21.

Er stand am Rand einer unendlichen gläsernen Ebene, spürte die Kälte des Windes und den Ruf der Einsamkeit, ein rötliches Flackern, und der Gestank verschmorenden Fleisches hüllte ihn ein, und er wußte - anders als in einem normalen Traum -, daß er träumte, daß all dies nicht real und es wieder Bilder aus seinem Unterbewußtsein waren, die die Schwäche des Schlafes ausgenutzt hatten, um Gewalt über sein Denken zu erlangen. Die gläserne Ebene war die Eiswand, auf die er zusammen mit Brad hinaufgestiegen war, das rote Licht die Flammen, die den Dronte tief unter ihnen verzehrten. Er war allein, die SHAROKAAN und Del und Gowenna und alle anderen verschwunden, der See lag glatt und unberührt wie ein gewaltiger Spiegel unter ihnen. Langsam kniete er am Rande der gewaltigen Schlucht nieder, breitete die Arme aus, als wolle er fliegen, und beugte sich über den Abgrund. Er fiel nicht. Unter ihm brannte der Dronte, und er hörte seine Schmerzensschreie, spürte den Zorn und die Qual dieses unbegreiflichen Wesens, aber auch die Verwirrung, dazwischen Gefühle, die ihm fremd waren und für die es keine Worte in der menschlichen Sprache gab. Er sah den Riß in der gegenüberliegenden Wand, einen schwarzen, gezackten Blitz, der die Ebene auf der anderen Seite in zwei ungleichmäßige Hälften spaltete, das Eis an seinen Rändern war aufgeworfen wie die Ränder einer Wunde, der flackernde Widerschein des Feuers färbte sie rot, sie und das Schmelzwasser, das wie eisiges Blut die Wand herablief. Sie hatten nicht nur dem Dronte Schmerz zugefügt, sondern diesem Land, dem Geist, vielleicht dem Gott dieser eisigen Insel am Ende der Welt. Er beugte sich weiter vor, so unmöglich weit, daß er eigentlich hätte fallen müssen, aber irgend etwas hielt ihn, gegen alle Logik, er sah hinab, blickte in die Flammen und sah das Gesicht darin, Brads Gesicht, seinen Körper, der vom Zucken des Eises abgeschüttelt und in die Tiefe gerissen worden war, zerbrochen, verbrannt, ein schreiendes Bündel, das auf dem weißglühenden Deck des Dronte aufschlug und mit seinem zerlaufenden Leib verschmolz, eins wurde mit der teerähnlichen schwarzen Masse, die unter der Glut des Feuers zerkochte, in dem brodelnden Schwarz versank wie ein bizarres Tier der Vorzeit in einem Teersee; im Tode vereint mit seinem Opfer. Skar wollte zurückweichen, aber die gleiche Kraft, die ihn hielt, hinderte ihn auch daran und zwang ihn, weiter in die Tiefe zu blicken und dem qualvollen Sterben des Dronte zuzusehen, und »Skar?« gleichzeitig spürte er, daß diese Bilder mehr waren als ein bloßer Traum, daß es eine Botschaft, eine Warnung oder vielleicht auch nur der Versuch einer Ver- »Skar! Wach auf - es ist Zeit.« ständigung war, einer Verständigung über Abgründe hinweg, die tiefer waren als alles, worüber...

Eine Hand klatschte in sein Gesicht. Der Schlag war nicht fest, schmerzte nicht einmal, aber er weckte ihn endgültig, und die Scheinrealität des Traumes wich der flackernden roten Kälte der Höhle. Er blinzelte, sah - mit plötzlichem Schrecken - zum Ausgang und stellte erleichtert fest, daß es draußen noch hell war. Für den Bruchteil eines Atemzuges hatte sich die bizarre Vorstellung in ihm festgesetzt, daß er den Tag verschlafen haben könnte und draußen wieder Nacht war. Die letzte Nacht.

Del grinste. »Endlich aufgewacht?«

»Wie lange... habe ich geschlafen?« murmelte Skar benommen. Es fiel ihm schwer, ganz wach zu werden. Der Traum war sofort gekommen, direkt und unmittelbar und ohne den Umweg über den Schlaf, der sonst die Pforten zu diesem verschlossenen Bereich der Seele öffnete. Für einen Moment versuchte sich Skar fast verzweifelt an die Bilder zu klammern, die seinen Geist erfüllt hatten, versuchte diesen Traum mit Gewalt zurückzuzwingen, wußte er doch, daß die Lösung aller Rätsel darin lag. Aber das Bild verblaßte, versank in einem Strudel von Visionen und durcheinanderwirbelnden Gedankenfetzen; Fragmenten von Gesprächen und Bildern, die er erlebt und gesehen hatte. Für einen Moment verspürte er fast Zorn auf Del, daß er ihn geweckt hatte.

