild, aus Holz geschnitzt und mit der Wand verwachsen. Die Zeit hatte seine Linien verwischt, er konnte nicht mehr erkennen, was es dargestellt haben mochte. Aber es waren normale Linien, nicht die sinnverwirrenden, verdrehten Winkel und Parallelen Cor-ty-cors. So wie auch dieses Schiff normal und menschlich war, dachte Skar. Es war fremd, vollkommen anders als jedes Schiff, von dem er jemals gehört hatte, aber trotzdem ein Gebilde, das von Menschen gebaut worden war. Er verscheuchte den Gedanken und legte vorsichtig die Hand auf die Tür. Sie schwang nach innen, kaum daß seine Finger das steinharte Holz berührt hatten.

Flackerndes rotgelbes Licht schlug ihm entgegen, und der Brandgeruch wurde so durchdringend, daß er ihm für einen Moment den Atem nahm. Zuckende Lichtblitze liefen in blitzschnellem Hin und Her über die gebogenen Wände und die Decke, und die Wärme wurde so intensiv, daß er instinktiv die Hand hob, um seinen Mantel zu öffnen, es aber dann nicht tat. Er stand so, daß er nur einen kleinen Teil des Raumes überblicken konnte, aber er sah jetzt nicht nur das Licht, sondern hörte auch das leise Knacken und Prasseln von Flammen. Warme Luft berührte ihn wie eine streichelnde sanfte Hand und trieb die Kälte unter seine Haut zurück.

Skar preßte sich neben der Tür gegen die Wand, schloß für einen Moment die Augen und lauschte.

Jetzt, als die Tür geöffnet war, erfüllten die Flammen den Gang mit einer Vielzahl knisternder und knackender Laute. Geräusche, die ihn die Kälte, die sich in seinen Gliedern eingenistet hatte, doppelt schmerzhaft spüren ließen, und nach einer Weile glaubte er eine menschliche Stimme zu hören, eine Stimme, die Worte in einer Sprache murmelte, die ihm fremd war und die ihm trotzdem auf eine seltsame Weise bekannt vorkam, als hätte er ihre Klangfarbe, ihren Ton schon unzählige Male gehört, ohne sich erinnern zu können, wo. Dann glaubte er Weinen zu hören, ein schmerzhaftes, nur mit Mühe unterdrücktes Schluchzen, dazwischen kratzende, harte Geräusche, als schramme Stahl über Stein oder Horn. Skar blieb noch eine weitere Sekunde reglos stehen, dann spannte er sich und trat mit einem entschlossenen Schritt durch die Tür und zog gleichzeitig sein Schwert. Seltsamerweise überraschte ihn der Anblick kaum. Im Gegenteil. Nach allem, was geschehen war, schien es ihm nur logisch, er empfand keinen Schrecken, keinen Zorn, nicht einmal Erstaunen - und wenn, so höchstens darüber, daß er nicht schon vor langer Zeit erkannt hatte, was Gowenna wirklich plante.

Sie waren beide da: Gowenna und die Errish. Dieses versteinerte Schiff am Rande der toten Stadt war der Endpunkt ihrer Wanderung, für jede der beiden Frauen auf ihre Weise.

Skar kam sich plötzlich albern vor, wie er so dastand, geduckt, jeder einzelne Muskel in seinem Körper gespannt und bereit zum Sprung, das Schwert so fest in der Hand, daß die Klinge vibrierte. Es gab hier nichts, wogegen er hätte kämpfen können. Der Kampf, der hier stattgefunden hatte, war vorüber. Schon lange.

Mit einer fast verlegenen Bewegung richtete er sich auf, ließ die Waffe sinken und trat zwischen die beiden Feuerschalen, die den Raum mit flackernder Helligkeit erfüllten. Er fühlte sich betäubt, leer - und unsagbar dumm. Alles war so klar gewesen, daß er es hätte wissen müssen; spätestens in dem Moment, in dem ihn Yar-gan über Gowennas wahre Identität aufgeklärt hatte.

Aber vielleicht hatte er es nicht wissen wollen.

Die Wärme der beiden Feuerschalen wurde unangenehm. In den flachen eisernen Becken brannten Stücke des versteinerten Holzes, die Flammen schlugen beinahe meterhoch und schleuderten kleine glühende Funken gegen die Decke: Skar wich einen halben Schritt zurück und öffnete seinen Mantel. Das rote Licht verlieh dem Bild etwas Unwirkliches und ließ es wie eine bedrückende blutige Vision erscheinen: eine irreale Szene aus einem Alptraum, verborgen hinter einem wogenden roten Schleier.

