Er mußte lange bewußtlos gewesen sein. Skar spürte, daß Zeit vergangen war, viel Zeit, und er spürte, daß irgend etwas geschehen war, während er reglos hier gelegen hatte. Das erste, was er fühlte, war Wärme. Er lag neben einem Feuer; seine linke Gesichtshälfte und die Hand brannten unter der Hitze der offenen Flamme, die andere Körperhälfte war taub vor Kälte. Dunkelrotes Licht sickerte durch seine geschlossenen Lider. Der Boden unter ihm vibrierte im Rhythmus der Wellen, die gegen den versteinerten Rumpf des Schiffes anrannten, und er hörte Stimmen. Die Stimmen zahlreicher Männer. Aufgeregte Stimmen.
Skar blinzelte, hob die Hand über die Augen, um sie vor der Hitze der Flammen und dem grellen Licht zu schützen, und setzte sich halb auf. Der Raum verschwamm vor seinen Augen, als er sie vollends öffnete, und hinter seinen Schläfen machte sich ein dumpfer, unangenehmer Druck bemerkbar.
»Du bist wach. Gut.« Gowenna kniete vor ihm nieder, sah ihn einen Herzschlag lang besorgt an und lächelte. Er konnte nur den schmalen Streifen über den Augen und Nasenwurzeln ihres Gesichts erkennen; der Rest war hinter einem grauen, seidig glänzenden Schleier verborgen. Der gleiche Stoff bedeckte ihren Kopf, die Schultern und den ganzen Körper, soweit ihn Skar sehen konnte. Selbst ihre Hände steckten in hautengen Handschuhen aus dem gleichen Material. Auf ihrer Stirn glänzte ein winziger fünfzackiger Stern aus Silber. Die Kleidung einer Errish. Und der Stern einer Margoi.
»Was ist... wie lange war ich bewußtlos?« fragte er verwirrt. In seinem Kopf drehte sich alles. Bilder blitzten hinter seiner Stirn auf, aber er war nicht in der Lage, sie zu ordnen und einen Sinn darin zu erkennen.
»Nicht lange. Eine Stunde, vielleicht weniger«, antwortete Gowenna. »Yar-gan hat -«
»Sag es mir nicht«, unterbrach sie Skar und hob die Hand an den Kopf. Der Druck verschwand, aber dafür erwachte ein dünner, quälender Schmerz hinter seinen Augen. »Ich will gar nicht wissen, was er mit mir getan hat.« Er stöhnte. »Was ist geschehen?«
»Das Kind -«
»Lebt es?« fragte Skar hastig dazwischen. Der erschrockene, besorgte Ton in seiner Stimme überraschte ihn selbst, und wie zur Antwort erschien ein neuerliches, amüsiertes Glitzern in Gowennas Augen.
»Es lebt, und es ist gesund«, beruhigte sie ihn. »Noch. Du hast gesiegt, Skar.«
»Gesiegt...«, wiederholte Skar. Gesiegt? Er konnte sich nicht einmal erinnern, gekämpft zu haben. Geschweige denn gesiegt.
»Versuche nicht, es zu verstehen«, sagte Gowenna, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Was du getan hast, war richtig, und das allein zählt. Manchmal handeln wir auch, ohne zu denken. Das Kind lebt, und seine Kräfte sind gebannt, wenigstens für den Moment. Alles andere muß die Zukunft bringen.« Ihre Art zu reden kam Skar sonderbar vor. Gowenna sprach normalerweise nicht so gestelzt, und es schien ihm, als hätte sie sich diese Worte genau überlegt; vielleicht, um irgend etwas, das er darin zu hören glaubte, gerade nicht zu sagen. Aber er war noch viel zu benommen, um wirklich darüber nachzudenken.
Gowenna stand auf, bückte sich noch einmal und streckte ihm die Hand entgegen. Skar griff nach kurzem Zögern danach und zog sich auf die Füße. Wieder fiel ihm auf, wie stark diese zierliche Frau war. »Wo ist es?« fragte er.
»Das Kind?« Gowenna deutete mit einer Kopfbewegung auf ein in Decken und Felle eingedrehtes Bündel zwischen den beiden Feuerschalen und hielt ihn mit einer raschen Handbewegung zurück, als er sich herumdrehen und hingehen wollte, bückte sich selbst danach und nahm es mit einer Behutsamkeit auf, die Skar bei ihr zuallerletzt erwartet hatte. »Es schläft«, sagte sie. Sie sprach unwillkürlich leiser. »Laß es schlafen. Wenigstens merkt es während dieser Zeit nicht, was geschieht.«
Skar sah sie scharf an. »Was ist los?« fragte er. »Irgend etwas stimmt nicht, oder?«
Gowenna wich seinem Blick aus. »Es ist alles in Ordnung«, wiederholte sie. »Es ist nur...« Sie seufzte, fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht und lockerte den Schleier ein wenig. Instinktiv drückte sie das Fellbündel mit dem Kind fester an sich, als müsse sie es selbst gegen ihn beschützen. »Was diesem Kind fehlt, ist das gleiche wie uns«, fuhr sie nach einer hörbaren Pause fort. »Wir haben keine Milch, keine sauberen Tücher, kein heißes Wasser.«
»Dann wird es sterben«, murmelte Skar.
»Nicht unbedingt. Ich... kann einen Sud aus Cuba-Nüssen bereiten, mit dem es ein paar Tage überleben könnte. Und es gibt noch andere Möglichkeiten.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht.«
»Was dann ?« fragte Skar. Erst jetzt fiel ihm auf, daß sie allein waren. Yar-gan war verschwunden, und auch Velas Leichnam war nicht mehr da. Er war froh. Er hatte einen kurzen Blick auf sie erhascht, bevor er die Besinnung verlor. Gowenna hatte das Kind aus ihrem Leib herausgeschnitten, nachdem sie gestorben war.
Erneut kamen ihm die Stimmen und das hastige Trappeln von Schritten zu Bewußtsein. Das Schiff hallte von ihnen wider. Die gesamte Besatzung mußte an Deck sein, den Geräuschen nach zu urteilen.
Gowenna deutete seine stumme Frage richtig. »Es ist soweit, Skar«, sagte sie.
»Helth?«
»Der Dronte«, unterbrach Gowenna leise. Ihr Blick flackerte.
»Er... kreuzt vor der Hafeneinfahrt, seit die Sonne aufgegangen ist. Er kommt nicht näher, aber...«
»Aber er läßt uns auch nicht heraus«, vollendete Skar den Satz, als Gowenna im Sprechen innehielt.
Sie lachte bitter. »Womit auch?« fragte sie. »Auf einer treibenden Eisscholle vielleicht?« Sie seufzte, schwieg einen Moment und starrte zu Boden. Als sie weitersprach, schwankte ihre Stimme. »Mein Gott, Skar, diese Schiffe waren meine letzte Hoffnung. Ich habe gebetet, daß es sie gibt, daß dieser Hafen nicht leer ist, und jetzt...«
»Vielleicht waren es die falschen Götter, zu denen du gebetet hast«, bemerkte Skar dumpf.
»Oder die falschen, die meine Gebete erhörten«, antwortete Gowenna.
Skar ging an ihr vorbei, öffnete die Tür und trat auf den Gang hinaus. Die Geräusche von Stimmen und Schritten wurden lauter, und von oben drang gelbes Sonnenlicht in das trübe Rot der Flammen. Er hörte, wie Gowenna ihm folgte, widerstand im letzten Moment der Versuchung, sich herumzudrehen, und ging mit raschen Schritten weiter.
Die Dämmerung war endgültig gewichen, als er an Deck trat. Die Sonne stand wie ein einzelnes rotes Auge direkt unter dem höchsten Punkt der Hafeneinfahrt; ihre Strahlen fielen fast waagerecht in die Höhle und ließen die drei Schiffe überlange Schatten werfen. Das Wasser wirkte nicht mehr so klar wie bei Nacht, und Skar sah, daß sich am Ufer eine fast armdicke, grauweiße Schicht aus Kalk und Muschelablagerungen gebildet hatte. Dieses eisige Meer war nicht immer so tot gewesen wie jetzt.
Er ging zum Heck des Schiffes, stieg die kurze Leiter zum Achteraufbau hinauf und trat an die Reling. Nach Gowennas Worten hatte er halbwegs erwartet, den Dronte wie einen schwarzen Todesengel dicht vor der Einfahrt hocken zu sehen, aber er war sehr weit entfernt, nicht viel mehr als ein dunkler Punkt, der in gleichmäßigem Takt auf den Wellen auf und ab hüpfte. Selbst wenn er alle Segel setzen und zusätzlich rudern würde, mußte er eine Stunde oder länger brauchen, um die Höhle zu erreichen. Für endlose Minuten stand Skar reglos da und blickte aufs Meer hinaus, und obwohl der Dronte unendlich weit entfernt war, glaubte er jede Einzelheit, jedes winzige Detail seines bizarren Leibes zu erkennen. Er versuchte, etwas von dem alten Haß in sich zu entdecken, aber er war nicht mehr da. Der Anblick des Dronte bedeutete ihm nichts mehr. Er konnte nicht einmal mehr einen Feind in ihm sehen.