»Nicht lange«, antwortete Del. »Nur wenige Minuten. Aber ich dachte mir, daß du den Schlaf brauchst. Du hast sowenig Ruhe wie ich bekommen, und wir haben einen anstrengenden Tag vor uns.« Plötzlich grinste er wieder. »So ist das, wenn man alt wird, Meister«, spöttelte er. »Ein Nickerchen hier und da...«

Skar blieb ernst. Mühsam stemmte er sich hoch, wollte nach seinen Decken greifen und merkte erst jetzt, daß Del sein Bündel bereits geschnürt und nur den dicken Wollmantel offen liegengelassen hatte. Er nickte, stumm und dankbar, legte sich das Kleidungsstück über die Schultern und sah sich um. Del hatte ihn wirklich bis zum letzten möglichen Augenblick ruhen lassen: Die Männer waren abmarschbereit, die Fackeln bis auf eine letzte, die so weit heruntergebrannt war, daß sich ein Mitnehmen nicht mehr lohnte, gelöscht. Er drehte sich zu Gowenna um. Sie war wach und hatte sich an der Wand aufgesetzt. Ihr Atem ging schnell und so hart, daß er das Heben und Senken ihrer Brust selbst durch die beiden Mäntel hindurch sehen konnte, die sie - oder Del - übergestreift hatte. Ihr Gesicht war fast vollständig unter einer tief in die Stirn gezogenen Kapuze verborgen; nur die Augen und ein Teil von Wangen und Stirn waren überhaupt sichtbar. Es wirkte seltsam bleich, blutleer und weiß wie der Schnee draußen vor der Höhle. Hätten ihre Mundwinkel nicht von Zeit zu Zeit gezuckt, hätte er sie für tot gehalten.

»Ich werde sie tragen«, erklärte Del.

Skar runzelte die Stirn. Er wußte, wie unglaublich stark Del war, aber sie hatten Strapazen hinter - und vielleicht noch vor - sich, die jeder Beschreibung spotteten. »Bist du sicher, daß du es schaffst?« fragte er. »Die Männer werden dir nicht helfen können. Und ich auch nicht«, fügte er nach einer merklichen Pause hinzu.

Del nickte. »Ich weiß«, sagte er gleichmütig. »Aber es geht schon. Sie ist nicht viel schwerer als Vela.«

»Das ist nicht nötig, Del. Ich kann gehen.«

Skar drehte sich überrascht um. Del hatte leise gesprochen, und nach dem leeren Blick ihrer Augen hatte er nicht geglaubt, daß Gowenna wirklich etwas von ihrer Umgebung wahrnahm. Aber sie war wach, und der Schmerz in ihrem Blick war nicht von der Art, wie man ihm im Schlaf oder im Koma begegnet. Zögernd ließ er sich vor ihr in die Hocke nieder, sah ihr einen Moment durchdringend in die Augen und wiegte den Kopf.

»Du bist also wach«, stellte er fest. »Hast du Schmerzen?«

Sie nickte. »Ja. Aber es ist... nicht schlimm.« Ihre Stimme klang brüchig. »Ich werde gehen können. Del wird seine Kraft noch dringend brauchen. Und du auch, Skar.«

Skar wollte sie fragen, wozu, aber er wußte, daß sie ihm nicht antworten würde. Ihre Stimme klang schleppend; es mußte ihr Mühe bereiten, überhaupt zu reden, und er kannte Gowenna gut genug, um zu wissen, daß sie diese offensichtliche Schwäche ausnutzen würde, um nicht auf seine Fragen antworten zu müssen.

»Sie hat recht, Skar«, bestätigte Del leise. »Was mir viel mehr Sorgen bereitet, ist dieser Verrückte dort draußen. Er wird uns auflauern, das ist dir doch klar.«

Skar sah unwillkürlich auf Helth' Lager hinab. Del hatte auch die Sachen des Veden zusammengesucht und zu einem Bündel verschnürt. Die Kleider lagen ein Stück abseits und waren mit Öl getränkt; Del würde sie verbrennen, ehe er die Höhle verließ. Schild, Schwert und Bogen lagen griffbereit daneben. Sie würden mitnehmen, was sie nicht zerstören konnten. - Natürlich. Sie durften es sich nicht leisten, irgend etwas zurückzulassen, was Helth von Nutzen sein konnte.