Gowenna sah ihn an, aber ihr Blick war leer und ins Nirgendwo gerichtet; sie sah zu ihm hin, aber sie sah ihn nicht. Eine einzelne Träne lief aus ihrem erloschenen Auge und malte eine dünne, glitzernde Spur in das verhärtete Narbengewebe darunter; er gewahrte es mit einer geradezu absurden Klarheit. Sein Gesichtssinn schien plötzlich verändert und nur noch selektiv zu funktionieren. Das Bild verschwamm immer stärker vor seinen Augen, aber er sah andere Dinge überdeutlich. Gowennas Haltung war verkrampft, wie die eines Menschen, der unerträgliche Qualen aussteht. Ihr Mund war zusammengepreßt, so fest, daß sich ihre Zähne in die Unterlippe gegraben hatten und Blut über ihr Kinn lief. Trotz der niedrigen Temperaturen hier drinnen trug sie nur ein dünnes, halb durchsichtiges graues Kleid; ihr Körper zitterte vor Kälte. Ihre Hände lagen, nebeneinander und so weiß, als gehörten sie nicht mehr zu ihrem Körper, sondern wären bereits abgestorben und tot, auf Velas Gesicht, die Handballen auf Stirn und Schläfen gepreßt, die Daumen rechts und links der Nasenwurzel, die Mittelfinger auf ihren geschlossenen Lidern, so fest, als wolle sie ihr die Augen ausdrücken. Wie Gowenna war Vela nur in ein dünnes graues Kleid gehüllt; ihr aufgequollener Leib zeichnete sich deutlich darunter ab, ihre Hände waren verkrampft, die Beine angezogen und leicht gespreizt, ihre Haut war fleckig und von der Kälte angegriffen, Finger und Zehen wiesen dunkle Erfrierungen auf. Trotzdem erschien sie ihm schöner und verlockender als jemals zuvor. Ihr Gesicht wirkte friedlich und sanft, und wenn sie tot war, so mußte sie einen sehr friedlichen Tod gestorben sein. Keine Schmerzen und keine Qual mehr. Die Schwangerschaft verunstaltete ihren Körper, aber sie ließ ihn auch gleichzeitig fraulicher und weicher erscheinen; jünger.

Gowenna schluchzte: ein leiser, mühsamer und von unerträglicher Pein erfüllter Laut, der irgendwo tief, sehr tief aus ihrem Körper heraufdrängte und als halberstickter Schrei über ihre Lippen kam. Sie bewegte sich, nahm die Hände von Velas Gesicht herunter und senkte den Kopf. Skar sah, daß sich dünne rote Linien über Velas Antlitz zogen, dort, wo Gowennas Fingerspitzen gelegen hatten wie dünne blutige Tränen auf Velas Augenlidern beginnend, hinauf zur Stirn und den Schläfen laufend und wieder abwärts, bis sie sich mit anderen, breiteren und wie sie mit menschlichem Blut gemalten Linien vereinigten, die die Körper der Errish und Gowennas umschlossen. Skar stöhnte. Er spürte, wie sich seine Gedanken zu verwirren begannen, wie der Schrecken, den er bisher nicht verspürt hatte, nun mit aller Macht nach ihm griff und eine neue, eisige Kälte in seinem Inneren entstehen ließ. Sein Blick folgte den dunklen Linien aus Blut, saugte sich für einen Moment an den ungeschickten, aber noch erkennbaren Mustern fest, den winzigen Schnitten auf Velas Händen und dem Blut, das daraus hervorgequollen war und sich mit dem Gowennas verbunden hatte. Blut zu Blut, dachte er, die verbotenen Worte wiederholend, die er vor zahllosen Jahren einmal gehört und vergessen zu haben geglaubt hatte. Seele zu Seele, Sai zu Sai. Die dunklen Flecken auf Velas Körper waren keine Erfrierungen, sondern Stigmata des Unaussprechlichen, Verbotenen, das Gowenna ihr angetan hatte. Er hob den Kopf, wollte etwas sagen, aber seine Stimme versagte ihm den Dienst, als er in Gowennas Augen, in ihre beiden sehenden Augen blickte.

