Sie hatten gewartet; Stunden, die ihnen wie Ewigkeiten vorgekommen waren. Obwohl der Dronte wendiger und schneller war als die SHAROKAAN, kam er kaum besser voran als sie zuvor; anders als der Freisegler hatte er die Strömung gegen sich, und es kam ihnen vor, als wären die Stakgeräusche langsamer geworden in den letzten Minuten. Vielleicht verlangsamte er seine Fahrt aber auch absichtlich, um vorsichtiger in den See einzulaufen. Er mußte wissen, daß die SHAROKAAN irgendwo auf der Lauer lag und ihn erwartete. Skar versuchte, sich in die Männer des schwarzen Seglers hineinzuversetzen. Es war sicher kein gutes Gefühl, mit vollem Wissen in eine Falle zu laufen. Brad stand auf. »Es wird Zeit.« Er hob den Kopf und starrte einen Moment abwesend zu den Sternen empor. Für die Dauer von zwei, drei Herzschlägen wurde sein Antlitz von silbernem Licht beschienen, und Skar glaubte einen beinahe traurigen Ausdruck in seinen Augen zu gewahren. Aber dann bewegte er sich erneut, und sein Gesicht verlor sich wieder hinter einem Schleier aus anonymem Dunkel. Für den Bruchteil eines Lidzuckens hatte Skar den wirklichen Brad gesehen, das denkende und fühlende Wesen, das sich hinter der Maske einer gefühllosen Kampfmaschine verbarg. Seine Ruhe war nur gespielt. In Wirklichkeit, das spürte er, tobte in der Seele des Mannes ein wütender Kampf. Die bevorstehende Auseinandersetzung mit dem Piraten? Sicher nicht allein. Plötzlich bedauerte Skar, Brad nicht doch nach der Art des Gelöbnisses gefragt zu haben, das er und sein Bruder Rayan gegenüber abgelegt hatten. Er wußte nicht, warum, aber irgendwie glaubte er zu ahnen, daß es mit dem Dronte zusammenhing. Zusammenhängen mußte.
Aber jetzt war es zu spät, ihn danach zu fragen.
Brad ging mit schnellen Schritten zum Rand des gewaltigen Grabens hinüber und blieb hoch aufgerichtet stehen. »Es wird Zeit«, sagte er noch einmal, verharrte aber trotzdem weiterhin reglos. »Da ist... noch etwas, Skar«, begann er, sehr leise und so stockend, daß Skar spürte, wie schwer es ihm fiel weiterzureden.
»Ja?«
»Was ich dir vorhin erzählt habe, Skar«, fuhr Brad fort, immer noch leise und von ihm abgewandt, so daß seine Worte beinahe vom Wind verweht wurden.
»Ich werde nicht darüber reden. Zu niemandem.«
»Ich weiß«, nickte Brad. »Aber ich möchte, daß du mir etwas versprichst. Wenn... wenn ich sterben sollte, hier oder später, dann kümmere dich um Rayan. Und gib auf Helth acht. Er ist noch sehr jung; ein Kind.«
Skar nickte. Brad hatte ohne jedes Pathos, aber mit großem Ernst gesprochen.
»Gut«, sagte Brad. »Und jetzt laß es uns hinter uns bringen.«
Skar brauchte nicht hinabzusehen, um zu wissen, wo der Dronte war. Das helle Klirren der Eisenstangen, mit dem sich das Schiff an den Kanalwänden entlanghangelte, auf die gleiche Weise, wie es die SHAROKAAN Stunden zuvor ebenfalls getan hatte, war während der letzten halben Stunde näher gekommen und erklang nun direkt unter ihnen. In wenigen Augenblicken würde der Drachenkopf des Mordseglers in der diesseitigen Kanalausfahrt auftauchen.
