15.

Er schlief, aber er schlief schlecht, und es war eher ein Zustand der Erschöpfung als wirklicher Schlaf. Die Kälte verfolgte ihn selbst bis in seine Träume, und er schrak ein paarmal am ganzen Leibe zitternd und mit schmerzenden Fingern und Zehen hoch, ehe ihn Del vollends wachrüttelte. Kaum daß er aufgestanden war, kroch der unter seine angewärmten Decken und schlief fast augenblicklich ein.

Skar betrachtete ihn mit einer Mischung aus Neid und Verwirrung. Sein Platz wäre jetzt draußen gewesen, wo er Helth, Gowenna und Vela gleichermaßen im Auge gehabt hätte. Aber obwohl er wußte, daß Del mit seinem Mißtrauen durchaus recht hatte, war ihm auch gleichzeitig klar, daß es sinnlos war, auf Gowenna zu achten. Was immer sie vorhatte, sie würde es tun, so oder so.

Skar lächelte dünn. Es war noch nicht lange her, da wäre es umgekehrt gewesen. Da hätte er gewarnt, und Del hätte ihm nicht geglaubt. Er gab sich einen Ruck, wandte sich um und trat gebückt unter dem halb eingestürzten Durchgang hindurch, von dem er jetzt wußte, daß er einmal eine Tür gewesen war. Ein paar Männer waren wie Del und er tiefer in das Gebäude eingedrungen, um der Kälte zu entfliehen, und lagen schlafend auf dem Boden. Er ging leise, um sie nicht zu wecken; jede Sekunde Schlaf war kostbar, jede Stunde, die sie ruhten, konnte eine Stunde sein, die sie draußen auf dem Eis länger lebten. Narr! wisperte eine Stimme hinter seiner Stirn. Du denkst noch immer wie ein Satai! Aber das bist du nicht mehr. Und diese Männer sind keine Krieger, die du befehligen kannst. Er blieb stehen, schloß die Augen und ballte mit einem unterdrückten Stöhnen die Fäuste. Fast angstvoll wartete er darauf, daß die Stimme zu sprechen fortfuhr, aber sie schwieg, und so ging er schließlich weiter.

Dicht vor dem Eingang lagen drei Männer nebeneinander, gemeinsam unter drei übereinandergelegte Decken gekrochen, um sich so mit ihren Körpern noch gegenseitig zu wärmen, und einer von ihnen war Helth. Skar blieb stehen und betrachtete ihn einen Moment. Er schlief, aber in verkrümmter, beinahe verkrampfter Haltung, die Arme um den Leib geschlungen und die Hände gegen Brust und Hals gepreßt, als leide er Atemnot, und seine Wangenmuskeln waren angespannt. Skar sah ihn einen Herzschlag lang an und überlegte, ob er ihn wecken und so dem Alpdruck entreißen sollte, den er zweifellos durchlitt, ließ es aber dann. Die Wirklichkeit war auch nichts als ein anderer, sogar tödlicher Alptraum. Nur, daß sie aus ihm nicht einfach aufwachen konnten, um ihm zu entfliehen. Leise drehte er sich um und ging weiter.

Er fand Vela in einem geschützten Winkel unweit des Ausganges, stieg behutsam über einen schlafenden Mann hinweg und ließ sich neben ihr in die Hocke sinken. Sie schlief. Ihr Gesicht war noch immer blaß, aber ihr Atem ging ruhig. Langsam und beinahe überrascht über sein eigenes Tun hob er die Hand und berührte ihre Wange. Ihre Haut war heiß. Sie hatte Fieber. Aber das hatten sie wohl alle.

»Zufrieden?«

Skar fuhr zusammen und zog die Hand beinahe schuldbewußt zurück. Gowenna war lautlos herangekommen und beobachtete ihn aus ihrem einzigen, spöttisch funkelnden Auge. »Sie schläft«, sagte sie. »Und ich wäre an deiner Stelle froh, daß sie nicht erwacht.«

Skar sprang mit einer übertrieben hastigen Bewegung auf und trat an ihr vorbei. Sein Fuß streifte einen der Schlafenden; der Mann bewegte sich unruhig, wachte aber nicht auf. »Ich habe keine Lust, mich mit dir zu streiten«, entgegnete er knapp.

Gowenna lächelte. »Ich streite nicht«, erklärte sie. »Ich versuche nur, dich zu warnen. Aber vielleicht ist es auch gar nicht nötig. Del und du bewacht sie so gut, daß ihr ohnehin als erste merken werdet, was geschieht. Habt ihr Angst, daß ich mich nachts an ihr Lager schleiche und ihr etwas zuleide tue?«

Skar überging den beißenden Spott in ihrer Stimme. Vielleicht war die Gelegenheit günstig, sie zur Rede zu stellen; sie waren ungestört, die Männer schliefen, und es gab genügend Räume und Winkel in dieser bizarren Ruine, in die sie sich hätten zurückziehen können. Aber er spürte auch, daß sie auf die Auseinandersetzung vorbereitet war. Er nicht. Gowenna war nicht dumm. Sie mußte sich ausgerechnet haben, daß er irgendwann erkennen würde, was geschah.

Nein, dachte er. Nicht jetzt. Später. Vielleicht nie.