»Skar...«

Es war nicht wirklich sein Name, nur ein Laut, der ihm ähnlich war, eigentlich nur ein Schrei, zu dem ihr die Kraft fehlte. Sie weinte, lautlos und voller Qual, aber ihr Gesicht blieb starr, ihr Körper so unbeweglich wie eine steinerne Statue. Sie schien nicht einmal zu atmen. Skar löste sich mühsam von seinem Platz, ging auf sie zu und blieb einen halben Schritt vor dem Kreis aus getrocknetem Blut stehen, der die beiden Frauen umgab. Vela war blaß, ihre Haut weiß wie Schnee, und ihre Brust bewegte sich nicht. »Sai-tan...«, sagte er stockend. »Das also war es. Du... hast es die ganze Zeit über gewollt, nicht wahr?« Er suchte vergeblich nach Zorn in sich, und er versuchte ebenso vergeblich, seiner Stimme einen vorwurfsvollen Klang zu geben. Sie klang ihm selbst fremd in den Ohren. »Schon bevor wir aufgebrochen sind.«, dachte er, so war es gewesen. Nicht erst in Elay oder irgendwo auf dem Weg hierher, sondern schon viel früher. Sie hatte auf diesen Moment gewartet, seit sie an jenem Morgen auf den gläsernen Ebenen Tuans aus dem Fieber erwacht und zum ersten Mal das verkohlte Fleisch unter ihren Fingerspitzen gefühlt hatte. Sie hatte von Anfang an auf diesen Moment gewartet, und vielleicht hatte sie den Kampf einzig aus diesem einen Grund durchgestanden. Es war nicht die Welt gewesen, die sie retten wollte. Das Schicksal Enwors war ihr - auf ihre Weise - so gleichgültig gewesen wie Vela. Skar drängte mit Mühe ein bitteres Lachen zurück. Du bist blind gewesen, Bruder, wisperte die Stimme in seinem Inneren plötzlich so laut und deutlich wie niemals zuvor, voller Macht und Stärke - und abgrundtiefer Verachtung. Du hast geglaubt, an der Seite einer Frau zu reiten, die ihr Leben für die Zukunft deiner Welt riskiert? Narr! Sie wollte Rache. DIES hier war es, was sie gewollt hat, die ganze Zeit über.

Er wehrte sich nicht mehr. Die Stimme hatte recht, so wie sie die ganze Zeit über recht gehabt hatte, mit allem. Sie mochte die dunkle Seite seiner Seele sein, boshaft und hart, aber sie log nicht. Es war ihr nicht um das Schicksal der Errish oder die Zukunft Enwors gegangen. Sie wollte Rache, wollte den Körper der Frau, die ihren eigenen zerstört und geschändet hatte. Sai-tan, der Tausch der Seele, das war es gewesen. Vela hatte sie zerstört, ihren Körper zu einem verunstalteten abstoßenden Etwas gemacht, ein Gefängnis, in dem sie für den Rest ihres Lebens nichts als Qual und Einsamkeit empfinden würde, und vielleicht - ja, dachte Skar, vielleicht war es, von einem Standpunkt, den nachzuempfinden er nicht in der Lage war, wohl aber verstehen konnte, nur gerecht, daß sie selbst es jetzt sein sollte, die darin lebte, daß Gowenna ihren jungen, gesunden Leib nahm und ihr ihren eigenen zerstörten dafür gab.

»Ist sie... tot?« fragte er leise.

Gowenna sah auf. Ihr Antlitz wirkte fahl im roten Licht der Flammen, und ein einzelner Blutstropfen lief über ihre aufgesprungene Lippe und fiel auf Velas Stirn. Velas Augenlider bebten, ganz leicht nur, und ein kurzer, rascher Schauer lief durch ihren Körper. Skar blickte verwirrt von ihr zu Gowenna.

»Ich... konnte... es... nicht...«, flüsterte Gowenna. »Ich... Skar, ich...« Sie brach ab, begann zu schluchzen und sank plötzlich nach vorne. Ein Weinkrampf schüttelte ihren Körper.