Nach einer Weile wandte er sich wieder um, stieg vom Achterdeck herunter und sah sich nach Yar-gan um. Gowenna war ebenfalls an Deck gekommen, das Kind, das sie noch immer in den Armen hielt, schützend an sich gepreßt; er ignorierte sie, ging an ihr vorbei und sprach einen der Matrosen auf den Sumpfmann an.
»Euer Kamerad ist dort oben, Herr«, antwortete der Mann mit einer Kopfbewegung zu einem der zahllosen Höhleneingänge in der Wand, Skar blickte in die angedeutete Richtung und entdeckte eine steile, direkt in den Fels gehauene Treppe, die zu der mannshohen Öffnung hinaufführte.
»Allein?« fragte er.
Der Matrose nickte, versuchte vergeblich, seinem Blick standzuhalten und senkte schließlich den Kopf. »Ja, Herr«, bestätigte er halblaut. Sein demütiger Tonfall versetzte Skar beinahe in Rage, aber er beherrschte sich und fuhr in ruhigem, sachlichem Ton fort: »Und was will er dort?«
»Das... weiß ich nicht, Herr«, antwortete der Freisegler. »Er wollte schon längst zurück sein. Ich... kann ihn holen, wenn Ihr es befehlt.«
»Dieser -«
»Er sucht, Skar«, sagte Gowenna laut. Skar wandte sich zornig um und starrte sie an. Sie stand im Schatten des Decksaufbaus, so daß er ihr Gesicht nicht erkennen konnte, aber es war etwas in ihrer Stimme, das ihm nicht gefiel.
»Und wonach?« fragte er gepreßt.
Gowenna hob in einer kaum merklichen Bewegung die Schultern. »Einem Fluchtweg, einem Versteck... vielleicht nach einem Schiff. Cor-ty-cor ist groß. Es kann noch andere Höhlen geben.« Ihre Worte waren gelogen. Sie wußten beide, wonach Yar-gan in Wahrheit suchte.
»Natürlich«, knurrte er. »Und in einer davon steht ein geflügeltes Pferd, das uns sicher nach Elay zurückbringen wird. Was glaubt dieser Narr damit zu erreichen, daß er sein Leben wegwirft?« Mit einer wütenden Bewegung fuhr er herum, stürmte über das Deck und sprang vom Schiff herunter. Gowenna rief ihm irgend etwas nach, aber er achtete nicht auf ihre Worte, sondern lief mit weit ausgreifenden Schritten auf die steinerne Treppe zu. Sein Mantel behinderte ihn. Er zog ihn aus, schleuderte ihn achtlos von sich und begann mit dem Aufstieg.
Es erwies sich als schwieriger, als er befürchtet hatte. Die Stufen waren kaum breiter als zwei nebeneinandergelegte Hände und zum Teil vereist; ein einziger unbedachter Schritt konnte einen Sturz auf den Felsen oder in das eisige Wasser des Hafenbeckens und somit den Tod bedeuten. Er wurde langsamer, blieb auf halber Strecke stehen und ließ sich gegen die Wand sinken, um Atem zu schöpfen. Die kalte Luft brannte in seiner Kehle, und als er den Fehler beging, nach unten zu sehen, wurde ihm schwindelig.
Aber sein Zorn fegte die Erschöpfung und das Schwindelgefühl noch einmal hinweg. Er stieg - etwas vorsichtiger und wesentlich langsamer - weiter und erreichte nach wenigen Minuten keuchend und schweißgebadet den Stolleneingang. Die Stufen endeten einen Meter unter dem runden Loch. Skar richtete sich behutsam auf, griff mit beiden Händen nach oben und zog sich mit letzter Kraft an dem spiegelglatten Fels hinauf. Das Schwindelgefühl kam zurück; er brach in die Knie, als er versuchte, sich im Inneren des mannshohen Stollens aufzurichten.
Dunkelheit umfing ihn. Der Wind war draußen vor der Höhle zurückgeblieben, und es war überraschend warm. Skar wartete, bis der Schwächeanfall vorüber war, stemmte sich vorsichtig hoch und lauschte. Er glaubte Schritte zu hören, war sich aber nicht sicher, und irgendwo weit, sehr weit vor ihm heulte der Sturm wie ein schauriger Chor.
»Yar-gan?« rief er laut. Seine Stimme hallte als verzerrtes Echo von den gekrümmten Gangwänden zu ihm zurück, dann hörte er das Rascheln von Stoff.
»Er gibt uns eine Gnadenfrist«, hörte er Del irgendwo in der Dunkelheit vor sich antworten. Er strengte seine Augen an, aber die Zeit war noch zu kurz, als daß sie sich an das bleiche Schattenlicht hier drinnen hätten gewöhnen können.
»Er spielt mit uns. So wie beim ersten Mal.« Yar-gan tauchte aus der Dunkelheit des Stollens auf, trat neben ihn und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen in das grelle Licht, das die Höhle hinter Skar erfüllte. »Wir könnten die Ausfahrt erreichen, ehe er hier ist«, murmelte er.
»Was soll das?« fragte Skar wütend. »Was tust du hier, Yar-gan? Was du vorhast, ist sinnlos!«
»Wir könnten es schaffen«, wiederholte der Sumpfmann, als hätte er Skars Worte gar nicht gehört. Ein eigenartiger Ausdruck von Spannung lag auf seinen Zügen.
Skar setzte zu einer scharfen Entgegnung an, aber ein weiterer Blick in Yar-gans Augen ließ ihn verstummen. Er wußte plötzlich, daß der Sumpfmann auf alles vorbereitet war, was er sagen könnte, die Antwort auf jede Frage, jedes Argument schon parat hatte, ehe er es aussprechen würde. Statt der wütenden Antwort, die ihm auf der Zunge gelegen hatte, drehte er sich herum und sah nachdenklich an dem schmalen Felsgürtel entlang, der das Wasser des Hafenbeckens säumte. Die Gestalten der Männer unten auf den Schiffen wirkten winzig wie Spielzeuge. Einige von ihnen sahen zu ihm und Yar-gan hinauf. Ihre Gesichter waren nicht mehr als helle Farbflecke gegen das schwarze Holz der versteinerten Planken. Es war schwer, in dieser gewaltigen Höhle Entfernungen zu schätzen, noch dazu von ihrem erhöhten Standpunkt aus, aber es konnten kaum mehr als zwei Meilen sein.
»Und dann?« Skar deutete mit einer Kopfbewegung auf das offene Meer hinaus. Der Dronte war von hier oben aus deutlicher zu erkennen. »Willst du schwimmen, oder hoffst du, daß wir dort draußen ein Schiff finden - als Geschenk der Götter gewissermaßen?«
Yar-gan ignorierte seinen beißenden Tonfall. »Die Küste ist unübersichtlich«, antwortete er ernsthaft. »Er kann unmöglich Jagd auf einzelne Männer machen. Wenn wir uns verteilen, dann haben ein paar von uns eine Chance durchzukommen.«
»Und zu erfrieren«, fügte Skar hinzu.
Yar-gan wollte auffahren, aber Skar brachte ihn mit einem eisigen Blick zum Verstummen. »Ich werde nicht mehr weglaufen, Yar-gan«, sagte er ruhig.
Der Sumpfmann starrte ihn an. »Was heißt das?« fragte er lauernd. »Ich habe nachgedacht, Yar-gan. Über vieles.« Skar deutete auf den Dronte. Täuschte er sich, oder war er bereits näher gekommen? »Wir können nicht ewig vor ihm fliehen, weder vor ihm noch vor Helth. Früher oder später wird er uns stellen.«
»Später ist mir lieber«, knurrte Yar-gan. »Diese Höhle ist eine Todesfalle, Skar. Eine einzige Breitseite seiner Feuerkatapulte reicht, sie in einen Vulkan zu verwandeln.«
»Wenn er das wollte, hätte er es schon hundertmal tun können«, widersprach Skar heftig. Er wußte selbst nicht, warum - aber Yar-gans logische Überlegung ließ Zorn in ihm aufsteigen. Dabei spürte er ganz genau, daß es nichts als die ganz persönliche Art des Sumpfmannes war, mit der scheinbaren Ausweglosigkeit ihrer Situation fertig zu werden. Er hatte Angst, und er tat das einzige, was er konnte, um sie zu bekämpfen: er dachte logisch, analysierte ihre Lage und ihre Möglichkeiten und versuchte, einen Ausweg zu finden. Und er war hier, weil er auf seine kalte logische Art eine Möglichkeit gefunden zu haben glaubte. Aber sie war falsch.