Irgendwie - so absurd es klang - fühlte sich Skar beinahe erleichtert. Der Vede war sicher ein gefährlicher Gegner, und weder Del noch er rechneten wirklich damit, daß er einfach aufgeben und sich irgendwo draußen in den Schnee legen würde, um zu sterben. Aber er war ein Gegner, den sie fassen konnten. Ein Mensch.

Sie brachen auf. Skar war der erste, der auf Händen und Knien durch den niedrigen Stollen ins Freie kroch; vorsichtig und immer wieder anhaltend, um zu lauschen und das Spiel von Licht und Schatten auf dem Schnee draußen zu beobachten. Er glaubte nicht wirklich daran, daß Helth ihnen unmittelbar dort draußen vor der Höhle auflauern würde; er mußte damit rechnen, daß zumindest einer von ihnen den Berg durch die rückwärtige Öffnung verließ und ihm in den Rücken fiel. Aber Helth war verrückt und somit unberechenbar.

Der Sturm empfing ihn mit triumphierendem Gebrüll, als er aus dem Berg kroch und sich aufrichtete, die rechte Hand am Schwert. Obwohl es mittlerweile heller Tag war, herrschte hier, zwischen den lotrecht aufragenden Wänden der Schlucht, noch immer unsicheres Dämmerlicht. Ihr jenseitiges Ende erschien ihm wesentlich weiter entfernt als zuvor, und für die Dauer eines Atemzuges hatte er die bedrückende Vorstellung, die Wände könnten wie die Kiefer eines gigantischen steinernen Ungeheuers zusammenklappen und ihn und alle anderen einfach zerquetschen.

Er kämpfte den Gedanken nieder und trat hastig beiseite, um den Ausgang freizugeben. Die Männer schlüpften einer nach dem anderen ins Freie; Del, der das Kunststück fertigbrachte, Gowenna zu stützen, ohne sie dabei wie einen leblosen Sack über den felsigen Boden zerren zu müssen, als letzter. Skar half ihm, aufzustehen und Gowenna auf die Füße zu stellen. Ihr Blick ging durch ihn hindurch ins Leere, so wie zuvor, und als Skar die Hand über ihr Gesicht hob und vor ihren Augen hin und her bewegte, reagierte sie erst nach Sekunden und sehr langsam. Del hatte recht, überlegte Skar bedrückt. Es konnte nicht der Hieb allein sein, der für ihren Zustand verantwortlich war.

Obwohl sie sich beeilten, verging noch fast eine halbe Stunde, ehe die Schlucht wirklich hinter ihnen lag. Wie am Tage zuvor gingen sie im Gänsemarsch, aber dichter aufgeschlossen, ein Mann im Windschatten des vorderen. Es nutzte nicht viel, weder gegen die Kälte noch gegen den Wind, aber vielleicht half den Männern wenigstens die Nähe der anderen.

Zwei Stunden marschierten sie nach Westen, ehe Skar eine Möglichkeit fand, die Felsenkette zu überschreiten. Er hatte absichtlich darauf verzichtet, die Männer die Höhle durch den rückwärtigen Ausgang verlassen zu lassen. Die Eisstufen waren vor seinen Augen zerfallen; es wäre zu gefährlich gewesen, sie an der lotrechten Felswand abzuseilen. Aber je weiter sie nach Westen vordrangen, desto mehr Zweifel überkamen ihn, ob es wirklich richtig gewesen war, auf eine andere Möglichkeit zu warten. Gestern abend, im letzten Licht des Tages, hatten die Felsen grau und zerrissen ausgesehen, die Dämmerung hatte ihre Konturen verwischt und ihn wenig mehr als Schatten erkennen lassen. Jetzt sah er, daß sie noch wilder und unübersteigbarer waren, als er befürchtet hatte. Die Felsen stiegen die letzten zwanzig, fünfundzwanzig Fuß nahezu senkrecht in die Höhe, und das Eis überzog jeden Vorsprung, jede Kante und jeden Riß, in denen ihre Hände und Füße hätten Halt finden können, mit einem milchigen, spiegelglatten Panzer. Sie mußten sich annähernd fünf Meilen am Fuße der Felskette nach Westen weiterquälen, ehe sie endlich eine Möglichkeit fanden, sie zu übersteigen.