Skar fühlte, wie seine Nervosität verflog und jener angespannten Ruhe wich, die er immer vor einem Kampf verspürte. Nur etwas war anders als sonst. Es war nicht nur die bekannte Ruhe, die von ihm Besitz ergriffen hatte, sondern noch etwas anderes, ein dumpfes Gefühl quälenden Unbehagens. Diesmal würde es keinen Kampf geben, keine Auseinandersetzung Mann gegen Mann oder Schiff gegen Schiff. Jedenfalls nicht für sie, nicht für Brad und ihn, und auch nicht für den Dronte, wenn sie Erfolg hatten. Auf eine unlogische Art bedauerte Skar beinahe seinen Entschluß, hier heraufzukommen. Brad und er hatten den eindeutig schmutzigeren Teil der Arbeit übernommen, ein Vorhaben, das nach Skars Empfinden verdammt nahe an kaltblütigen Mord herankam. Und das Wissen, daß ihnen gar keine andere Wahl blieb und sie nur mit gleicher Münze zurückzahlten, änderte daran gar nichts. Ihr Vorhaben widersprach nicht nur dem Ehrenkodex der Satai, sondern auch allen Grundsätzen, nach denen er bisher gelebt hatte. Aber er würde diesen Sprung über seinen eigenen Schatten tun müssen, wenn er überleben wollte. Er, Brad, Del, Gowenna und all die anderen unten auf der SHAROKAAN.
Brad spannte seine Armbrust, visierte kurz die gegenüberliegende Wand an und drückte ab. Das Geschoß sirrte davon, zog ein dünnes Seil aus mehrfach verdrilltem Hanf hinter sich her und bohrte sich eine knappe Handbreit unter der Kante in das Eis.
Während Brad daranging, einen Teil ihrer Ausrüstung in ein großes, engmaschiges Netz zu verfrachten, befestigte Skar das Ende des Seiles an einem Haken, den sie schon vorher ins Eis geschlagen hatten. Er zog ein paarmal daran und belastete das Seil schließlich mit seinem ganzen Körpergewicht. Der Haltebolzen ächzte hörbar, aber die Widerhaken hielten ihn sicher fest.
»Fertig?« fragte Brad.
Skar nickte wortlos.
Brad betrachtete sein Werk kritisch und griff dann ohne ein weiteres Wort nach dem Seil. Behende und schnell wie ein Baumaffe hangelte er sich an der Schnur über den Abgrund. Die Haken ächzten hörbar unter seinem Gewicht. Ein heftiger Windstoß fauchte durch den Kanal, traf ihn und ließ ihn einen Augenblick lang wild hin und her pendeln. Aber er hing sicher am Seil.
Skar beobachtete ihn mit wachsender Besorgnis. Eingerahmt von den selbst jetzt noch in unheimlichem weißem Licht leuchtenden Eiswänden bot Brad ein kaum zu verfehlendes Ziel. Wenn auch nur ein einziger Pirat unten auf dem Schiff einen Blick in den Himmel warf, mußte er ihn sehen. Und für einen geübten Bogenschützen stellten die zweihundert Fuß keine nennenswerte Entfernung dar.
Aber seine Besorgnis war überflüssig. Brad erreichte unbehelligt die gegenüberliegende Seite und schwang sich mit einer eleganten Bewegung auf das Eis hinauf. Rasch huschte er ein paar Meter von der Kante fort, blieb geduckt stehen und winkte Skar zu.
Skar befestigte das Netz an einem Haken, hängte es sorgfältig über das Seil und gab ihm einen leichten Stoß. Wenige Augenblicke später hievte Brad das Bündel zu sich hinauf und begann mit seinen Vorbereitungen.
Skar ging zu dem unordentlichen Haufen mit ihrer restlichen Ausrüstung zurück, nachdem er einen letzten Blick auf den Dronte geworfen hatte. Er hockte sich nieder und begann schnell, aber ohne Hast Tontöpfe, Lunten und Stoffstreifen vor sich auszubreiten. Nach kurzer Zeit hatte er mehr als ein Dutzend runder, kopfgroßer Tongefäße in einer Reihe am Rand der Schlucht aufgestellt. Die Ölhändler im fernen Wolan wären erstaunt gewesen, hätten sie gesehen, zu welchem Zweck ihre Ware hier gebraucht wurde. Normalerweise dienten die reich verzierten und bemalten Kalebassen als Öllampen - aber bis an den Rand gefüllt und mit einem brennenden Lappen als Lunte versehen, gaben sie auch ganz passable Brandbomben ab.
Skar griff in das Bündel, holte zwei Feuersteine hervor und begann sie rhythmisch aneinanderzuschlagen. Das leise Klicken hallte geisterhaft durch die Nacht und schlug glasklare, klingende Echos aus dem Eis. Einer der ölgetränkten Fetzen in seiner Hand begann zu schwelen und dann mit einer kleinen blauen Flamme zu brennen. Skar legte ihn vorsichtig vor sich auf den Boden, überzeugte sich davon, daß die Flamme nicht das Eis berührte und sich mit dessen Schmelzwasser selbst erstickte, beugte sich vor und sah nach unten.