»Bitte«, sagte er leise. »Nicht jetzt, Gowenna.«

Sie sah ihn einen Moment mit undeutbarem Ausdruck an, schlug ihren Umhang zurück und fuhr sich mit einer unbewußten, glättenden Geste über Kettenhemd und Hose. Die Bewegung verlieh ihrer tristen Umgebung etwas seltsam Vertrautes. »Wie du willst«, murmelte sie, plötzlich sichtlich darum bemüht, das Thema zu wechseln, nur noch mit dem Krieger, der er war, zu reden, nicht mehr mit dem Mann, der er einmal gewesen war und den sie - vielleicht, denn nicht einmal dessen war sich Skar jetzt mehr sicher - geliebt hatte. Was zwischen ihnen gewesen war, war ohnehin vorbei, und sie gehörten beide nicht zu den Menschen, die sich an zerbrochene Träume klammerten.

Trotzdem war es diesmal Skar, der sie zurückhielt. »Die Männer halten den Marsch nicht mehr durch«, sagte er. »Zwanzig Meilen durch diese Kälte schaffen sie nicht mehr. Selbst Helth nicht.«

»Sie werden es müssen«, antwortete Gowenna ruhig. »Sie haben keine andere Wahl. Und wir auch nicht.«

Normalerweise hätte ihn die eisige, menschenverachtende Art, in der sie diese Worte sprach, in Rage gebracht. Aber er war noch immer müde, jetzt vielleicht mehr denn je, und er sah einfach keinen Sinn mehr darin, sich - ganz egal worüber - mit ihr zu streiten. So verzog er nur verärgert das Gesicht. »Was erwartest du eigentlich?« fragte er halblaut. »Daß ich eine Gruppe von fünfzig halbtoten Männern hundert Meilen durch diese Eiswüste führe, ohne -«

»Warte«, unterbrach sie ihn. »Ich zeige dir etwas, bevor du weitersprichst. Ich bin ohnehin deshalb gekommen, nicht, um mich mit dir herumzustreiten. Komm.«

Bevor er Gelegenheit hatte, eine weitere Frage zu stellen, wandte sie sich um und verschwand gebückt durch den Ausgang. Ihre Stiefel knirschten auf dem Eis, als ginge sie über zermahlenes Glas.

Skar starrte ihr wütend nach, beeilte sich aber trotzdem, ihr zu folgen. Wenigstens kannte er Gowenna mittlerweile gut genug, um zu spüren, wann sie mit ihm spielte und wann sie es ernst meinte.

Die Sonne stand fast im Zenit, als er die schützende Ruine verließ und hinter Gowenna ins Freie trat. Die Kälte sprang ihn an wie ein reißendes Tier, das geduldig auf seine Rückkehr gewartet hatte, und der Wind peitschte ihm Eiskristalle und feinen, pulvrigen Schnee ins Gesicht. Unwillkürlich zog er seinen Mantel enger um die Schulter, aber der Stoff war klamm und so eisig, daß er fast noch stärker fror. Er merkte erst jetzt richtig, wie geschützt sie drinnen gewesen waren. In dieser Hölle aus Weiß und klirrender Kälte machten selbst ein paar Grad einen spürbaren Unterschied.

Gowenna wartete, bis er neben ihr war, wandte sich wortlos um und begann die zerrissene Flanke der Ruine zu ersteigen. Ihre Bewegungen waren langsam und müde, aber trotzdem geschickt, und Skar hatte Mühe, ihr zu folgen. Sein Herz jagte, als er die zwanzig Fuß hohe Mauer bewältigt hatte und vorsichtig auf dem unsicheren Untergrund nach festem Halt suchte.

Gowenna starrte unverwandt nach Westen, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Der Wind spielte mit ihrem Haar und ließ es wie einer, schwarzen Schleier vor ihrem Gesicht auf und ab wehen; ihr Umhang bauschte sich, als wäre er ein lebendes Wesen, und über den zerstörten Teil ihres Gesichtes huschten Schatten, als Versuche sie selbst jetzt noch, sich seinen Blicken zu entziehen. Plötzlich fragte er sich, warum sie keine Maske trug oder wenigstens einen Schleier, wie es die Errish allgemein taten. Sie litt unter diesem zerstörten Antlitz, das wußte er, aber sie unternahm auch nichts, um es zu verbergen. »Also?« fragte er. Obwohl Gowenna schwieg und ihn nicht ansah, spürte er deutlich die Veränderung, die plötzlich mit ihr vonstatten ging. Sie wirkte angespannt, aber auf eine schwer faßbare, aggressive Art. Ihre Hand lag auf dem Schwertgriff.

Gowenna strich sich das Haar aus dem Gesicht, hielt es mit der linken Hand im Nacken zusammen und zeigte mit der anderen auf das zusammengeschobene Fernrohr in Skars Gürtel. Skar holte es hervor und wollte es ihr reichen, aber sie schüttelte nur den Kopf und deutete nach Westen. Das Meer war jetzt mit bloßem Auge nur noch als feine graue Linie vor dem Horizont zu erkennen; davor ein dunkler, verschwommener Schatten von annähernder Kreisform. Der See. Es kam Skar fast wie Hohn vor, daß sie ihn noch immer sehen konnten. Aber vielleicht folgte er ihnen ja auch, und vielleicht trug sie dieses verfluchte Land mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der sie sich vorwärts bewegten, wieder zurück. Wie Fliegen, dachte er, die über eine eingefettete Glasscheibe krabbeln und nicht einmal merken, daß sie ebenso rasch zurückrutschen, wie sie an Höhe gewinnen.