Es war Del, der die V-förmige Spalte in der grauen Wand entdeckte. Er sagte kein Wort, sondern deutete nur mit einer stummen Kopfbewegung nach vorne. Obwohl er Gowenna die ganze Zeit gestützt hatte, ohne ein einziges Mal stehen zu bleiben oder auch nur ihr Gewicht zu verlagern, hatte er beinahe mühelos mit Skar Schritt gehalten, und der Ausdruck der Erschöpfung auf seinen Zügen war dem einer grimmigen Entschlossenheit gewichen. Skar ließ sich davon nicht täuschen : Er kannte Del gut genug, um zu wissen, daß auch er jetzt an den Grenzen seiner Kräfte angelangt war.

»Laß die Männer für einen Moment rasten«, sagte er. Del sah überrascht auf, und Skar fügte hastig hinzu: »Nur einen Moment, nicht länger. Es ist besser, wenn wir allein vorausgehen. Es wäre nicht sehr sinnvoll, dort hinaufzuklettern, nur um vor einem Abgrund zu stehen, nicht?«

»Warte einen Moment.« Del sah sich suchend um, erblickte eine halbwegs windgeschützte Stelle zwischen den Felsen und wollte Gowenna dorthin führen, aber Skar hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück.

»Nein«, sagte er. »Sie kommt mit.«

Del schien für einen Moment sprachlos vor Verblüffung zu sein. Sein Blick bohrte sich in den Skars, huschte dann die steil ansteigende, vereiste Schneefläche vor der Bresche hinauf und richtete sich wieder auf Skar. »Bist du verrückt geworden? Sie -«

»Ich habe meine Gründe.« Skar schnitt ihm wütend das Wort ab und faßte nach Gowennas Oberarm. Sie strauchelte unter dem groben Zugriff, mit dem er sie zu sich heranzog und herumdrehte, protestierte aber mit keinem Laut. Del preßte verärgert die Lippen zusammen. »Wie du meinst«, entgegnete er zornig. »Von mir aus kannst du sie hinauftragen, wenn es dir Spaß macht.« Er fuhr herum, ließ Skar ohne ein weiteres Wort stehen und eilte voraus, hielt jedoch nach ein paar Schritten wieder inne und blickte ihn mit einer Mischung aus Ärger und Ungeduld über die Schulter an.

»Komm«, sagte Skar leise. Gowenna setzte sich gehorsam in Bewegung, kam jedoch schon beim ersten Schritt ins Stolpern, so daß Skar sie stützen mußte wie zuvor Del.

Dels Zorn war bereits verflogen, als sie ihn einholten, und in seinem Blick war jetzt nur noch Verwirrung. Sie wußten beide, warum Skar darauf bestandenen hatte, als erste über den Grat zu steigen. Die Felsen waren rechts und links des Einschnittes zerklüfteter und unübersichtlicher als anderenorts; es gab Verstecke genug, um eine kleine Armee zu verbergen. Um so mehr mußte es ihn verwundert haben, daß Skar so großen Wert darauf legte, Gowenna mitzunehmen.

»Wenn er wirklich dort oben wartet, ist er ein Idiot«, knurrte Del, während sie nebeneinander den verharschten Hang hinaufstiegen. Sein Blick streifte Gowenna, und die Unsicherheit auf seinen Zügen wuchs. Skar sah starr an ihm vorbei. »Aber es kann genausogut sein, daß er darauf hofft, daß wir so denken.« Er legte die Hand auf den Schwertgriff, zog die Waffe halb aus der Scheide und stieß sie mit einem ärgerlichen Schnauben wieder zurück, als die dünne Eisdecke unter seinem Gewicht einbrach und er bis zu den Kniekehlen in dem darunter verborgenen pulverfeinen Schnee versank. Skar wollte ihm aufhelfen und ließ Gowennas Arm los. Sie kam erneut ins Stolpern und fiel auf die Knie. Skar drehte sich mitten in der Bewegung um, um sie aufzufangen, aber auch er versank beinahe augenblicklich im Schnee; Schnee, der so fein und trocken war, daß er wie Sand in seine zugebundenen Stiefelschäfte rieselte und ihn vor Kälte aufstöhnen ließ. Del grinste, beugte sich vor, angelte nach einer Felszacke und zog sich ächzend weiter daran nach oben. Skar und Gowenna - mehr von Skar geschoben und von Del gezogen als aus eigener Kraft - folgten ihm auf die gleiche Weise. Es war absurd, aber er mußte in diesem Augenblick daran denken, daß Del und er für die Männer unter ihnen zwei ziemlich lächerliche Figuren abgeben mußten, wie sie sich Hand über Hand und mehr kriechend als gehend weiter nach oben arbeiteten. Der Weg wurde schwieriger. Unter dem Eis, das wie eine steil ansteigende weiße Straße zum Felsdurchbruch hinaufführte, war jetzt nicht mehr Schnee, sondern scharfkantiger Stein, so daß sie von diesem nur scheinbar leichten Weg abwichen und kurzerhand den Fels rechts und links davon hinaufkletterten; eine Aufgabe, die allein durch Gowennas Gegenwart beinahe unlösbar wurde. Skar trug ihr Gewicht nahezu allein; Del half ihm nur da, wo es wirklich nicht anders ging, die übrige Zeit blieb er zwar in ihrer unmittelbaren Nähe, um im Notfall sofort zugreifen zu können, sah aber mit einem schadenfrohen Grinsen zu, wie Skar Gowenna über die zerklüfteten Steine zog und teilweise trug.