»Und was willst du tun?« fragte Yar-gan ruhig.
»Das gleiche wie du«, antwortete Skar. »Warten. Wir bleiben hier und warten.«
»Auf wen?« fragte Yar-gan. »Auf Helth? Auf den Dronte?«
»Auf wen wartest du?«
Yar-gan machte eine ärgerliche Handbewegung. »Auf niemanden, Skar. Ich bin hierher gekommen, um nach einem Ausweg zu suchen. Ich -«
»Hast du ihn gefunden?« unterbrach ihn Skar.
»Nein. Dieser Gang führt ins Nirgendwo. Zurück nach Cor-ty-cor. Aber es gibt viele solcher Stollen. Wir werden einen Weg aus dieser Falle finden.«
»Warum sagst du nicht ihr, Yar-gan«, sagte Skar ruhig. »Das ist es doch, was du meinst. Die Geschichte, die du den Männern erzählt hast, mag sie täuschen, aber mich nicht. Du hast nicht vor, uns zu begleiten.«
Yar-gan starrte ihn an, sagte aber nichts. Er wirkte unsicher.
»Du wartest auf Helth«, fuhr Skar nach einer sekundenlangen Pause fort.
»Und wenn?« Yar-gans Frage klang trotzig. Aber es war gar nicht mehr seine Stimme, und Skar begriff bestürzt, daß es auch nicht mehr Yar-gan war, mit dem er sprach, sondern Del.
»Es wäre ein sinnloses Opfer«, antwortete er. »Sinnlos und dumm dazu. Helth wird es nicht wagen, uns anzugreifen, solange wir zusammenbleiben. Du tust ihm nur einen Gefallen, wenn du dich ihm allein stellst.«
»Glaubst du?« fragte Yar-gan spöttisch.
»Ich weiß es«, entgegnete Skar, plötzlich wieder zornig. »Was glaubst du zu erreichen, wenn du ihm Gelegenheit gibst, uns einen nach dem anderen auszuschalten, du Narr?«
»Vielleicht Zeit«, sagte Yar-gan ruhig. »Vielleicht die Zeit, die ihr braucht.« Er schüttelte den Kopf. »Mein Entschluß steht fest, Skar. Ich bleibe. Er ist irgendwo in der Nähe, und ich spüre, daß er diesen Weg nehmen wird. Ich werde mich ihm stellen.«
»Er ist stärker als du«, behauptete Skar. »Hast du den Kampf schon vergessen? Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte dich getötet.«
»Das war etwas anderes. Ich war überrascht, und ich hatte keine Gelegenheit, meine Kräfte zu sammeln und einzusetzen. Vielleicht besiegt er mich trotzdem, aber nur vielleicht.«
»Und vielleicht auch nicht«, versetzte Skar. »Aber falls er dich vielleicht doch schlägt, dann bist du vielleicht tot, Yar-gan.«
»Du sprichst nicht mit Del«, antwortete der Sumpfmann trotzig. »Der Tod schreckt mich nicht, Skar. Er bedeutet für mich nicht dasselbe wie für euch.«
Skar schlug zornig die flache Hand gegen die Felswand. »Was du mit deinem Leben machst, ist mir gleich, Yar-gan«, antwortete er aufgebracht. »Aber du bist kein unbeteiligter Zuschauer, der gehen kann, wenn es ihm beliebt. Ich kann es mir nicht leisten, dich zu verlieren. Solange wir beide am Leben sind, haben wir eine Chance. Ich brauche dich! Und ich verlasse mich nicht darauf, daß du vielleicht stärker bist als Helth. Ich will dieses verdammte Monster genauso gerne umbringen wie du, aber wir werden warten, bis sich eine bessere Gelegenheit ergibt.«
»Dazu ist keine Zeit«, widersprach Yar-gan erregt. »Begreifst du denn nicht, Skar? Er hat uns in Ruhe gelassen, solange das Kind noch nicht geboren war, das stimmt - aber was denkst du dir denn, warum ? Weil er uns gebraucht hat, Gowenna, dich und mich. Jetzt wird er kommen und sich holen, was er haben will.«
»Dann erwarten wir ihn«, antwortete Skar wütend. »Aber unten auf dem Schiff, nicht hier.«
»Wovor fürchtest du dich eigentlich, Skar?« fragte Yar-gan. »Um wen hast du Angst? Um mich - oder um Del?« Er lachte, aber der Laut klang fast abstoßend in Skars Ohren. »Del lebt«, fuhr er fort. »Und er wird auch weiterleben, wenn mir etwas zustoßen sollte. Du brauchst keine Angst um ihn zu haben, wenn es das ist, Satai.«
Seine Worte taten weh. Skar starrte in hilflosem Zorn den Sumpfmann an. Für einen Moment war er kurz davor, sich auf ihn zu stürzen und mit Fäusten auf ihn einzuschlagen. Aber natürlich tat er es nicht. Es wäre genau das gewesen, was der Sumpfmann erreichen wollte. »Geh jetzt!« fuhr Yar-gan fort. »Geh zurück zu Gowenna und deinem Kind und beschütze sie. Ich komme schon allein zurecht.« Skars Hände begannen zu zittern. Mühsam drehte er den Kopf und starrte aus brennenden Augen aufs Meer hinaus. Der Dronte war näher gekommen. Das gewaltige fünfeckige Hauptsegel blähte sich, und Skar konnte die schaumigen weißen Streifen rechts und links seines Rumpfes erkennen, wo die Ruder in raschem Takt ins Wasser klatschten und ihm zusätzliche Geschwindigkeit verliehen. Er kam näher; viel, viel schneller, als Skar geglaubt hatte.
Auch Yar-gan hatte es bemerkt. »Geh jetzt«, sagte er noch einmal. »Wenn du zu lange zögerst, dann wird das, was ich hier tue, umsonst sein. Aber die Schuld daran trifft dann dich!«
Aus dem Stollen wehte ein leises, boshaftes Lachen zu ihnen heraus. Skar erstarrte für eine halbe Sekunde, fuhr dann mit einer blitzschnellen Bewegung herum und riß das Schwert aus dem Gürtel.
Aber Yar-gan war schneller. Seine Hand zuckte hoch, legte sich wie eine stählerne Klaue um Skars Handgelenk und drückte seinen Arm herunter. Gleichzeitig drängte er ihn zurück, auf die Wand und den Ausgang zu. Skar versuchte verzweifelt, ihm Widerstand zu leisten, aber der Sumpfmann schob ihn so mühelos zur Seite, als wäre er ein kraftloses Kind. Er hatte vergessen, wie stark die Bewohner der grünen Hölle Coshs waren.
Erneut ertönte dieses leise, meckernde Lachen, dann hörte Skar Schritte, die irgendwie mühsam klangen und von einem Geräusch begleitet wurden, als würde ein Stück nassen Leders über Felsen geschleift. Ein Schatten erschien vor der gekrümmten Tunnelwand. »Sehr gut«, lobte Helth spöttisch. »Bravo. Es tut mir beinahe leid, daß ich euch nicht länger zusehen kann.« Seine Stimme klang röchelnd und war kaum zu verstehen, und hinter Skars Stirn blitzte die irrsinnige Erkenntnis auf, daß es sich mit zerschnittenen Stimmbändern nicht sehr gut sprach.
»Ich sollte euch mehr Zeit geben«, fuhr der Vede fort. »Vielleicht würdet ihr euch dann gegenseitig umbringen. Aber leider bleibt mir nicht sehr viel Zeit.« Seine Stimme wurde hart. »Und euch auch nicht.«
Skar unterdrückte im letzten Moment einen Schrei, als Helth näher kam und ins Licht trat. Der Vede hatte sich auf grauenhafte Weise verändert, schlimmer, viel, viel schlimmer als beim ersten Mal, als sie ihm wieder begegnet waren. Seine Haut war schwarz und tot, nichts als abgestorbenes Gewebe, von tiefen, zerfransten Kratern zerfurcht und faulig. Dels Shuriken hatte eine grausame Wunde in seinen Leib gerissen und ihn geöffnet; ein handgroßer Fleischfetzen hing herunter wie ein schwarzer Lappen und erzeugte bei jedem Schritt das schreckliche patschende Geräusch, das Skar gehört hatte, und sein Schädel war waagerecht bis in die Mitte gespalten, die Augen leer, blutige blinde Löcher, hinter denen schwarzer Nebel zu wogen schien. Von einem Teil seines linken Arms war das Fleisch gefallen; die Hand und der Oberarm bis zum Ellbogen waren noch erhalten, dazwischen sah Skar nichts als blanken, schwarz gewordenen Knochen. Wieso lebt er noch? dachte er entsetzt. WIESO LEBT ER NOCH!?