Er vertrieb den Gedanken und hob das Glas an die Augen. Der Kratersee rückte scheinbar auf Armeslänge heran, als er die Linse mit einem Zipfel seines Umhanges von Eis und verklebtem Schmutz gereinigt hatte. Die Luft über dem gewaltigen Trichter flimmerte, und ab und zu huschte ein roter Lichtblitz über seine Wände. Das Wrack der SHAROKAAN mußte noch immer brennen, obwohl ihm dies beinahe unglaublich erschien. Aber das Feuer des Dronte war kein normales Feuer, sondern die Glut der Hölle.

»Sieh weiter hinaus«, sagte Gowenna leise. »Nach Süden. Aufs Meer.«

Gehorsam hob Skar das Glas und ließ es weiterwandern, bis er die Ausfahrt auf der gegenüberliegenden Seite des Trichters erkennen konnte. Selbst durch die stark vergrößernde Linse des Glases betrachtet war sie nicht mehr als ein dünner, mit feinen Schattenlinien gezeichneter Strich. Einen Moment lang verweilte sein Blick darauf, dann schwenkte er das Glas weiter, tastete den Weg zurück, den sie gekommen waren, und folgte der sanft gekrümmten Linie des Kanals bis hinaus aufs Meer.

Der Anblick traf ihn wie ein Schlag.

Der Dronte hockte wie eine mißgestaltete schwarze Spinne vor dem Horizont, die Ruder wie gebrochene Insektenbeine ausgebreitet, als suche er Halt in der glitzernden Meeresoberfläche, die Masten verkrümmt, schwarze Strünke aus zerschmolzenem Wachs, von denen noch Hitze in flimmernden Wellen und dünne Rauchfäden aufstiegen. Da und dort nistete noch ein winziger gelber Glutfunke auf seinem Leib, und seine Umrisse schienen zu verschwimmen, da und dorthin zu wogen wie ein Spiegelbild auf bewegtem Wasser, als versuche er, sich seinen Blicken zu entziehen. Skar hatte plötzlich das Gefühl, daß der Dronte ihn beobachtete, seinen Blick - kalt und doch voller boshafter, berechnender Intelligenz - erwiderte.

»Es ging schneller diesmal«, bemerkte Gowenna.

Skar ließ verblüfft das Glas sinken und starrte sie an.

»Bei allen Göttern...« Sie seufzte. »Es würde mich wirklich nicht mehr wundern, wenn er uns nachkriechen würde.«

Aber das hat er doch bereits getan, wisperte eine Stimme in Skar. Etwas von ihm ist euch doch gefolgt.

Er setzte das Glas wieder an, schwenkte es weiter, immer der Linie der Küste folgend, zurück zum See, beendete den Kreis und folgte schließlich mit dem Teleskop dem Weg, den sie gekommen waren. Wenigstens bis zur Hälfte.

»Wie viele sind es?« fragte Gowenna leise.

Skar antwortete nicht. Sein Blick hing wie gebannt an den schlanken, in blitzende Eispanzer und reißende Stacheln gekleideten Gestalten, die reglos wie bizarre Statuen aus poliertem Glas auf dem Eis standen.

»Wie viele?« fragte Gowenna noch einmal.

»Vier«, murmelte Skar, ohne den Blick von den weiß schimmernden Kriegern zu nehmen. »Nur vier. Aber sie rühren sich nicht.« Er senkte das Glas, sah Gowenna verstört an und blickte dann aus zusammengekniffenen Augen über die blinkende endlose Fläche. Jetzt, als feststand, daß sie da waren, glaubte er, sie auch ohne das Fernrohr zu erkennen, obwohl er wußte, daß das unmöglich war. »Zu wenige für einen Angriff«, murmelte er.

»Aber genug, um uns am Umkehren zu hindern«, fügte Gowenna grimmig hinzu.

Skars Hand glitt zum Schwert und legte sich fest um den lederbezogenen Griff. Aber er verwarf den Gedanken an einen Kampf so rasch, wie er gekommen war. Sicher, sie würden sie schlagen können. Es waren nur vier, vier gegen Gowenna, Del, Helth und ihn selbst, und sie waren bei aller Kraft und Fremdartigkeit nicht unverwundbar. Einen Moment lang dachte er ernsthaft darüber nach, ob es wirklich Zufall war, daß es gerade vier waren. Vier - für jeden von ihnen einer. Aber es würde nichts nutzen, diese vier Verfolger niederzumachen. Skar zweifelte nicht daran, daß es ebensogut vierzig oder vierhundert hätten sein können, und ebenso plötzlich wußte er auch, daß ihre Zahl kein Zufall war. Nein - diese Kreaturen dort drüben waren nicht ausgesandt worden, um sie zu töten. Ihr einziger Auftrag war, dazusein, immer dicht am Rande des Sichtbaren zu bleiben, ihnen zu zeigen, daß es kein Entkommen gab, so weit sie auch fliehen würden.