Skars vor Kälte taube Hände waren bald blutig und eingerissen, aber das spürte er kaum noch. Sein Blick suchte immer wieder die zerborstenen Felsen beiderseits des Durchbruches ab, aber das einzige, was er sah, war der Schnee, der vom Wind immer wieder hochgewirbelt wurde.

Die letzten Meter waren wieder leichter. Das Eis war hier oben fest und trug ihr Gewicht, und Del und er konnten nebeneinander gehen. Skar widerstand der Versuchung, seine Waffe zu ziehen. Aber seine Schritte wurden langsamer, je weiter sie sich dem Punkt näherten, an dem sie die andere Seite der Ebene zu sehen hofften.

Der Anblick traf Del wie eine Ohrfeige. Er blieb stehen, so abrupt, als hätte ihn eine unsichtbare Hand mitten in der Bewegung zurückgerissen, starrte aus ungläubig aufgerissenen Augen auf die endlose weiße Fläche unter sich hinab und suchte vergeblich nach Worten. Gowenna reagierte anders - so, wie er erwartet hatte. Ein rasches Aufblitzen von Erkennen huschte über ihre Züge, gemischt mit Furcht.

»Das ist es, wohin Vela wollte«, sagte Skar. »Nicht wahr?«

Obwohl der Anblick für ihn nicht neu war wie für Del, lähmte ihn das bizarre Bild beinahe im gleichen Maße. Anders als am Morgen löste es jetzt Furcht in ihm aus. Irgend etwas war anders. Er konnte den Unterschied nicht in Worte fassen, aber er spürte ihn. War die Ebene am Morgen nur fremd gewesen, so wehte ihnen jetzt etwas Feindseliges, Böses entgegen, ein Hauch wie jener, den er an Bord des Dronte verspürt hatte, aber direkter, drohender.

»Skar - was ist das?« murmelte Del. Sein Blick hing noch immer wie gebannt an den blitzenden Konturen dieses gigantischen weißen Labyrinthes, das ein verspielter Gott über die Welt verstreut zu haben schien.

Skar zuckte mit den Achseln und sah Gowenna an. »Frag sie«, knurrte er halblaut. »Ich weiß es so wenig wie du. Ich weiß nur, daß wir hindurch müssen. Oder?« Gowenna antwortete nicht, sondern tat weiter so, als registriere sie gar nicht, was um sie herum vorging. Der Sturm zerrte an ihren Kleidern. Sie wankte, und Skar konnte sehen, wie sich ihre Hände unter dem Mantel nervös bewegten.

»Müssen wir das wirklich?« Del riß sich los und starrte Gowenna an. »Und dann?« fuhr er fort. »Was dann, Gowenna?« In seiner Stimme war plötzlich ein gereizter, aggressiver Unterton. »Was ist das, dort unten? Und was erwartet uns dort?«

Gowenna sah auf. Ihr Gesicht zuckte. Eine Sekunde lang hielt Del ihrem Blick stand, dann trat er plötzlich auf sie zu, packte sie bei den Schultern und schüttelte sie so heftig, daß Skar ihn instinktiv zurückriß. Gowenna wankte, griff haltsuchend nach einem Felsen und fand im letzten Moment ihr Gleichgewicht wieder.