Skar ging vorsichtig um Vela herum, ließ sich neben Gowenna auf die Knie sinken und hob die Hand, zog die Finger aber zurück, ehe sie Gowennas Schulter berühren konnten. Plötzlich begriff er, was geschehen war, obwohl er dieses Begreifen weder in Worte noch in Gedanken zu kleiden imstande war. Er wußte, woher Gowenna diese unglaubliche übermenschliche Kraft bezogen hatte, eine Kraft, auf die selbst er manchmal neidisch gewesen war. Ihre Worte fielen ihm ein: »Ich werde sie suchen. Skar. Ich werde weiterleben, und ich werde Vela finden, ganz egal, wo sie sich versteckt. Ich werde sie finden. Und ich werde sie töten.« Sie hatte es getan. Sie hatte sie gejagt bis ans Ende der Welt und darüber hinaus, und doch würde sie ihren Schwur nicht wahrmachen. Sie konnte es nicht. Sie hatte das Wissen, und sie hatte die Macht, die nötig waren, das verbotene Zeremoniell des Sai-tan zu vollziehen. Und doch konnte sie es nicht. So wenig, wie er seinem Dunklen Bruder nachzugeben und sich damit seiner Macht zu bedienen in der Lage war, konnte sie den Rest von Menschlichkeit, den Teil von sich, den sie all die Jahre mühsam tief in ihr Inneres verbannt und begraben hatte, besiegen. »Gowenna«, sagte er leise. »Du -«

Sie sah auf, drehte mühsam den Kopf und blickte ihn an. Der Streifen weißen Haares über ihrer verbrannten Gesichtshälfte war breiter geworden. »Nenn mich nicht so.« Sie weinte nicht mehr, und ihre Stimme klang fest, noch immer sehr leise und kraftlos, aber beherrscht. Etwas von ihrer Kraft war noch immer in ihr. »Das ist nicht mein Name. Gowenna ist gestorben, vor langer Zeit, Skar.«

»Ich weiß.« Er nickte, beugte sich vor und griff nach ihrer Hand. Er führte die Bewegung nicht zu Ende, aber nach einer Weile hob Gowenna die Finger und berührte ganz leicht seinen Handrücken. Ihre Haut war kalt. »Sie starb vor den Toren Combats, nicht? Und Kiina lebt.« Er zögerte, legte das Schwert zu Boden und legte die Hand auf ihre Schulter. Gowenna schauderte, und für einen winzigen Moment glaubte er, sie würde seine Hand abstreifen und ihn zurückstoßen, aber dann tat sie das Gegenteil, umklammerte sie mit aller Kraft und ließ sich gegen ihn sinken. »Die Frau, die ich als Gowenna kennenlernte, hätte niemals den Thron Elays besteigen können.«

»Du... weißt es?« fragte Gowenna.

»Ja, ich weiß es, Gowenna...«

Kiina, verbesserte er sich in Gedanken. Es fiel ihm schwer, sich an diesen Namen zu gewöhnen, aber er würde es müssen. Nach Del und Helth war nun auch sie nicht mehr der Mensch, an dessen Seite er aufgebrochen war, und er fragte sich unwillkürlich, ob er der nächste sein würde und wenn, ob die Veränderung vielleicht schon begonnen hatte, ohne daß er es selbst spürte. Gowenna löste sich aus seinen Armen, setzte sich auf und widerstand im letzten Moment der Versuchung, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. »Der Sumpfmann hat es dir gesagt.«

Er nickte. Für einen Moment war er überrascht, daß Gowenna das Geheimnis des Sumpfmannes kannte, aber dann fiel ihm wieder ein, daß sie längst nicht mehr auf die beschränkten Möglichkeiten, Wissen und Erkenntnis zu erlangen, die ihm zur Verfügung standen, angewiesen war. Im Grunde begriff er erst jetzt wirklich, wem er gegenübersaß. Es war nicht irgendeine Frau, nicht irgend jemand, der über ein paar besondere Fähigkeiten und ein bißchen geheimes Wissen verfügte, sondern die Margoi der Errish. Vielleicht gab es auf dieser ganzen Welt niemanden, der so viel verbotenes Wissen und eine so gewaltige geistige Kraft in sich vereinigte wie sie.