Erneut hob er das Glas an die Augen und starrte den Dronte an, und wieder überkam ihn das Gefühl, daß sein Blick erwidert würde. Der Dronte hatte Wunden davongetragen in diesem Kampf, aber halb zerstört und geschmolzen, wie er war, wirkte er beinahe noch bedrohlicher als zuvor.

»Seine Katapulte...«, murmelte er.

Gowenna schüttelte den Kopf. »Sie schießen weit, aber nicht so weit«, sagte sie. »Außerdem will er uns nicht töten. Noch nicht.« Sie fuhr sich müde mit der Hand über das Gesicht und deutete nach Norden. »Hinter den Bergen liegt eine Bucht«, erklärte sie. »Eine Art natürlicher Hafen. Dort wird er uns erwarten.« Es erschien ihr ganz selbstverständlich, ihm damit preiszugeben, daß sie dieses Land kannte, besser, als sie bisher zugegeben hatte, und für einen Moment überlegte Skar, ob sie sein Gespräch mit Del belauscht haben konnte. Aber vielleicht wartete sie auch nur seit Tagen darauf, daß Skar endlich die Wahrheit begriff, und war des Versteckspielens einfach müde. »Ich begreife das einfach nicht«, murmelte Skar. »Warum tut er das? Wenn er uns umbringen wollte...«

»Hätte er es ein Dutzend Mal tun können«, führte Gowenna den Satz zu Ende. »Mindestens. Ich fürchte, so leicht ist es nicht, Skar. Er will nicht unseren Tod. Er will sie.«

»Sie?«

»Vela. Er ist nicht gekommen, um uns zu vernichten. Er hätte sich niemals so weit aus seinem Revier herausgewagt, nur um die SHAROKAAN zu verbrennen, Skar. Er kann andere Opfer haben, und solche, die sich nicht so zur Wehr setzen wie ein Schiff der Freisegler. Es gibt immer wieder Narren, die sich in die Meere hinauswagen, die von ihm beherrscht werden. Nein - er kam, um Vela zu befreien.«

Skar starrte sie einen Moment ungläubig an. Er spürte, daß sie recht hatte. Es war die einzig logische Erklärung; wenn das Wort Logik nach allem, was sie bisher erlebt hatten, überhaupt noch berechtigt war. Aber etwas in ihm sträubte sich dagegen, Gowenna zu glauben. »Das ist... nicht dein Ernst«, sagte er stockend.

Gowenna lachte bitter. »Ich wünschte, es wäre so«, antwortete sie. »Sage mir einen anderen Grund. Hast du vergessen, welche Kräfte sie geweckt hat? Welche Wesen es waren, über die sie gebot? Er ist einer von ihnen, Skar. Ich... habe keinen Beweis, daß es wirklich so ist, aber ich habe es befürchtet, vom ersten Tage an. Es gibt keinen anderen Grund. Etwas von ihrer alten Macht ist noch in ihr.« Er wollte widersprechen, aber Gowenna fuhr schnell und in beinahe beschwörendem Tonfall fort: »Sie ist nicht besiegt, Skar, glaube mir.«

»Niemand würde nach einer solchen Niederlage die Kraft für einen zweiten Kampf aufbringen«, widersprach Skar. »Nicht einmal ich, Gowenna. Oder du.«

»Vielleicht. Aber sie war schon lange nicht mehr Herr ihrer selbst, das weißt du so gut wie ich«, sagte Gowenna aufgebracht. »Die Frau, die du in Ikne kennengelernt hast, ist gestorben, lange bevor sie Elay auch nur erreicht hat. Sie ist der Mächte, die sie erweckt hat, nicht mehr Herr geworden, auch das weißt du. Sie war nur noch ein Werkzeug für einen anderen, stärkeren Geist. Warum weigerst du dich, die Wahrheit zuzugeben? Du wußtest es damals, und du weißt es heute. Sie hat etwas geweckt, als sie mir dem Stein der Macht experimentiert hat, aber sie hatte niemals die Kraft, es zu beherrschen.«

»Etwas geweckt!« Skar lachte rauh, aber es mißlang und hatte nicht die Wirkung, die es haben sollte. »Etwas geweckt... einen bösen Geist aus äonenalter Vergangenheit vielleicht?« fragte er spöttisch. »Das absolut Böse, durch ihren Zauberspruch aus seinem Gefängnis befreit und aus den Tiefen der Hölle emporgestiegen, um uns Menschen zu vernichten?«

»Vielleicht«, antwortete Gowenna. »Ja, vielleicht war es wirklich so. Wir wissen es nicht, weder ich noch die Margoi oder eine der anderen Errish, mit denen ich sprach. Du hast es besiegt, aber es lebt noch. Und es wartet.«

»Ja«, machte Skar zynisch, »und jetzt ist es in den Dronte gekrochen und will uns alle fressen.«

Gowenna ignorierte seinen Sarkasmus. »Vielleicht war es auch immer da«, fuhr sie sehr leise und in einem Ton, als spräche sie nur mit sich selbst, fort, »und vielleicht war Vela von Anfang an nur ein Werkzeug. Vielleicht war es nur ein Zufall, daß sie auserwählt wurde. Vielleicht mußte es so kommen.« Sie schwieg einen Moment. »Man sagt, daß irgendwann, am Ende der Zeiten, die große Schlacht zwischen Gut und Böse entbrennen wird. Vielleicht ist es jetzt soweit, und wir alle sind nichts als Figuren in einem Spiel, dessen Regeln Mächtigere bestimmen.«