Yar-gan atmete hörbar ein, ließ seine Hand los und trat der furchtbaren Erscheinung einen Schritt entgegen, blieb aber sofort wieder stehen. Seine Hände zitterten, und Skar konnte sehen, wie sich seine Muskeln unter dem Stoff seines Mantels spannten. Selbst dieser eine Schritt schien ihn unendliche Überwindung gekostet zu haben. »Daij-djan«, flüsterte er. »Du bist...«
Die grausame Karikatur eines menschlichen Grinsens verzerrte die gespaltenen Lippen des Veden. »Es hat lange gedauert, bis du es gemerkt hast, Bruder«, kicherte er. »Für eine Weile habe ich schon gefürchtet, du würdest unwissend sterben.« Erneut kam seine Art zu reden Skar falsch und völlig unnatürlich vor. Er hatte seine Menschlichkeit nicht nur äußerlich verloren. Das Ding, das ihn beherrschte, versuchte menschliches Verhalten nachzuahmen, aber es gelang ihm nur sehr mangelhaft. Seine Lippen bewegten sich nicht beim Sprechen, die Worte schienen eher irgendwo in seiner Brust zu entstehen als in seinem Kehlkopf.
Helth machte einen Schritt auf den Sumpfmann zu und duckte sich ein wenig. Seine Arme pendelten lose vor dem Körper; die Hände öffneten sich und sahen plötzlich aus wie tödliche Raubvogelklauen. Yar-gan spannte sich. Sein Atem ging plötzlich ganz ruhig. Er wich ein winziges Stück zurück, spreizte leicht die Beine, suchte auf dem unsicheren Boden nach festem Stand und machte seltsame, flatternde Bewegungen mit den Händen vor der Brust.
»Du willst wirklich kämpfen?« fragte Helth spöttisch. »Du weißt, daß du keine Chance hast, einen Kampf gegen mich zu überleben, Bruder. Warum gibst du nicht auf? Und du -« Er hob den Kopf und starrte Skar aus seinen leeren schwarzen Augenhöhlen an, »- Satai? Gebt mir, was ich haben will, und ihr könnt gehen. Euer Leben bedeutet mir nichts.«
Skar erwachte endlich aus seiner Erstarrung. Mit einer wütenden Bewegung stieß er sich von der Wand ab, packte sein Schwert mit beiden Händen und trat neben den Sumpfmann. »Aber mir«, sagte er leise. »Du -«
Der Stoß kam so schnell, daß Skar die Bewegung nicht einmal sah. Yar-gans Hand traf ihn mit grausamer Wucht gegen die Brust, trieb ihm die Luft aus den Lungen und ließ ihn haltlos gegen die Wand taumeln.
»Verschwinde, Skar«, zischte der Sumpfmann. »Flieh! Ich versuche ihn aufzuhalten!«
Helth schrie wütend auf und warf sich mit einer übermenschlich schnellen Bewegung auf den Sumpfmann. Yar-gan tat so, als würde er zurückweichen, trat plötzlich mit einem überraschenden Schritt zur Seite und ließ den Veden über sein vorgestrecktes Bein stolpern. Seine Linke krachte in Helth' Nacken, während er mit der anderen Hand sein Schwert zog und zu einem tödlichen Hieb ausholte.
Aber sein Gegner war mindestens ebenso schnell wie er. Er stolperte zurück, versuchte aber nicht, den Sturz abzufangen, sondern warf sich im Gegenteil noch weiter nach vorne, kam mit einer eleganten Rolle auf die Füße und gleichzeitig aus der Reichweite von Yar-gans Schwert. Die Klinge zischte wirkungslos durch die Luft.
Der Kampf dauerte nur wenige Sekunden. Skar beobachtete die beiden ungleichen Gegner mit einer Mischung aus Schrecken und morbider Faszination. Er konnte nicht im einzelnen erkennen, was Yar-gan und Helth taten; ihre Bewegungen waren so schnell, daß sie im grauen Dämmerlicht selbst zu huschenden Schatten zu werden schienen. Yar-gan versuchte Helth mit seinem Schwert zu treffen, aber der Vede wich immer wieder im letzten Moment zur Seite oder zurück und schlug die Klinge ein paarmal sogar mit der nackten Hand beiseite. Der rasiermesserscharfe Stahl hinterließ tiefe Schnitte in seinem Fleisch, aber der Vede schien keinen Schmerz mehr zu spüren. Und dann war es vorbei. Helth tauchte mit einer blitzschnellen Bewegung unter einem Hieb Yar-gans hindurch, hämmerte ihm die geballten Fäuste vor die Brust und trat gleichzeitig nach seinem Knie. Yar-gan taumelte, fiel gegen die Wand und rutschte mit haltlos rudernden Armen an dem feuchten Fels zu Boden. Helth schrie; laut, triumphierend und so schrill, daß Skar schmerzhaft die Hände gegen die Ohren schlug, ein Laut wie der Schrei einer übergroßen Grille, nicht wie der eines Menschen. Yar-gan wälzte sich zur Seite; seine Bewegungen waren deutlich langsamer und schwerfälliger als bisher, kaum noch schneller als die eines Menschen, dachte Skar erschrocken. Er stand auf, blieb eine halbe Sekunde taumelnd und nach Atem ringend stehen und hob sein Schwert zu einem weiteren Schlag.
Diesmal wich Helth dem Hieb nicht mehr aus, sondern fing die Waffe mit der bloßen Hand auf. Seine Hand zerfiel unter dem Biß der Klinge zu davonwirbelnden grauen Flocken, aber unter dem toten Fleisch kam kein Knochen zum Vorschein, sondern etwas Schwarzes, Glitzerndes, eine fürchterliche dreifingrige Klaue aus glänzendem Horn oder Chitin, die sich in einer fast spielerischen Bewegung um die Schwertklinge schloß und sie zerbrach.
Yar-gan stieß ein ungläubiges Keuchen aus, prallte zurück und starrte auf den zersplitterten Stumpf des Schwertes. Seine Augen weiteten sich. Helth griff abermals an. Sein Arm traf den Yar-gans und schmetterte ihn beiseite; der Schwertstumpf klirrte zu Boden, und der Sumpfmann taumelte abermals gegen die Wand. Helth' Faust ballte sich zum tödlichen Hieb.
»DEL!« Skars Stimme überschlug sich. Er schrie, warf sich nach vorne und trieb den Veden allein durch die ungestüme Wucht seines Anpralls von seinem Opfer zurück. Helth taumelte; sein Hieb ging ins Leere, und für eine halbe Sekunde kämpfte er sichtlich um sein Gleichgewicht. Skar setzte ihm nach, stieß ihm die flachen Hände in die Seite und versuchte, nach seinem Standbein zu treten, um ihn vollends zu Boden zu schleudern. Helth fegte seinen Fuß beiseite und schlug ihn mit der anderen Hand vor die Brust.
Skar ging mit einem erstickten Schrei zu Boden. Ein unerträglicher Schmerz raste durch seinen Körper und lähmte sein Atemzentrum. In einer Bewegung, die mehr Reflex als bewußtes Handeln war, stemmte er sich auf die Knie, verkrampfte die Hände vor der Brust und sank abermals nach vorne. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Wie durch einen blutigen Schleier sah er Helth' Fuß auf sich zurasen, drehte den Kopf zur Seite und hob in einer schwächlichen, langsamen, viel zu langsamen Abwehrbewegung den Arm. Helth' Fuß traf nicht sein Gesicht, sondern streifte nur seine Schläfe, aber schon diese fast flüchtige Berührung reichte, Skar hoch- und zurückzureißen und meterweit durch den Stollen zu schleudern. Er überschlug sich, prallte gegen Felsen und Eis, sein Gesicht schrammte mit grausamer Wucht über rauhen Stein, dann krachte er gegen die Wand und lag still. Der Schmerz verebbte. Er bekam wieder Luft, aber gleichzeitig brodelte schwarze Bewußtlosigkeit wie ein betäubender Nebel in seine Gedanken. Er versuchte sich hochzustemmen, aber seine Arme waren kraftlos und schwach.