Wütend schlug Del Skars Hand beiseite und trat abermals auf Gowenna zu. »Ich habe dich etwas gefragt«, sagte er drohend. »Also?« Gowenna schluckte. Ihr Blick suchte den Skars und wurde flehend. Skar sah weg.

»Skar hat... hat recht«, brachte sie stockend hervor. »Das dort unten ist Velas Ziel. Der Ort, an den sie... gerufen wurde. Das weiße Labyrinth.«

»Dafür, daß du nichts weißt, weißt du eine Menge«, knurrte Del. »Aber das beantwortet meine Frage nicht, Gowenna - was ist das?« Er ergriff sie abermals bei den Schultern, schüttelte sie aber diesmal nicht, sondern begnügte sich damit, sie grob herumzudrehen und festzuhalten, so daß sie auf die glitzernde weiße Einöde hinuntersehen mußte. »Und Helth?« fragte er. »Was ist mit ihm? Wird er dort unten auf uns warten - oder vielleicht deine Eisfreunde oder der Dronte?«

»Laß mich los«, bat Gowenna. »Du tust mir weh.«

Zu Skars Überraschung ließ Del sie wirklich los, ergriff sie jedoch gleich darauf wieder am Arm und drehte sie abermals herum. Gowennas Gesicht zuckte vor Schmerzen, und für einen ganz kurzen Moment stieg Zorn in Skar auf. Aber er zwang sich dazu, ruhig dabeizustehen und zuzuhören.

Gowenna begann sich unter Dels Griff zu winden. »Ich weiß nichts von Helth«, keuchte sie. »Ich... Skar - hilf mir, bitte!«

Skar seufzte, trat neben Del und drückte dessen Hand mit sanfter Gewalt herunter. Del fauchte wütend, ließ es aber trotzdem geschehen. Seine Lippen bebten vor Wut. »Gowenna, bitte«, wandte Skar sich ihr zu. Seine Stimme klang flach und dünn; er hätte Zorn verspüren müssen oder wenigstens Ärger. Aber er fühlte nichts. Nur Kälte. »Ich habe nicht mehr die Kraft, auch noch gegen dich zu kämpfen. Sage uns, was du weißt und warum wir überhaupt hier sind. Und wenn schon nicht unsertwegen, dann« - er deutete mit einer Kopfbewegung nach hinten, wo die Männer der SHAROKAAN standen und die für sie stumme Szene mit ausdruckslosen Gesichtern verfolgten - »um ihretwillen. Oder bedeuten dir diese vierunddreißig Menschenleben gar nichts mehr?«

Gowenna starrte ihn an. Der Ausdruck in ihrem Blick sollte Trotz sein, aber er war es nicht. Sie zitterte. »Du verstehst nichts«, murmelte sie.

»Dann hilf ihm«, sagte Del wütend. »Ich bin sicher, er wird dich verstehen, wenn du endlich die Wahrheit sagst.«

»Sei still«, gebot Skar rasch. Zu Gowenna gewandt, fuhr er fort: »Du wußtest, was uns erwartet, nicht? Du wußtest vom Dronte, und du wußtest von diesem... diesem Etwas da unten. Was hat das alles zu bedeuten? Wo ist Vela?«

»Ich weiß es nicht«, murmelte Gowenna. Diesmal klang es ehrlich. »Du lügst«, behauptete Del. »Du hast im Fieber gesprochen, Gowenna. Entweder lügst du jetzt, oder du hast heute morgen gelogen. Aber ich habe noch nie von einem Fall gehört, in dem ein Mensch im Fieber die Unwahrheit gesagt hätte.«

Es dauerte lange, bis Gowenna antwortete. Als sie es tat, sah sie Skar an, nicht Del. »Vela ist völlig unwichtig«, erklärte sie. »Du hattest recht, als du gesagt hast, sie hätte nicht mehr die Kraft, noch einmal zu kämpfen. Ich... ich glaube, sie wird sterben, Skar.«

»Und warum sind wir dann hier?« wollte Del wissen. Skar warf ihm einen raschen, warnenden Blick zu, den Del wütend erwiderte. Aber wenigstens hielt er den Mund.