»Jetzt bringe bitte nicht auch noch die Götter mit ins Spiel«, seufzte Skar. Aber er war nicht so ruhig, wie er tat. Gowennas Worte hatten etwas in ihm berührt, etwas wie ein tief verborgenes, schlummerndes Wissen in ihm geweckt, von dem er noch nicht sagen konnte, was es bedeutete, aber deutlich spürte, daß es da war. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und stieg vorsichtig vom Eisdach des halb zusammengestürzten Gebäudes herab. Er entfernte sich ein paar Schritte von dessen Eingang, weit genug, daß keiner der Männer ihre Stimmen hören konnte, und blieb am Rande der Eisspalte stehen. Kälte stieg in unsichtbaren Wellen aus dem gewaltigen Riß hoch und hüllte ihn ein. »Was ist hinter diesen Bergen?« fragte er, als Gowenna nach einer Weile zu ihm trat.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie, und er fühlte, daß es die Wahrheit war. »Ich war niemals hier. Niemand war je hier.«

»Aber du kanntest diese Insel.«

Sie nickte. »Die Heimat des Dronte, ja. Und vielleicht Schlimmerem.«

»Dann wußtest du, daß er uns auflauern würde?«

»Nein. Niemand von uns hat es gewußt oder auch nur geahnt. Aber ich wußte, was geschehen würde, als ich ihn sah.«

»Und warum hast du uns nicht gewarnt?«

Gowenna hockte sich neben ihm nieder, formte einen Schneeball und warf ihn in die Spalte. Er verschwand lautlos in der Tiefe. Skar wartete auf das Geräusch seines Aufpralls, aber das einzige, was er hörte, war das unablässige Heulen des Windes.

»Was hätte es genutzt?«

Skar setzte zu einer scharfen Antwort an, aber Gowenna stand schnell auf und trat zwei, drei Schritte zurück. Es sah aus wie eine Flucht, und das war es wohl auch. Diesmal war sie es, die einer Konfrontation aus dem Wege gehen würde.

»Vielleicht wären ein paar von uns dann noch am Leben«, sagte er leise.

»Das vielleicht. Aber es hätte nichts geändert. Er wollte uns hier haben, Skar, und er hätte uns auf jeden Fall hierhergetrieben, ganz gleich, wie.«

»So wie du, nicht?«

Gowenna war für einen Moment verunsichert. »Wie -«

»Ich meine es so, wie ich es sage, Gowenna«, fuhr Skar fort, so ruhig, daß es ihn beinahe selbst überraschte. »Du hast niemals vorgehabt, Vela zum Berg der Götter zu bringen. Du wolltest sie hier haben, genau hier.« Es waren - beinahe genau - die gleichen Worte, die Del wenige Stunden zuvor gesagt hatte, und er spürte eigentlich erst jetzt, daß sie richtig waren. Er hatte auch nicht in der Art einer Frage gesprochen.

»Und wenn es so wäre?« fragte Gowenna leise.

Skar trat auf sie zu und hob die Hand. Gowenna fuhr zusammen, als erwarte sie einen Schlag, aber Skar berührte nur sanft ihr Gesicht und folgte mit den Fingerspitzen den dünnen, tiefen Linien der Narben, die der Drachenatem in ihre Haut gefressen hatte.

»Ich weiß es nicht«, gestand er. »Ich... müßte dich hassen, aber ich kann es immer noch nicht. Vielleicht spielt es auch keine Rolle, was du gewollt hast. Der Dronte hat alles geändert, was irgendwer von uns irgendwann einmal gewollt hat. Es... täte mir nur weh, wenn du mich belogen hättest.«

»Es gibt Situationen, in denen man keine Rücksicht mehr auf Gefühle nehmen kann, Skar.«

Skar lachte, und Gowenna sah ihn verwundert an. »Du lachst?«

»Ja - normalerweise wäre ich der, der diese Worte sprechen müßte, weißt du das?« Er wurde wieder ernst, zog seine Hand zurück und streckte sie, nach kurzem Zögern, abermals aus; diesmal, um Gowenna in die Arme zu nehmen. Sie ließ es zu, aber Skar spürte, wie sich ihr Körper unter dem unförmigen Mantel versteifte.

»Nicht, Skar«, flüsterte sie. Er ließ sie los. Gowenna trat zurück, zog - nur um ihre Hände zu beschäftigen und nicht, weil es nötig gewesen wäre - ihren Mantel höher und wich seinem Blick aus.

»Warum sagst du es mir nicht?« fragte er.

»Was?«

»Was du vorhast, Gowenna. Ich weiß, daß du Vela niemals vor den Rat der Dreizehn bringen wolltest. Wenn du sie töten willst -«

»Das will ich nicht«, fiel ihm Gowenna ins Wort, so heftig, daß er spürte, wie weh ihr sein Verdacht tat.