»Stirb, Satai!« kreischte Helth' verzerrte, unmenschliche Stimme. Skar hob mühsam den Kopf und sah den Veden auf sich zukommen, die Hände zu asymmetrischen, gierigen Klauen geöffnet, seine Gestalt wirkte verzerrt und verdreht, auf unmögliche Weise zusammengestaucht und falsch, und er war nicht sicher, ob es nur die Schwäche und die Schmerzen waren, die seinen Blick verschleierten. »Stirb, Satai«, krächzte Helth noch einmal. »Fahr zur Hölle!« Seine Stimme bebte vor Haß, dem gleichen abgrundtiefen Haß, den er Skar vom ersten Tag an entgegengebracht hatte. Er war nicht mehr Helth und schon gar nicht mehr Mensch, aber etwas von seinem Haß war auf dieses Ding, in das er sich verwandelt hatte, übergegangen, ein winziger Teil des alten Helth lebte noch. Mit einem irrsinnigen Kreischen zerrte er Skar auf die Füße, schleuderte ihn gegen die Wand und rammte ihm das Knie in den Leib. Skar krümmte sich, aber Helth riß ihn abermals hoch, warf ihn gegen die Wand und schlug nach seinem Gesicht. Ein Schatten tauchte hinter dem Veden auf, umschlang seinen Oberkörper mit den Armen und hob ihn wie ein Spielzeug in die Höhe. Helth brüllte vor Zorn und Wut, schlug sinnlos in die leere Luft und strampelte mit den Beinen. Yar-gan riß ihn herum, stemmte ihn mit einer gewaltigen Kraftanstrengung noch höher und verstärkte gleichzeitig den Druck seiner Arme. Skar konnte nicht mehr richtig sehen; Blut verschleierte seinen Blick, und er nahm nur noch Schatten und tanzende Schemen wahr, aber er hörte, wie Helth' Rippen unter dem gnadenlosen Druck nachgaben und brachen. Helth schrie, und diesmal war es ein Laut des Schmerzes.
»Lauf, Skar!« keuchte der Sumpfmann. Seine Stimme war ein heiseres Krächzen, verzerrt vor Anstrengung und Furcht. Er drehte sich, Helth wie in einer grausigen Umarmung an sich gepreßt, schleuderte den Veden hin und her wie eine Katze eine gefangene Ratte und versuchte so zu verhindern, daß er die Beine auf den Boden bekam und seine unnatürliche Kraft voll zum Einsatz bringen konnte. Seine Muskeln (Dels Muskeln!!) spannten sich wie dicke knorpelige Stricke unter der Haut. Aus seinem Mund lief Blut.
»Lauf endlich, du... Idiot!« keuchte er. Helth begann wie ein Irrsinniger zu toben. Dels Umarmung hielt, aber unter den zerbrochenen Rippen des Veden mußte etwas sein, das härter als Stahl war. Seine linke Hand krallte sich in Dels Mantel und riß tiefe blutige Wunden in sein Fleisch. Del schrie, warf sich zurück und riß Helth erbarmungslos mit sich. Der Vede bäumte sich auf. Sein Körper spannte sich wie eine Feder, krümmte sich auf ganz und gar unmögliche Weise und entspannte sich wieder mit einem hörbaren, krachenden Laut. Dels Griff lockerte sich nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber dieser winzige Zeitraum genügte dem Veden. Mit einer letzten, gewaltigen Kraftanstrengung sprengte er die tödliche Umarmung des Sumpfmannes vollends, stürzte sich zu Boden und fuhr mit einem wütenden Zischen herum. Seine Arme zuckten hoch. Seine rechte, menschliche Hand verkrallte sich in Dels Kehlkopf und zermalmte ihn, die andere holte aus, traf seinen Schädel und schleuderte ihn zurück, die gekrümmten Hornklauen bohrten sich wie tödliche Dolche tief in sein Gesicht. Es war das zweiten Mal, daß er Del sterben sah, und irgendwo in Skar zerbrach etwas.
Er schrie, so hoch und spitz und laut, daß der Ton einen grellen Schmerz durch seinen Schädel jagte, und er spürte, wie das Ding in seinem Inneren den Schrei annahm und erwiderte, wie es aus seinem Versteck in den finsteren Abgründen seiner Seele emporquoll wie ein Sturmwind, aber diesmal wehrte er sich nicht, sondern ließ es geschehen, registrierte, wie es seine Gedanken und seinen Willen davonfegte, seinen Körper in eine Puppe verwandelte und mit einem einzigen, schmerzhaften Schlag Besitz von ihm ergriff. Er sprang auf, bückte sich nach seinem Schwert, warf sich nach vorne und rollte über die Schulter ab, auf Helth zu und an ihm vorbei, trat ihm die Beine unter dem Leib weg und sprang abermals hoch, alles in einer einzigen, fließenden Bewegung, erfüllt von einer Kraft, die so groß war wie die seines Gegners und vielleicht größer.
Und so finster.
Helth fiel, stemmte sich hoch und griff mit seiner schrecklichen linken Klaue nach ihm, aber seine Reaktionen erschienen Skar mit einem Male lächerlich langsam. Fast spielerisch wich er aus, fegte Helth' Arm mit einem Tritt zur Seite und schlug ihm mit einem einzigen gewaltigen Hieb seines Schwertes den Kopf von den Schultern.
Eine halbe Sekunde lang blieb Helth in einer grotesken, kauernden Stellung hocken, dann kippte er langsam nach vorne und zur Seite und blieb reglos liegen.
Aber nur für einen Moment.
Irgend etwas geschah mit seinem Körper. Das Licht reichte nicht aus, um zu erkennen, was, und vielleicht wäre es auch im hellen Sonnenlicht nicht zu erkennen gewesen, weil es etwas absolut Fremdes war, das nicht auf diese Welt und nicht in dieses Universum gehörte, etwas, das sich dem menschlichen Begriffsvermögen entzog und von dem nur ein schwacher Schatten sichtbar war, ein winziger Zipfel des wirklichen Geschehens, das aus den Dimensionen der Alpträume und des Wahnsinns stammen mochte. Er veränderte sich, schrumpfte, begann sich auf unmögliche Weise in sich zu drehen und zu winden, das Fleisch begann zu verdorren, da und dort zu zerlaufen wie eine braunschwarze, zähe Masse. Helth' Leib zuckte, wand sich hier- und dahin, kroch wie ein schwarzer blinder Wurm über den Boden, eine Spur aus Finsternis und zerbröckelndem totem Fleisch hinter sich lassend. Sein Brustkorb platzte auseinander, gab den Blick auf die darunterliegende Höhlung und das Etwas frei, das darin herangewachsen war wie ein Parasit, der seinen Wirt allmählich von innen heraus aufgefressen und ausgehöhlt hatte, etwas Schwarzes, Käferartiges mit dünnen Spinnenbeinen und -armen, kopflos und glänzend wie lackiertes Eisen, umgeben von einer Aura finsterer Macht und Fremdheit, böse, böse, böse...
Skar stand wie gelähmt da und starrte aus ungläubigen geweiteten Augen auf das unglaubliche Bild. Das Ding in Helth bewegte sich nicht wirklich, aber es lag auch nicht wirklich still, sondern tat irgend etwas dazwischen, das sein Gehirn nicht richtig erfassen und verarbeiten konnte. Es schien zu zucken wie ein Schmetterling, der noch nicht die Kraft hatte, seinen Kokon vollends abzustreifen und die Schwingen zu entfalten, aber Skar spürte, wie seine Macht wuchs, mit jeder Sekunde, jedem Atemzug. Er konnte es noch immer nicht richtig erkennen, und er war dankbar dafür.
Das Schwert entglitt seinen Händen. Er fühlte, wie die Kraft aus ihm wich, wie sein Dunkler Bruder zurückprallte und floh, wie ein Tier vor dem Feuer flieht, tödlich verwundet durch die flüchtige Berührung der finsteren Aura, die das Ungeheuer umgab. Velas Worte fielen ihm ein: »Sie versuchten, ein Wesen zu erschaffen, das gleichermaßen zu beiden Welten gehört.« Er stöhnte, wollte die Fäuste ballen, aber selbst dazu fehlte ihm plötzlich die Kraft. Sein Dunkler Bruder und dieses Ding vor ihm waren gleich. Es war ein Teil ihrer Welt, den er in sich trug, das Erbe der Sternengeborenen, das seinen Vorfahren eingepflanzt worden war und das sie weitergegeben hatten -, das er jetzt an seinen Sohn weitergegeben hatte!! -, nicht das Erbe der Alten. Er war bereit gewesen, sein Leben zu opfern, um dieses Ding zu vernichten, den Kampf aufzugeben und sich seinem Dunklen Bruder für immer auszuliefern, der Preis dafür, einmal, ein einziges Mal, seine volle Macht zu spüren und einsetzen zu können, aber selbst dieser letzte Ausweg war ihm verwehrt, er konnte die Kraft, den Fluch, mit dem er geschlagen war, nicht gegen ein Wesen einsetzen, das selbst Quell der gleichen Kraft war. Er hatte es versucht und sich ihrer bedient, aber es war nur ein kurzes Flackern gewesen, nicht mehr als ein Irrtum, ehe das Ungeheuer in ihm erkannte, daß der andere nicht sein Feind, sondern sein Herr war.