»Ja«, sagte er leise. »Als du... als du fort warst. Warum hast du es mir nicht gesagt?«

»Ich konnte es nicht«, antwortete Gowenna ernst. Sie wirkte jetzt sehr viel gefaßter. »Du wärst nicht mitgekommen, wenn du die Wahrheit gewußt hättest. Weder über mich noch über Yar-gan.«

Skar überlegte einen Moment und nickte. Sie hatte recht. Er wäre zurückgeschreckt wie ein Kind, das unversehens einem Gott begegnet, hätte er gewußt, wer Gowenna in Wirklichkeit war. Und er hätte sich ebenso geweigert, mit einem Wechselbalg in der Gestalt Dels zu reisen. »Mußte ich es denn?« fragte er. »Yar-gan und du, ihr habt die Macht von Göttern«, sagte er bitter. »Oh, ich weiß, daß ihr es nicht seid, aber ihr habt die Macht von Göttern, und ich bin nichts als ein normaler Mensch. Was kann ich tun, das ihr nicht tausendmal besser könntet?«

Statt einer Antwort hob Gowenna abermals die Hand und berührte ihn flüchtig an der Stirn, und Skar spürte, wie das Ding in seinem Inneren zurückprallte und sich mit einem lautlosen Schmerzensschrei in die tiefsten Abgründe seiner Seele flüchtete, dorthin, wo es selbst vor Gowenna in Sicherheit war. Für einen Moment schwindelte ihm. »Das Kind«, sagte Gowenna ernst. »Es wird geboren werden, Skar, noch heute. Dein Kind.« Mein Kind? dachte er. Oder das Kind meines Dunklen Bruders? Hatte ihm nicht Vela deutlich genug gesagt, daß es das Erbe dieses Dinges in ihm war, das in seinem Kind weiterleben würde, daß es seine Kräfte waren, tausendmal stärker als in ihm selbst, über die sein Sohn gebieten würde?

»Weder ich noch Yar-gan könnten ihm widerstehen, Skar«, fuhr Gowenna fort. »Du kannst es.«

»Und was soll ich tun?« fragte er bitter. »Es töten?«

»Vielleicht«, antwortete sie leise. »Ich hoffe, daß wir einen anderen Weg finden, Skar. Aber es kann sein, daß uns nur dieser Ausweg bleibt. Vielleicht mußt du es töten, Skar, dein eigenes Kind. Doch wenn, dann nicht mit deinen Händen oder deinem Schwert.«

Er war sich nicht sicher, ob er wirklich verstand, was Gowenna meinte, und etwas in ihm schreckte davor zurück, es auch nur zu versuchen. Aber er spürte, daß er es wissen würde, wenn es soweit war. »Das Kind...«, murmelte er. Sein Blick glitt über die reglose Gestalt der Errish. Wieder lief ein rascher, schmerzhafter Schauer durch ihren Körper. Die Augen hinter den geschlossenen Lidern bewegten sich. Ihre Haut wirkte fast transparent.

»Die Wehen haben begonnen«, sagte Gowenna leise. »Schon vor Stunden. Es ist fast soweit.«

»Hast du es deshalb nicht getan?« fragte Skar mit einer Kopfbewegung auf die dunklen Linien aus geronnenem Blut und die breiten, noch feuchten Wunden an den Innenseiten ihrer Handgelenke. Gowenna starrte ihn an, und Skar senkte betreten den Blick.

»Verzeih«, murmelte er. »Das... wollte ich nicht sagen. Es tut mir leid.«

Gowenna winkte ab. »Ich glaube, wir haben uns gegenseitig zu viel angetan, als daß einer von uns den anderen noch für irgend etwas um Verzeihung bitten müßte«, sagte sie lächelnd. Mit einer unbewußten Geste strich sie durch das Haar und griff nach ihrem Mantel. Skar spürte plötzlich, wie kalt es trotz der prasselnden Flammen hier drinnen war. Das Feuer konnte den Atem des Winters nicht wirklich vertreiben.

»Sie stirbt«, fuhr Gowenna fort, während sie den Mantel überstreifte und seine Spangen schloß. »Ich hoffe nur, sie hält durch, bis das Kind geboren ist.«

»Kannst du... nichts für sie tun?« fragte Skar stockend.