»Ich würde es verstehen«, fuhr er unbeeindruckt fort. »Vielleicht glaubst du, daß ich noch irgend etwas für sie empfinde, wegen des Kindes, aber das ist nicht der Fall. Es war niemals so.«

»Bitte, frag nicht weiter, Skar«, bat Gowenna. Ihre Stimme klang gequält. »Du... du hast es selbst gesagt, daß es keine Rolle mehr spielt, was wir gewollt haben. Ich... ich gehe jetzt, um Del und Helth zu holen.«

Sie wollte sich umdrehen und gehen, aber Skar hielt sie noch einmal zurück. »Dieser Hafen«, fragte er, »von dem du erzählt hast - haben wir eine Chance, von dort wegzukommen?«

Gowenna überlegte einen Moment. »Vielleicht. Ich weiß es nicht. Niemand ist bisher von dieser Insel zurückgekehrt.«

»Unsinn«, antwortete Skar. »Wäre es so, woher wüßtest du dann von den Bergen und dieser Bucht?«

»Es gibt nicht viel, was die Errish nicht wissen«, antwortete Gowenna geheimnisvoll. Sie hielt seinem Blick noch einen Moment stand, drehte sich dann abermals um und ging. Diesmal hielt er sie nicht mehr zurück.

Skar blickte ihr nach, hilflos; verwirrter als zuvor. Aber was hatte er erwartet?

Drei, vier Besatzungsmitglieder der SHAROKAAN hatten sich gleich unter dem Eingang zum Schlafen gelegt, und Gowenna mußte umständlich über sie hinwegsteigen. Wenn sie einen von ihnen anstieß, dachte Skar ernsthaft, dann würde er zerbrechen wie Glas. Er blieb lange Zeit stehen und starrte nach Westen, reglos und stumm, als wäre er selbst bereits zu Eis erstarrt und zu einem Teil dieser gefrorenen, toten Welt geworden. Er wußte nicht einmal, wieviel Zeit vergangen war, als Gowenna mit Helth und Del zurückkam. Zeit war bedeutungslos geworden.

Del wirkte müde. Seine Haut glänzte wächsern, und seine Augen waren klein und gerötet, aber ihr Blick war trotzdem wach.

Er winkte Helth zu sich heran, reichte ihm wortlos das Glas und deutete auf die glitzernden weißen Schemen vor dem Horizont. Der Vede sah einen Moment lang durch das Fernrohr, und Skar glaubte, so etwas wie Schrecken über sein Gesicht huschen zu sehen. Aber seine Stimme klang ruhig, als er sich umwandte und das Glas absetzte. »Das sind Krieger wie die, auf die ihr gestern getroffen seid«, stellte er fest. »Es sind keine Krieger, Helth«, sagte Gowenna betont. »Es ist der Dronte. Etwas von ihm.« Del schwieg, griff aber ebenfalls nach dem Glas und blickte lange und mit unbewegtem Gesicht hindurch.

Helth starrte sie sekundenlang schweigend an. Skar versuchte vergeblich zu erraten, was hinter seiner Stirn vorging. Sein Blick konnte ebensogut Schrecken wie Resignation ausdrücken. »Und was erwartet ihr jetzt?« fragte er. »Daß ich die Männer zusammenrufe und wir uns auf sie stürzen?« Die Worte waren bitterer Spott, aber der Klang seiner Stimme behauptete das Gegenteil; sie war flach und ausdruckslos, so, als interessiere ihn dies alles hier im Grunde schon nicht mehr, und er antwortete nur, um wenigstens noch einen Schein von Form zu wahren.

»Ich glaube nicht, daß das viel Sinn hätte«, erwiderte Skar rasch, als er den Zorn auf Gowennas Gesicht sah. »Sie sind nicht hier, um mit uns zu kämpfen, Helth. Sie beobachten nur. Und deine Männer würden einen Kampf gegen sie wohl kaum noch durchstehen.«

»Es sind nur vier.« Ein dünnes, humorloses Lächeln huschte über Helth' Züge. »Und es sind nicht meine Männer, Skar. Es sind deine Männer. Meine Leute sind auf der SHAROKAAN gestorben.« Gowenna sog scharf die Luft ein und trat einen Schritt auf den Veden zu, aber Skar hielt sie mit einem raschen, warnenden Blick zurück und schluckte die scharfe Entgegnung, die ihm selbst auf der Zunge lag, hinunter. Del schob mit einer bedächtigen Bewegung das Fernrohr zusammen und gab es ihm zurück, wie durch Zufall trat er dabei halbwegs zwischen Gowenna und den Veden. Skar schenkte ihm einen raschen dankbaren Blick. Sie waren noch immer ein Team. »Ich habe dich nicht gerufen, um mit dir zu streiten«, sagte er so ruhig, wie er konnte.