»Es ist wegen...« Wieder brach sie ab und blickte an Skar vorbei. Ihre Mundwinkel zuckten. »Wegen des Kindes«, stieß sie schließlich hervor. »Die Gefahr ist das Kind, nicht Vela.«

»Das Kind?« ächzte Del. »Welche Gefahr soll von einem ungeborenen Kind ausgehen?«

»Keine«, antwortete Gowenna. Ihre Lippen bewegten sich kaum beim Sprechen. »Aber wenn es geboren ist, wird es schlimmer und tödlicher sein, als Vela jemals hätte werden können. Es wird ein Kind des Schreckens sein, Skar, ein Werkzeug des Bösen, gegen das alle Dämonen, die Vela heraufbeschworen hat, zu einem Nichts verblassen.« Skar hatte plötzlich das Bedürfnis zu lachen, schrill, laut und hysterisch zu lachen. Aber er brachte keinen Laut hervor. Gowenna hatte nur ausgesprochen, was er schon lange Zeit insgeheim wußte. Dieses Kind war sein Erbe. Der Erbe des Dinges, das in ihm schlummerte. »Das da unten«, fuhr Gowenna nach einer Weile fort, und er hörte ihre Stimme nur dünn, wie durch einen unsichtbaren, dämpfenden Schleier hindurch, »ist Cor-ty-cor, die Festung der Sternengeborenen. Ihr wart in Combat, und ihr habt gesehen, mit welchen Waffen sie gegen die Alten gekämpft haben. Feuer. Es war das Feuer der Sterne, Skar, das sie aus ihrer Heimat mitgebracht und gegen die Menschen geschleudert haben, und die Alten wehrten sich mit Eis und Kälte.« Feuer und Eis, dachte Skar. Wo hatte er diese Worte schon einmal gehört? Tantor. Es war Tantor, der Zwerg, gewesen, der sie benutzte, immer und immer wieder, aber er hatte ihnen keine Bedeutung zugemessen. Plötzlich fiel ihm ein, wie wenig er im Grunde noch immer über ihn wußte. Seinen Namen, nicht mehr. Er war sicher, daß Tantor ihnen mehr hätte sagen können. Aber Tantor war tot.

»Festung«, murmelte Del fassungslos. »Das...«

»Was du siehst«, unterbrach ihn Gowenna, »sind ihre Ruinen. Sie war aus Eis und Dunkelheit gebaut, und sie versank in Eis und Schweigen, als alles vorbei war. Sie ist tot, Del. Und ihre Bewohner schlafen.« Del wollte erneut auffahren, aber diesmal brachte Skar ihn sofort zum Schweigen. Es war das zweite Mal, daß Gowenna ein Wort benutzte, das nicht paßte, und er war sicher, daß es kein Zufall war. »Was bedeutet das?« fragte er: »Schlafen?«

»Das, was es bedeutet«, antwortete Gowenna ausweichend. »Sie schlafen nur, Skar. Sie sind nicht tot, sowenig wie die Hornkrieger Tuans. Keine Macht dieser Welt wäre stark genug, sie zu töten, denn sie sind der Tod.«

Skar widersprach nicht. Gowennas Worte hörten sich ebenso auswendig gelernt wie lächerlich an, aber er hatte den Dronte gesehen, hatte seinen Atem gespürt und im gleichen Moment gewußt, daß keine Macht des Universums dieses Wesen wirklich vernichten konnte. Vielleicht nicht einmal die Götter selbst. »Und Vela hat sie geweckt«, flüsterte er.

Gowenna verneinte. »Diese Macht hatte sie nicht«, sagte sie ernst. »Hätte sie es getan, Skar, dann wären wir alle nicht mehr am Leben. Die Großen Alten haben ein Jahrtausend gegen sie gekämpft, und nicht einmal sie konnten sie besiegen. Sie haben sie in Schlaf versetzt, einen Schlaf, der bis ans Ende der Zeiten dauern sollte. Der Dronte und die Heerscharen Tuans sind nur niedere Wesen, Diener derer, die Cor-ty-cor erschufen und Krieg gegen die Menschen führten, Skar. Einige von ihnen leben noch, so wie der Dronte und andere. Aber sie sind es nicht, vor denen ich mich fürchte. Es ist das Kind, Skar. Hast du vergessen, was Vela dir erzählt hat?«

O nein, das hatte er nicht. Ihre Worte klangen so deutlich in ihm nach, als stünde sie unsichtbar neben ihm und wiederholte sie immer und immer wieder: Ein paar von ihnen überlebten. Nur wenige - vielleicht fünfzig, verteilt über den ganzen Planeten. Sie vergaßen ihr Erbe und ihre Herkunft, aber sie lebten weiter.

In ihm.

Und in seinem Kind...

»Was wird geschehen, wenn... wenn es geboren wird?« fragte er mühsam.