Wieder lief diese seltsame zuckende Nicht-Bewegung über Helth' geschundenen Körper. Seine Klaue kratzte über den Fels, tastete in einer suchenden, unsicheren Bewegung hin und her. Das Ding in seinem Leib versuchte sich zu befreien, aber es war noch nicht stark genug. Skar wich mit einem halb erstickten Schrei zurück, als er sah, wie sich der zerfetzte Torso Zentimeter für Zentimeter in die Höhe stemmte. Langsam, unsicher und schwankend kam der (wie hatte Yar-gan ihn genannt? Daij-djan?) hoch, blieb einen Moment wie eine groteske kopflose Marionette auf den Knien hocken und stand, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, auf. Seine Hände zitterten suchend dicht vor seinem Körper in der Luft.
Er ist blind! dachte Skar. Die Verwandlung war noch nicht vollständig abgeschlossen gewesen, das Ding noch auf Helth' Sinne angewiesen, um ihn zu sehen, zu hören und zu handeln. Die tastenden Hände wiesen einen Moment in seine Richtung, glitten weiter und verharrten zitternd, suchend wie die Fühler von Insekten, machten kehrt und wiesen wieder auf ihn. Helth machte einen schwerfälligen Schritt. Ein Teil seiner linken Schulter löste sich auf, darunter kam glänzendes schwarzes Horn zum Vorschein.
Der Anblick riß Skar endgültig aus seiner Erstarrung.
Mit einem verzweifelten Satz wich er vor den tastenden Händen zurück, duckte sich zur Seite und schob sich, den Rücken eng gegen die Wand gepreßt, auf das Tunnelende zu. Die dürren Klauenhände folgten seiner Bewegung, aber sie taten es langsam, unsicher, hielten immer wieder an, suchten. Helth' Körper klaffte auseinander wie ein loser Mantel, als er sich schwerfällig umdrehte, aber Skar konnte das Ding in ihm noch immer nicht richtig sehen. Er wollte es auch nicht. Alles, was er wahrnahm, war etwas Dunkles, Horniges, eingehüllt in ein Netz dünner schwarzer Fäden wie geschmolzener Teer.
Er war nicht mehr als fünf, vielleicht sechs Schritte vom Ende des Stollens entfernt, aber sie schienen zu einer Ewigkeit zu werden. Helth folgte ihm, aber er wich immer wieder von der richtigen Richtung ab, tastete hierhin und dorthin, wie ein Tier, das Witterung sucht. Skars Angriff war zu früh gekommen, vielleicht nur Augenblicke, aber zu früh.
Skars Fuß stieß plötzlich ins Leere. Er blieb stehen, preßte sich noch fester gegen die Wand und drehte den Kopf, um nach hinten sehen zu können. Die Wand fiel senkrecht hinter ihm in die Tiefe, fünfzig Fuß weit auf beinharten Fels und tödlich kaltes Wasser. Skar blieb für die Dauer von zwei, drei Herzschlägen reglos stehen, ehe er sich vorsichtig auf die Knie sinken ließ. Helth kam näher. Seine Hände fuhren in beschwörend anmutenden Gesten durch die Luft, und die Bewegung wirkte plötzlich ziellos. Skars linker Fuß glitt ins Nichts, rutschte ein Stück an der glasglatten Wand hinab und fand die oberste Stufe der schmalen Felstreppe.
Er wußte selbst nicht, woher er noch die Energie nahm, aber irgendwie schaffte er es, auch das andere Bein von seinem sicheren Halt zu lösen und sich für einen Moment nur mit der Kraft seiner Arme an den eisigen Fels zu klammern. Er wollte schon erleichtert aufatmen, als Helth im gleichen Moment zu laufen begann, in dem Skar sein Körpergewicht verlagert und Halt auf der schmalen Steinstufe gefunden hatte. Ein zischender, unmenschlicher Laut drang aus seiner Brust, vielleicht die Art, in der dieses Wesen seine Wut herausschrie. Seine Arme peitschten wie dünne scharfe Waffen herab und hackten nach Skars Gesicht. Skar duckte sich, drohte das Gleichgewicht zu verlieren und warf sich mit einem verzweifelten Ruck herum und zurück. Helth' Klaue streifte seine Schulter und riß einen handgroßen Stoffetzen aus seinem Hemd.
Skar ließ auch den letzten Rest von Vorsicht fahren und lief los. Die Stufen waren wie schmale glatte Spiegel unter seinen Füßen, und der Abgrund zerrte mit unsichtbaren Händen an ihm. Seine rechte Hand, mit der er sich an der Wand abstützte, war nach Sekunden zerschunden und blutig.
Vom Deck des Schiffes wehte ein vielstimmiger, entsetzter Schrei zu ihm hinauf. Skar blickte hastig nach hinten und sah, wie Helth gleich einer grotesken vierbeinigen Spinne hinter ihm aus dem Stollen kletterte, die oberste Stufe erreichte und mit traumwandlerischer Sicherheit hinter ihm herstürmte.
Der Anprall riß ihn von den Füßen.
Er taumelte, der Boden kippte vor ihm in die Höhe, und das Meer schien wie ein gewaltiges gieriges Maul nach ihm zu schnappen. Die vereiste Steinstufe rutschte unter seinen Stiefeln weg; die Treppe schüttelte ihn ab wie ein lästiges Insekt. Skar griff instinktiv nach hinten, bekam Helth' Arm zu fassen und riß ihn mit sich. Sie stürzten. Skar sah das schmale Felsband am Fuße der Wand wie eine steinerne Faust auf sich zurasen, versuchte sich noch im Sturz zu drehen und schloß im letzten Moment die Augen.
Das Wasser des Hafenbeckens war wie eine Glasscheibe, durch die er aus fünfzig Fuß Höhe hindurchstürzte. Ein grausamer Schlag traf seinen Körper, trieb ihm die Luft aus den Lungen und füllte seinen Mund mit Salzwasser. Er sank wie ein Stein, tief, unglaublich tief, schrammte über etwas Hartes, das unter der Wasseroberfläche verborgen gewesen war und fühlte, wie ihn die unsichtbare Faust der Strömung ergriff und wieder nach oben drückte. Er versuchte zu atmen, aber sein Kehlkopf verkrampfte sich, als Salzwasser statt Luft in seine Luftröhre drang. Die Strömung wirbelte ihn herum und hämmerte aus allen Richtungen gleichzeitig mit unsichtbaren Fäusten auf ihn ein, aber sie trug ihn auch weiter nach oben. Er brach durch die Wasseroberfläche, versuchte zu atmen und wurde wieder herabgesogen, ehe er seine Lungen mit Luft hatte füllen können.
Die Kälte begann ihn zu lähmen. Skar ruderte verzweifelt mit den Armen, bekam irgendwie den Kopf über Wasser und sog gierig die Luft ein, aber er fühlte, wie seine Glieder rasch und beinahe schmerzlos erstarrten. Er hatte nicht mehr die Kraft zu verhindern, daß er wieder mit dem Gesicht unter die Wellen geriet. Er schluckte Wasser. Rote und grüne Ringe begannen vor seinen Augen zu tanzen. Seine Beine waren taub, seine Haut ein Panzer aus Eis, der sich mit phantastischer Schnelligkeit in seinen Körper hineinfraß, das letzte bißchen Kraft aus ihm heraussaugte und ihn tötete.
Plötzlich war in seinem Inneren Wärme, eine wohltuende, verlockende, unglaublich angenehme Wärme, die allen Schmerz und jeden Rest von Angst und Verzweiflung davonspülte. Seine Gedanken begannen sich zu verwirren. Es war der Tod. Das Ende. Er wußte es, aber er wehrte sich nicht mehr. Alles, was er fühlte, war ein schwaches Erstaunen darüber, daß es so angenehm war.
Irgend etwas klatschte neben ihm ins Wasser, tauchte in einer sprudelnden Wolke aus Luftblasen unter und stieß mit einer eleganten Bewegung wieder zu ihm hinauf, aber Skar beachtete es nicht mehr. Er merkte kaum, wie rauhe Hände nach ihm griffen, ihn auf den Rücken drehten und auf das Schiff zuzogen.