»Du hast mich überhaupt nicht gerufen«, erwiderte Helth kalt. »Du hast mich rufen lassen.«

»Warum sprichst du überhaupt noch mit ihm?« fragte Del. »Er ist ein Narr und wird es bleiben.«

Helth' Augen blitzten belustigt. »Vielleicht bin ich das«, sagte er gleichmütig. »Man muß schon ein verdammter Narr sein, um euch freiwillig in diese Hölle zu folgen. Wir hätten auf der SHAROKAAN bleiben und mit ihr untergehen sollen, wie es sich für freie Männer gehört.«

»Vielleicht hätte dir Gowenna auch die Tracht Prügel verabreichen sollen, die du verdienst«, bemerkte Del. Skar unterdrückte ein zustimmendes Nicken. Obwohl er sich vorgenommen hatte, ruhig zu bleiben, brachten ihn die Worte des Veden schon wieder in Rage. »Gut«, sagte er mit einem resignierenden Seufzen. »Ich habe dich rufen lassen, um dir die Krieger dort drüben zu zeigen. Ich dachte, du würdest begreifen, was ihr Auftauchen bedeutet.«

»Und was wäre das?«

»Daß ein Sinn dahintersteckt«, erklärte Skar mit einer Geduld, die ihn schon beinahe selbst erstaunte. Und in ihm, leise und wispernd, aber unüberhörbar, fügte eine Stimme hinzu: Und daß du diesen Sinn ganz genau kennst, Skar. »Glaubst du wirklich noch, Helth, daß alles nur ein Zufall war?« fügte er laut hinzu. »Daß uns der Pirat aus reiner Willkür in diese Falle gejagt hat? Keiner von uns wäre noch am Leben, wenn es in seiner Absicht gelegen hätte, uns umzubringen. Er wollte uns hier. Genau hier, wo wir sind.«

Helth sah verwirrt zwischen ihm, Gowenna und Del hin und her, und Gowenna war diplomatisch genug, in diesem Moment zu schweigen. Sie wirkte ein ganz kleines bißchen angespannt, beherrschte sich aber.

»Selbst wenn es so wäre...«, begann Helth unsicher, sprach aber nicht weiter, sondern drehte sich wieder um und starrte aus zusammengekniffenen Augen nach Westen. Diesmal, da war Skar sicher, zeigte der Ausdruck auf seinen Zügen Furcht. Vielleicht war er einfach zu erschöpft gewesen, um es gleich zu begreifen.

»Es ist so, Helth. Wer immer uns diese Bestien auf den Hals gehetzt hat, verfolgt einen ganz bestimmten Zweck damit. Und bis jetzt hat er ihn erreicht.«

»Mit deiner Hilfe, ja«, sagte Helth. Aber seine Stimme zitterte, und von seiner bisherigen Selbstsicherheit war nicht viel geblieben.

»Unsinn«, schnappte Skar. »Vielleicht war es ein Fehler, das Schiff aufzugeben, aber deine Lösung war mindestens genauso falsch. Es hätte niemandem genutzt, wenn wir alle auf dem Schiff verbrannt wären.«

»Aber es nutzt uns, hier zu erfrieren.«

Wieder zögerte Skar sekundenlang zu antworten. Seine Zunge stieß wie ein kleines lebendes Wesen gegen die Zähne, als müsse er jedes einzelne Wort, das er aussprach, genau überlegen und abwägen. Er war nie ein großer Redner gewesen, aber es war ihm auch noch nie so schwergefallen wie jetzt, die richtigen Worte zu finden.

»Wir werden nicht sterben«, sagte er. »Wenn wir das Gebirge erreichen, haben wir eine Chance.«

In Dels Augen stand plötzlich ein fragender Ausdruck. Skar schüttelte unmerklich den Kopf. Del schwieg.

Helth lachte bitter. »Eine Chance!« wiederholte er mit einer Betonung, als hätte Skar einen besonders geschmacklosen Scherz gemacht. »Sei kein Narr, Skar. Ihr Satai legt so großen Wert auf eure Überlegenheit und euren scharfen Geist. Dann gestehe es auch ein, daß du verloren hast.«

»Muß ich dich wirklich an deinen Treueeid erinnern?« fragte Del. Helth fuhr herum. »Ich habe Rayan Treue geschworen, Del.«, zischte er. »Meinem Vater.«

»Und er hat deinen Eid auf mich übertragen«, ergänzte Skar ungerührt. »Ich habe ihm geschworen, so viele von euch zu retten, wie ich kann, und ich werde dieses Versprechen halten, Helth. Ich weiß, daß ich dich enttäuscht habe«, fuhr er hastig fort, als Helth auffahren wollte. »Dich und deine Männer. Ihr habt euer Schicksal in meine Hand gelegt, und es sieht so aus, als hätte ich versagt. Euer Schiff ist verbrannt, und viele deiner Kameraden sind tot. Es werden noch mehr sterben, bis wir die Berge erreicht haben. Aber die, die es bis dorthin schaffen, Helth, werde ich retten. Ich werde es wenigstens versuchen.«

»Sicher«, sagte Helth bissig. Seine Augen funkelten, und seine Haltung wirkte mit einem Male angespannt - aber auf sonderbar falsche Art, fand Skar. Er sah aus wie ein Mann, der Schmerzen ausstand. Starke Schmerzen. »Du wirst einen Zauberspruch aufsagen und ihnen zeigen, wie man über das Wasser wandelt.«