Der schwarze, massige Leib des Dronte füllte die Wasserstraße wie ein formloses Ungeheuer aus. Das Boot befand sich noch eine halbe Schiffslänge vom Ende des Kanals entfernt. Seltsamerweise war außer den Stakgeräuschen kein Laut zu hören. Die Piraten schienen vollkommene Ruhe zu bewahren. Skar bemühte sich vergeblich, auf dem schwarzen Deck eine Spur der Besatzung auszumachen: wenn dort unten Männer waren, so verschmolzen sie vollkommen mit der schwarzen Farbe des Schiffes.
Er richtete sich auf und blieb einen Moment reglos stehen. In seiner rechten Hand glomm ein winziger blauer Funke.
Skar zögerte einen Moment, dann stopfte er den brennenden Fetzen in die kaum fingergroße Öffnung der Kalebasse und warf das Gefäß mit kraftvollem Schwung nach unten.
Der Wurf ging zu weit. Die Brandbombe flog über das Segel hinweg, schmolz zu einem schmalen, funkensprühenden Strich zusammen, traf die Reling des Killerseglers und ergoß ihren Inhalt über Bord.
Skar schloß geblendet die Augen. Eine grelle, gelbweiße Flamme breitete sich in Sekundenschnelle auf dem Wasser aus, leckte gierig nach den Eiswänden und dem schwarzen Rumpf des Dronte. Das Eis erstrahlte plötzlich in flackerndem weißem Licht. Ein dumpfes Stöhnen wehte zu Skar hinauf.
Aber das Feuer erlosch so schnell, wie es aufgeflammt war. Die Flammen wurden kleiner, verzehrten ihre Kraft in einem letzten, machtvollen Flackern und ertranken.
Skar zündete einen weiteren Lappen an und zielte diesmal sorgfältiger. Das Geschoß zeichnete eine funkensprühende Linie in die Nacht, traf das Heck des Dronte und zerplatzte. Ein Schwall brennenden Öls ergoß sich über die schwarzen Planken. Fast im gleichen Augenblick detonierte Brads erstes Brandgeschoß am Hauptsegel und ließ es in Flammen aufgehen.
Skar warf mit fast mechanischer Präzision weiter. Das Deck des Mordseglers verwandelte sich in wenigen Augenblicken in ein flammendes, weißglühendes Inferno. Kleine, grelle Feuerzungen glühten auf, liefen im Zickzack wie feurige Schlangen über Deck und Aufbauten des Dronte und überzogen ihn mit einem Netzwerk aus Glut und waberndem Licht. Das Toppsegel fing mit einem einzigen berstenden Schlag Feuer. Der schmale Kanal war plötzlich von weißer, schmerzhaft greller Glut erfüllt. Ein Feuerpilz wälzte sich brüllend empor, als irgendwo tief im Leib des Dronte ein Teil seiner Ladung auf die ungeheure Hitze antwortete und explodierte.
Skar wich zurück, als die ungeheure Hitzewelle aus dem Schacht brach. Vor seinen Füßen begann das Eis zu dampfen und zu schmelzen. Eine ungeheure Lichtflut brach aus dem Kanal und tauchte die Ebene in gleißende, schattenlose Helligkeit. Skar stöhnte unter dem Gluthauch auf, tastete blind nach einem neuen Brandgeschoß und warf es in die Tiefe. Ein weiterer dumpfer Knall mischte sich in das Prasseln und Brüllen der Flammen, aber er wußte nicht, ob er wirklich getroffen hatte oder ob das Inferno bereits zu selbständigem Leben erwacht war. Die gesamte Insel schien zu zittern.
Er atmete tief durch, schützte das Gesicht mit den Händen vor der Hitze und kroch wieder zum Rand vor. Das Eis unter seinen Händen und Knien wurde matschig und weich.