Er verlor nicht das Bewußtsein, aber er versank in einem Dämmerzustand zwischen Wachsein und Koma, in dem er alles, was um ihn herum vorging, weiter wahrnahm, aber nicht in der Lage war, die Eindrücke richtig zu verarbeiten oder gar darauf zu reagieren. Die beiden Matrosen, die ihn aus dem Wasser gefischt hatten, wollten ihn unter Deck tragen, in den hinteren, geheizten Raum des Schiffes, aber Skar wehrte sich dagegen und machte ihnen irgendwie - mit Gesten und Kopfschütteln und leisen, erstickten Lauten - klar, daß er an Deck bleiben wollte, und so beschränkten sie sich darauf, ihn in einen windgeschützten Winkel vor dem Achteraufbau zu setzen und ihm die nassen Kleider vom Leibe zu ziehen und ihn trockenzureiben.
Er fieberte. Die Hände, die über seinen Körper strichen, ihn massierten und mit schmerzhafter Kraft das Leben in seine Muskeln zurückzwangen, taten weh, und die beiden Männer erschienen ihm wie Folterknechte. Etwas berührte seine Lippen, erst sanft, dann, als er nicht reagierte, mit gnadenlosem Druck, zwang seine Kiefer auseinander; eine bitter schmeckende, heiße, unerträglich heiße Flüssigkeit füllte seinen Mund und lief brennend in seine Kehle. Er hustete, krümmte sich voller Qual auf und kämpfte mit aller Macht darum, die Augen offenzuhalten. Er war gefangen in einem schmalen, von Schatten und quälenden Visionen erfüllten Grenzbereich, zwischen Bewußtsein und Schwärze, und wenn er dazu fähig gewesen wäre, hätte er um den Tod gebettelt, geschrien, daß sie ihn in Ruhe sterben lassen sollten.
Seltsamerweise funktionierte sein Zeitgefühl weiter. Ein Teil seiner Sinne war gestört, gelähmt von der Kälte und der dumpfen Furcht, die sich wie ein schleichendes Gift in seinen Gedanken eingenistet hatte; die Männer waren graue Schatten mit zerfaserten Rändern, die Berührung ihrer Hände trotz der Schmerzen, die sie ihm zufügten, unwirklich, aber der andere Teil arbeitete dafür mit einer seltenen Klarheit: Er hörte jedes Wort, das an Deck gesprochen wurde, und er spürte die sanften, gleichmäßigen Vibrationen, mit denen sich die Wellen an der Bordwand des versteinerten Schiffes brachen, mit jeder Faser seines Körpers. Der Wind war kälter geworden und fauchte mit ungebrochener Kraft in die gewaltige Höhle, und für einen Moment glaubte er den Dronte zu sehen, ein gewaltiges schwarzes Ungeheuer, das auf die Höhle zuschoß, das Feuer der Hölle hinter seiner Reling und das Segel gebläht von einem Sturm, den er selbst entfacht hatte. Er versuchte, sich zu bewegen. Seine Glieder gehorchten ihm, aber es war ein schmerzhafter, unglaublich mühsamer Prozeß. Er brauchte Minuten, um sich auf die Knie zu erheben, und seine ganze Kraft, um nicht erneut zurückzusinken. Ein weiterer Schatten erschien vor ihm, ein wenig grauer als die anderen, kleiner und schlanker, und als er sich mit der Hand über die Augen fuhr und die Tränen wegwischte, erkannte er Gowenna. Sie preßte ein winziges, in grobe Wolldecken eingeschlagenes Bündel an ihre Brust. »Was ist passiert, Skar?« fragte sie. »Wo ist Del?«
Skar stemmte sich weiter hoch und griff nach ihrer Schulter; sie wankte unter seinem Gewicht, fing sich aber sofort wieder und gab den Männern neben sich einen Wink. Skar wurde auf die Beine gehoben, stand einen Moment aus eigener Kraft und taumelte gegen den Mast. Allmählich klärte sich sein Blick, und die Kälte, die ihn bisher gelähmt hatte, hielt ihn jetzt wach.
»Was ist geschehen?« fragte Gowenna noch einmal. Ihre Stimme war wie ein Schrei, zu dem ihr die Kraft fehlte.
»Tot«, murmelte Skar. Er konnte kaum sprechen. Seine Zunge war taub, und ein Teil seines Körpers schien nicht mehr zu existieren. Er fühlte seine Hände, die rauhe Oberfläche des Mastes in seinem Rücken, das Brennen seiner Gesichtshaut, sonst nichts. Mühsam hob er die Hände vor das Gesicht und sah die grauen Flecken von Erfrierungen auf seiner Haut.
»Er ist... tot«, sagte er noch einmal. »Helth hat... hat ihn umgebracht.«
Gowenna fuhr sichtlich zusammen. Natürlich hatte sie es gewußt, sie und jeder einzelne Mann an Bord, im gleichen Moment, in dem sie Skar allein aus der Höhle kommen sahen und das Spinnending hinter ihm, aber seine Worte schienen ihr den Schrecken erst richtig zu Bewußtsein zu bringen.
»Helth...«, flüsterte sie. Skar konnte ihr Gesicht nicht erkennen; sie trug noch immer den seidigen grauen Schleier, der nur ihre Augen frei ließ, aber er war sicher, daß sich ihre Lippen beim Sprechen nicht bewegten. Sie starrte ihn an, drehte sich wie unter einem inneren Zwang um und schaute in Richtung der Höhle. Skar folgte ihrem Blick.
Helth war nicht ins Wasser gestürzt wie er. Sein Körper lag am Fuße der schmalen Steintreppe, verrenkt, zerrissen und zusätzlich zerschmettert von dem fünfzig Fuß tiefen Sturz.
Aber er lebte.
Er bewegte sich nicht, sondern lag vollkommen still, ein zusammengestauchtes, verdrehtes dunkles Bündel, das nichts mehr mit einem menschlichen Körper gemein hatte, und trotzdem war Leben in ihm, Leben oder etwas anderes, Finsteres. Er schien zu pulsieren, und etwas Dunkles, Unsichtbares kroch langsam über das schmale Felsband auf das Schiff zu.
»Bei allen...!« Gowennas Stimme versagte. Sie fuhr herum, so heftig, daß das Kind in ihren Armen erwachte und leise zu wimmern begann, starrte Skar aus weit aufgerissenen Augen an und wollte etwas sagen. Ihre Lippen zitterten unter dem dünnen Schleier. Skar schien es plötzlich, daß die Haut rings um ihr verletztes Auge wieder glatt und unversehrt war. Aber nur für einen Moment. Dann verging die Illusion, und er sah wieder das erloschene blinde Auge und den erstarrten graubraunen Schmerz unter ihm. Es war nur Blendwerk. Aber sie waren am Ende aller Täuschung.
Skar löste sich langsam vom Mast, trat auf Gowenna zu und berührte ihre Wange. Sein Blick streifte das Kind auf ihren Armen, und wieder verspürte er dieses seltsame, fremde Gefühl der Zärtlichkeit. Wie beim ersten Mal schreckte er davor zurück, versuchte es zu verdrängen und wegzuleugnen, und wie beim ersten Mal spürte er, daß er es nicht konnte. Und gleichzeitig hatte er Angst. Eine so tiefe, schmerzende Angst wie selten zuvor in seinem Leben. Dieses Kind war weder gut noch böse, sondern unschuldig und bereit, geformt zu werden, aber allein der Gedanke, wozu es einmal werden konnte, ließ ihn innerlich aufstöhnen. Und es gab nichts mehr, was sie dagegen zu tun in der Lage waren.
»Ich glaube«, begann er, ganz leise und so ruhig, wie er konnte, »diesmal haben wir verloren, Kiina.« Seine Hand glitt an ihrer Wange herab, fand die dünne Spange, die den Schleier hielt, und löste sie. Es war undenkbar, hinter den Schleier der Margot zu blicken, ein todeswürdiges Verbrechen allein der Gedanke daran, aber Gowenna ließ es geschehen, ohne sich zu wehren. Ihr Gesicht zuckte, und er sah, wie sie mit aller Macht gegen die Tränen ankämpfte.
Sie benahmen sich immer noch wie die Kinder, dachte er. Beide. Gowenna und er. Sie belauerten sich gegenseitig, warteten auf ein Zeichen von Schwäche, nur um endlich selbst schwach sein zu dürfen. »Gowenna«, murmelte er. »Ich -«
Sie hob die Hand, brachte ihn mit einer entschiedenen Geste zum Schweigen. »Nicht, Skar«, bat sie. In ihrem Auge glitzerte eine Träne, ihre Stimme zitterte, aber sie war trotzdem fest. »Ich mag keine großen Abschiedsszenen«, fuhr sie fort. »Stell... stell dir vor, wie albern wir uns vorkommen müssen, wenn wir doch überleben.« Sie versuchte zu lachen, aber es mißlang kläglich.