Gowenna verneinte. »Mit leeren Händen?« Ein trauriges Lächeln huschte über ihre Züge. Sie stand auf, ging gebückt zu den beiden Feuerschalen hinüber und warf neues Holz in die Flammen. Skar sah, daß sie es achtlos aus einer der Seitenwände gehackt und kleingetreten hatte. Das Holz war steinhart, aber offensichtlich so spröde, daß es schon unter der geringsten Belastung zerbrach. »Wir Errish vermögen zu heilen und zu helfen«, stellte sie fest, ohne ihn anzusehen, »aber nicht zu zaubern.«

Skar dachte an die Berührung ihrer Hände und den Schmerz, den sie dem Ding in seinem Innersten zugefügt hatte, aber er schwieg. Gowenna kam zurück, ließ sich ihm gegenüber auf die Knie sinken und beugte sich für einen Moment über die schlafende Errish. »Warum gehst du nicht zurück und holst Yar-gan und die anderen?« fragte sie. »Wir werden mit diesen Schiffen nicht fortkommen, aber es wartet sich besser hier drinnen. Es ist wärmer.«

»Warten?« wiederholte Skar. »Worauf?«

Gowenna deutete stumm auf Velas Leib.

»Und dann?« fragte Skar. Ein seltsames Gefühl der Verzweiflung machte sich in ihm breit. »Was ist dann, Gowenna? Was soll ich ihnen sagen - daß es keine Schiffe gibt und sie nach Hause schwimmen müssen?«

Er hatte sie mit diesen Worten verletzen wollen, aber Gowennas Miene blieb unverändert ausdruckslos. »Was ist dann?« wiederholte sie seine Frage, und sie tat es auf so seltsame Weise, daß er unwillkürlich wieder fror. »Es spielt keine Rolle, was mit uns geschieht, Skar«, sagte sie ernst. »Ganz egal, ob wir gewinnen oder verlieren. Wenn dieses Kind seinen ersten Schrei tut, ist unsere Aufgabe beendet. Laß uns darüber nachdenken, wenn wir dann noch leben«, fügte sie mit leicht veränderter Betonung hinzu.

Skar versuchte sich zu konzentrieren, aber es fiel ihm unglaublich schwer, den Sturm einander widersprechender Gefühle in seinem Innern niederzukämpfen und sich den greifbaren Problemen zuzuwenden. »Woher wußtest du, daß sie hier ist?« wollte er wissen.

»Es war der einzig in Frage kommende Ort«, antwortete Gowenna. »Der einzige Ort, an dem ich sie finden konnte.« Sie sog hörbar die Luft ein. Ihr Atem bildete kleine Dampfwölkchen vor ihrem Gesicht. »Ich wußte es, als wir in die Höhle zurückkehrten und sie fort war.« Plötzlich lächelte sie. »Der zweite Fehler, den Helth gemacht hat.«

»Du meinst, er hat sie hierher gebracht?«

»Er oder seine Kreaturen, das bleibt sich gleich«, antwortete sie. »Er hat mich und Del niedergeschlagen und Vela entführt, damit ihr mich verdächtigt, aber er hätte sich davon überzeugen sollen, daß ich auch wirklich tot war - sein erster Fehler.«

»Deshalb also dieser sinnlose Angriff, als du plötzlich wieder zurückgekommen bist«, murmelte Skar.

Gowenna wirkte für einen winzigen Moment unsicher, aber sie fing sich wieder, so rasch, daß er nicht genau wußte, ob sie ihm wirklich etwas verschwieg oder er einfach nur zu mißtrauisch geworden war. »Ja«, sagte sie. »Er ist verschlagen und hinterlistig, aber nicht besonders klug. Wäre er es, hätte er uns alle schon viel früher umgebracht.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wußte, daß ich sie hier finde, Skar. Helth - das Ding, in das er sich verwandelt hat - braucht mich, um sie am Leben zu erhalten. So lange, bis das Kind geboren ist.«

Vela regte sich. Als wäre Gowennas Erklärung ein Stichwort gewesen, kam ein leiser, stöhnender Laut über ihre Lippen, und ein neuer, viel heftigerer Krampf schüttelte ihren Körper.

»Ist es soweit?« fragte Skar.

Gowenna schüttelte den Kopf und beugte sich abermals über die Errish. Ihre Finger tasteten geschickt über ihren Leib, verharrten einen Moment und glitten tiefer. »Sie ist zu schwach«, murmelte sie besorgt. »Sie...« Sie stockte, hob mit einem Ruck den Kopf und deutete zum Ausgang. »Geh und hole den Sumpfmann, Skar. Vielleicht kann er uns helfen. Ich fürchte, sie stirbt, wenn die Preßwehen einsetzen.« Skar wollte noch etwas sagen, aber Gowennas Blick wurde so ernst, daß er sich wortlos erhob und zur Tür ging. Als er den Raum verließ und ihn die Kälte mit aller Macht ansprang, war er fast dankbar dafür.

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