Der Kanal hatte sich in einen Schmelztiegel verwandelt. Die spiegelnden Wände reflektierten das grelle Licht der Flammen und steigerten es ins Unerträgliche. Der Dronte war zu einem länglichen Schatten geworden, der sich unter dem Glutvorhang wie unter Schmerzen zu winden schien. Das flackernde Licht gaukelte Skar Bewegung vor, und das Brüllen der Flammen erschien ihm plötzlich wie der Todesschrei eines gigantischen hilflosen Tieres. Die Segel des Dronte waren verbrannt. Seine Masten lohten wie Scheiterhaufen inmitten der Glut; die Explosion von vorhin hatte sein Heck zerrissen und das hintere Drittel des Schiffes in ein Wirrwarr aus Trümmern und Glut verwandelt. Die Wirkung ihrer improvisierten Brandgeschosse allein hätte nicht ausgereicht, eine solche Verheerung anzurichten. Das Feuer mußte die Munition seiner Katapulte erreicht und in Brand gesetzt haben. Sein Rumpf glühte. Zwischen den berstenden Platten brach ein höllisches, blendendweißes Licht hervor.
Der Dronte starb. Er starb an der Glut, mit der er bisher seine Opfer versengt hatte, ging, wie in einer bösen Rache des Schicksals, an seinem eigenen Schrecken zugrunde; eine Vernichtung, rascher und gründlicher, als sie jeder Angreifer hätte hervorrufen können. Noch während Skar hinsah, platzten die Flanken des Dronte wie unter einem gigantischen Axthieb endgültig auf. Ein Schwall flüssigen Feuers ergoß sich wie Blut aus einer schrecklichen Wunde ins Meer und führte den tobenden Flammen neue Nahrung zu. Der Kanal brannte jetzt in voller Länge. Die Flammen leckten achtzig, hundert Fuß an seinen Wänden empor, schlugen brüllend über dem Dronte zusammen und vereinigten sich zu einem Baldachin aus Licht und sengender Glut, unter dem es immer wieder aufblitzte, als der Dronte in einer Serie rasch aufeinanderfolgender Explosionen auseinanderbrach.
Skar fuhr erschrocken zusammen, als er sah, wie sich auf der gegenüberliegenden Seite der Kanalwand ein breiter gezackter Riß bildete, spinnenfingrige Ausläufer nach allen Seiten schickte und schließlich die ganze Wand mit einem einzigen dröhnenden Schlag spaltete. Sein Warnschrei wurde vom Brüllen der Flammen verschluckt. Der Riß zuckte wie eine gierige, vielfingrige Hand nach Brad, zertrümmerte das Eis unter seinen Füßen und riß ihn in einer Lawine von Splittern und schmelzendem Eis in die Tiefe.
Skar stand wie betäubt da und starrte ins Leere. Unter ihm zerriß eine weitere Explosion den Flammenvorhang und gewährte ihm für Sekunden einen Blick auf den auseinanderbrechenden Leib des Dronte. Die ursprüngliche Form des Schiffes war kaum noch zu erkennen. Das Wasser kochte. Zischende Dampfschwaden stiegen auf, verbrühten das wenige, das die Flammen noch nicht verzehrt hatten, ehe sie von neu emporschießenden Feuerarmen verschluckt und auseinandergerissen wurden.
Aber Skar nahm von alldem kaum etwas wahr.
Es war vorbei.
Sie hatten gewonnen. Der Kampf war zu Ende, ehe er richtig begonnen hatte. Der Dronte war tot, von seinen eigenen Waffen vernichtet. Aber der Gedanke erfüllte ihn nicht mit Triumph oder Stolz. Er war Satai, er hatte mehr Männer sterben sehen, als er zu zählen vermochte, aber dies war kein ehrlicher Kampf gewesen. Es war Mord, schlimmer noch, ein erbarmungsloses Abschlachten, in dem ihr Gegner nicht die Spur einer Chance gehabt hatte. Selbst die Angriffe des Dronte waren auf ihre Art fairer gewesen. Seine Opfer hatten zumindest die Wahl, sich zum Kampf zu stellen oder davonzulaufen.
Und auf eine quälende, unlogische Art fühlte er sich verantwortlich für Brads Tod. Das Eis zitterte. Erneut durchlief ein tiefes, schmerzvolles Stöhnen den Boden, und Skar begriff plötzlich, daß er sich ebenfalls in Gefahr befand. Er trat hastig ein paar Schritte zurück, warf einen letzten Blick auf die glosende Feuerlinie hinter sich und ging mit hängenden Schultern zu dem Seil hinüber, das ihn zurück auf das Deck der SHAROKAAN bringen würde.