Skar drehte sich um und sah nach Westen. Der Dronte war da. Er war herangekommen, zehnmal so schnell, wie er gefürchtet hatte, ein titanischer schwarzer Schatten, der schäumend und lautlos auf die Hafeneinfahrt zuschoß. Das Segel war bis zum Zerreißen gebläht, die schwarzen Ruder peitschten wie wirbelnde Insektenbeine das Wasser, und hinter seiner Bordwand glühte ein hellrotes, flackerndes Höllenauge.
Etwas fehlt noch, dachte er. Es war noch nicht komplett, ein winziges Steinchen des Mosaiks fehlte noch, damit alles einen Sinn ergab. Eine seltsame, unnatürliche Ruhe begann von den Männern Besitz zu ergreifen. Ihre Stimmen verklangen, eine nach der anderen, versickerten im Murmeln der Brandung und im Heulen des Windes, und Skar spürte ohne hinzusehen, wie sie stehenblieben, stumm und mit einer Ruhe, um die er sie für einen winzigen Moment beneidete, dem näher kommenden Dronte entgegenstarrten. Ein paar Hände griffen nach Schwert oder Schild, aber es waren nur leere Gesten. Sie wußten, daß es kein Entkommen mehr gab. Sie waren am Ende der Welt; es gab keinen Ort mehr, wohin sie sich flüchten konnten.
Reglos sah er dem Dronte entgegen. Er wuchs heran, schnell, unglaublich schnell, sprang mit einem gewaltigen Satz aus dem Licht der Vormittagssonne hinein in die Höhle, wie ein bizarres Ungeheuer aus den Abgründen der Zeit, das Wasser pflügend und weiße Gischt wie einen Schleier hinter sich herziehend, und Skar wußte, daß Helth hinter ihnen erwachte, genau in diesem Moment, da sich das Ding in seinem Inneren regte, tastend, noch unsicher, aber endlich Herr seines Körpers, endlich erwacht und im Vollbesitz seiner Kräfte.
»Skar...« Gowennas Stimme bebte, brach. »Wir... wir müssen hier weg. Das Schiff wird explodieren, wenn... wenn er es trifft.«
Das Höllenfeuer hinter der Reling des Dronte begann heller zu lodern; eine winzige Sonne, die das Wasser mit roter und goldener Glut überzog. Das schwarze Schiff schoß heran. Die Ruder hoben sich aus dem Wasser, bildeten einen Moment lang ein waagerechtes Spalier neben seinem Rumpf und senkten sich wieder, nur auf einer Seite und gegen den Takt, den sie bisher geschlagen hatten. Der Dronte zitterte, legte sich in einer schwerfälligen, ungeheuer kraftvollen Bewegung auf die Seite und schwenkte herum, so scharf, daß sein Heck ein Stück weit unter die Wasseroberfläche gedrückt wurde und der Bug sich aufbäumte, so daß sie den langen, mit hornigen Widerhaken versehenen Rammsporn sehen konnten.
»Wir müssen hier weg!« keuchte Gowenna noch einmal. Ihr Gesicht war grau vor Furcht. Sie wich einen halben Schritt zurück und preßte das Baby so fest an sich, daß es erneut zu schreien begann. »Die Schiffe werden brennen wie...«
»Laß es sein, Gowenna«, unterbrach sie Skar leise. »Es hat keinen Sinn mehr.« Und in Gedanken fügte er hinzu: Wenigstens wird es schnell geben.
Er wandte sich um. Helth (Helth ??!) war aufgestanden. Sein Körper war vollends zerfallen, das Ding, das in ihm herangewachsen war, hatte ihn abgestreift wie einen leeren, vertrockneten Kokon und war, nach Jahrtausenden, vielleicht Jahrmillionen, die es geduldig gewartet und gelauert hatte, zu neuem, eigenem Leben erwacht. War es das, dachte er matt, wogegen die Alten gekämpft hatten? War dieses schwarze glitzernde Ding, das sich seinen Blicken immer noch auf geheimnisvolle Weise entzog, ein Sternengeborener, oder war es nur eine weitere Waffe, ein Diener wie der Dronte und die schwarzen Kolosse aus Tuan? Es fiel Skar schwer zu glauben, daß dieses Wesen, das nur aus Haß und Vernichtungswillen zusammengesetzt war, wirklich ein Teil jener Rasse sein sollte, die Städte wie Cor-ty-cor oder Urcôun erschaffen hatten, daß es überhaupt wirklich lebte und nicht künstlich gemacht war: eine Waffe, ein Ding, das zum Töten und Morden gut war und zu sonst nichts. Eigentlich nicht mehr als das Schwert an seiner Seite.
Die Kreatur richtete sich auf, schattig, finster und wabernd, in einen Mantel aus Furcht und Dunkelheit gehüllt. Sie war nicht groß. Skar hatte Helth fast um Haupteslänge überragt, und das Ding war noch ein gutes Stück kleiner als der Vede, der es geboren hatte; trotzdem wirkte es auf unbestimmte Art gewaltig.
Irgendwo weit, weit unter ihm bewegte sich etwas. Skar löste seinen Blick von der Erscheinung, versuchte das Halbdunkel im hinteren Teil der Höhle zu durchdringen und glaubte etwas zu sehen, war sich aber nicht sicher. Ein weißes Blitzen und Schimmern wie von Eis. Eis oder-»Satai! Errish!« Die Stimme war in ihren Köpfen, ein Ton wie ein Messer, der Skar und Gowenna und die Männer wie unter Schmerzen aufstöhnen ließ, ein Echo aus einer Welt, die fremd und vor einer Million Jahren untergegangen war. »Das Spiel ist aus! Gebt mir, was mir zusteht, und ihr könnt gehen!«
Das Blitzen wiederholte sich, kurz und hell, ein Lichtstrahl, der sich auf einer niedrigen Balkonbrüstung aus Eis brach und über die gigantischen, hoch aufgerichteten Gestalten dahinter strich. Gestalten aus Eis, die so fremd waren wie dieses schwarze Etwas dort unten und doch gleichzeitig vertraut. Skar wußte, daß es unmöglich war, aber für einen Moment glaubte er, trotz der großen Entfernung ihre Gesichter zu erkennen, Gesichter, die jetzt vollständig ausgebildet waren und ihn aus schimmernden gläsernen Augen musterten. Eine Vision blitzte durch seine Gedanken, ganz kurz nur, aber so heftig, daß er erneut aufstöhnte: Er war noch einmal oben auf der Eismauer, sah die Flammen, die wie gierige rote Hände zu ihm hinaufleckten, und erlebte noch einmal mit, wie Brad in die Tiefe gerissen wurde und mit dem brennenden Leib des Dronte verschmolz.
»Satai!« stöhnte die Stimme in seinem Schädel. »Eure Zeit ist um! Gebt mir das Kind!«
»Hol es dir, du Bastard«, flüsterte Skar.
Das Ungeheuer starrte ihn an. Es hatte keine Augen, aber Skar fühlte, wie es ihn musterte, ihn durchdrang, bis in den verborgensten Winkel seiner Seele blickte und seine geheimsten Gedanken und Wünsche erkannte.
»Wie du willst«, flüsterte es. Und dann noch einmal, und so laut, daß die gewaltige Höhle unter den Worten zu zittern schien: »WIE DU WILLST, SATAI!«
Skar wandte den Kopf. Der Dronte hatte seine Drehung vollendet und kehrte ihnen jetzt seine Breitseite zu. Sein schwarzer Leib schien im Rhythmus langsamer, schwerfälliger Atemzüge zu pulsieren. Etwas Dunkles, Fremdes und gleichermaßen beinahe erschreckend Vertrautes berührte Skars Seele. Das schwarze Schiff zitterte. Seine Ruder senkten sich ins Wasser, um seinen Katapulten freie Schußbahn zu gewähren.
Helth stieß einen krächzenden Laut aus und hob die Arme. Seine dunkle Aura wuchs, raste wie eine schwarze Flutwelle auf das Schiff zu und erreichte die ersten Männer. Neben ihm schrie Gowenna in nackter Todesangst auf, fiel auf die Knie und warf sich schützend über das Kind.
Hinter der Reling des Dronte erwachte ein blutigrotes Auge zu flammendem Leben, stieg, sich wie eine feurige Knospe entfaltend und eine junge Sonne gebärend, bis unter die Höhlendecke auf und senkte sich mit tödlicher Zielsicherheit auf den Daij-djan herab.