»Ich werde auf jeden Fall verhindern, daß sie aufgeben und sterben. Vielleicht habe ich in deinen Augen kein Recht mehr, irgend etwas von euch zu fordern, aber ich tue es trotzdem. Für euch. Um Rayans Vermächtnis zu erfüllen, Helth. Ich habe deinem Vater mein Wort als Satai gegeben, und ich werde es halten.« Es war gelogen. Er wußte, daß er es nicht konnte und daß er Helth und seine Männer, wenn überhaupt irgendwohin, so nur in den Tod führen würde, einen Tod, gegen den das Erfrieren hier draußen auf dem Eis vielleicht eine Gnade war. Aber er sprach trotzdem weiter, redete, mit einem Mal flüssig, mit ruhiger, überlegter und fast suggestiv klingender Stimme und versprach Helth eine Hoffnung, die nicht existierte. »Ich könnte dich bitten, mir ein letztes Mal zu vertrauen, Helth, aber das werde ich nicht tun. Ich befehle es dir. Ich verspreche dir kein neues Schiff, nicht einmal dein Leben, aber ich verspreche dir, daß derjenige, welcher den Untergang der SHAROKAAN auf dem Gewissen hat, dafür bezahlen wird. Wir werden ihn entweder vernichten oder selbst untergehen. Aber ich lasse nicht zu, daß deine Männer ihr Leben wegwerfen. Ich lasse nicht zu, daß du es wegwirfst, Helth.«

Es waren nicht seine Worte, die ihm da so glatt über die Lippen kamen, sondern Worte, die ihm das Ding in seinem Inneren eingab. Er spürte es, fühlte, wie es wie eine schwarze, brodelnde Woge aus den tiefsten Abgründen seiner Seele emporquoll, seine Gedanken, seinen Willen überflutete und sein Bewußtsein in ein Netz undurchdringlicher Finsternis einzuspinnen begann. Aber er wehrte sich nicht mehr dagegen. Er hatte es zu oft getan, und jetzt fehlte ihm die Kraft dazu. Im gleichen Moment, in dem er den Fuß auf den Leib des Dronte gesetzt hatte, war es erwacht, und es war stärker als je zuvor.

»Dort drüben, Helth«, sagte er mit einer theatralischen, weit ausholenden Geste, »irgendwo hinter den Bergen wird die Entscheidung fallen. Vielleicht werden wir alle sterben, bevor wir ihnen auch nur nahe kommen, aber wenn, dann haben wir es wenigstens versucht. Du willst nicht, daß deine Männer wie die Tiere krepieren - das waren doch deine Worte. Du hast die Wahl: Ihr könnt hierbleiben und sterben, oder ihr könnt euch zum Kampf stellen, wie es sich für freie Männer gehört. Tiere, Helth, legen sich hin und sterben, wenn sie keinen Ausweg mehr sehen. Menschen kämpfen.«

»Und sterben ebenfalls.«

»Manchmal«, schränkte Skar ein. »Aber manchmal siegen sie auch und leben weiter.« Seine Worte waren fast das genaue Gegenteil von dem, was er noch vor Augenblicken gesagt hatte, aber Helth schien das nicht zu merken. Er hatte gewonnen. Er spürte es, noch bevor er in Helth' Augen sah und den Ausdruck darin erkannte. Seine Worte waren von fast hypnotischer Eindringlichkeit gewesen; Helth war keine Chance geblieben, sich zu wehren. Er war ein Kind im Körper eines Mannes, auf seine Art naiv und verletzlich, und Skars Worte hatten ihn an seiner verwundbarsten Stelle getroffen. Er hatte ihn daran erinnert, als was er gelebt, woran er geglaubt hatte. Zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort hätte Helth vielleicht darüber gelacht, aber was geschehen war, hatte die Mauern, die er um sich herum aufgerichtet hatte, durchbrochen und ihn verletzlich werden lassen. Seine Welt war zusammengestürzt, Stück für Stück, und alles, was ihm geblieben war, waren Erinnerungen. Skar gab ihm die Chance, sie noch einmal, wenn auch nur für kurze Zeit, auferstehen zu lassen.

Aber er hatte ihn belogen. Es gab keinen ehrenvollen Tod, nicht hier und nicht für diese Männer, und es wäre barmherziger und - wenn er das Wort schon benutzen wollte - wohl auch ehrenhafter gewesen, sie hier in Ruhe sterben zu lassen.

Es muß sein, wisperte die Stimme in ihm. Sie werden dir gehorchen, ohne Fragen zu stellen. Sie werden deinen Worten glauben, Skar. Dir. Er schloß die Augen und versuchte das Wispern dahin zurückzudrängen, wo es hergekommen war, aber es ging nicht. Das Ungeheuer war erwacht, und er begann zu begreifen, daß er bisher nur einen winzigen Teil seiner wahren Macht zu spüren bekommen hatte. Sie vertrauen dir, Skar, fuhr die Stimme fort, leise, einschmeichelnd und die ganze Zeit von einem Geräusch wie von einem fernen leisen Lachen untermalt. Sie haben dir schon einmal vertraut, Skar. Du hast versagt. Aber sie werden dir noch einmal vertrauen, nicht weil du Satai bist, sondern nur, weil du DU bist, weil Rayan ihnen gesagt hat, daß sie dir vertrauen sollen. Diesmal wirst du sie nicht enttäuschen. Aber du wirst sie belügen. Weil du sie brauchst. Weil du ihre Körper brauchst. Ihre Waffen. Weil du sie zu Werkzeugen machen mußt, wenn du diesen Kampf gewinnen willst.

Skar drehte sich mit einer abrupten Bewegung um und wandte das Gesicht nach Westen, so daß es aussah, als starre er zu ihren Verfolgern hinüber. Seine Hände ballten sich in hilflosem Zorn zu Fäusten, aber es lag keine Kraft mehr in dieser Bewegung.

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