»Das weiß ich nicht, Skar«, erwiderte Gowenna. »Niemand weiß das. Vielleicht nichts -« Sie lachte, leise und bitter. »Eine Zeitlang haben wir uns an die Hoffnung geklammert, es wäre so. Das Kind könnte geboren werden und ganz normal aufwachsen, so wie du. Aber es wird anders kommen, Skar. Wir... waren im Zweifel, und was geschehen ist, beweist mir, daß unsere Sorgen berechtigt waren. Vela hat die Sternengeborenen nicht wecken können, aber sie hat etwas geweckt, und dieses Etwas hat Gewalt über sie erlangt, lange bevor du sie in Tuan getroffen hast. Es war alles geplant, Skar: das Kind, deine Flucht, ich glaube, sogar ihre Niederlage. Sie war nichts als ein Werkzeug, das geopfert werden konnte.«

»Und dieses Kind...«, begann Skar halblaut, schüttelte den Kopf und blickte mit neu erwachendem Schrecken auf die bizarre Eislandschaft zu seinen Füßen herab. Cor-ty-cor, dachte er. Combat. Urcôun. Tuan. Der Dronte. Seine Gedanken begannen einen wilden Tanz aufzuführen. War denn diese ganze Welt ein Irrenhaus?

»...könnte die Macht haben, sie zu erwecken«, vollendete Gowenna, als Skar nicht weitersprach. »Es darf nie geboren werden. Nicht hier.«

»Einen Moment«, unterbrach sie Del mit einem ebenso wütenden wie verwirrten Seitenblick auf Skar. »Auch wenn ich nur die Hälfte von dem verstehe, was ihr beide da redet - aber wenn dieses Kind so gefährlich ist, warum habt ihr es ihr dann nicht genommen ? Die Errish haben die Möglichkeit -«

»Es hätte gegen unseren Glauben verstoßen, Del«, sagte Gowenna ernst. »Dieses Kind kann nichts dafür, daß man es mißbraucht, und das Leben ist uns heilig, auch das ungeborene.«

»Aber das ist doch -«

»Und es hätte nichts genutzt«, fuhr Gowenna ungerührt fort. »Die Macht ist schon in ihm - welche Macht es auch immer sein mag, Del. Selbst wenn wir Vela jetzt wiederfinden, könnten wir die Entwicklung nicht mehr aufhalten. Es würde nichts nutzen, das Kind zu töten. Was immer sie geweckt hat, Del, ist in ihm. Tötest du es, wäre es frei.«

»Aber dann -«

Gowenna unterbrach ihn erneut. »Deshalb wollten wir, daß Vela ihr Kind im Berg der Götter bekommt, Del. Wir können es nicht töten. Wir können nur dafür sorgen, daß die Macht, die es einmal haben wird, in den richtigen Händen liegt.« Sie lächelte. »Du solltest wissen, worüber ich rede, Satai. Lenke eine Kraft um, wenn du sie nicht brechen kannst.«

Dels Miene verfinsterte sich, aber Gowenna sprach weiter, ehe er Gelegenheit zu einer Entgegnung hatte. »Das ist doch einer der drei Grundsätze eurer Philosophie, nicht? Der Schaden, den sie angerichtet hat, ist nicht rückgängig zu machen. Sie wollte dieses Kind als Waffe, und es wird geboren werden. Aber diese Waffe kann sich genausogut gegen die richten, die sie erschaffen haben.«

»Und wenn es hier geboren wird?«

Gowenna schwieg, aber es war ein Schweigen, das seine eigene Sprache sprach.

»Was ist, wenn es hier geboren wird?« fragte Skar noch einmal. »Was wird dann geschehen?«

Gowenna senkte den Blick. »Noch vor zwei Tagen hätte ich mir einzureden versucht, daß wir dann noch eine Chance hätten«, antwortete sie, sehr leise und in einem Tonfall, der Skar frösteln ließ. »Aber jetzt...« Sie schüttelte den Kopf, trat einen Schritt zur Seite und lehnte sich mit der Schulter gegen den eisglitzernden Felsen. »Ihr habt den Dronte erlebt. Die Wesen, die erwachen könnten, werden tausendmal schlimmer sein.«

»Aber das ist doch geradezu hirnrissig!« warf Del ein. »Bei allen Göttern, Gowenna - wenn du all das gewußt hast, was hattest du dann vor? Warum hast du uns durch diese Hölle marschieren lassen? Um uns das da. zu zeigen?«

Gowenna blickte traurig hinunter auf die glitzernden Ruinen von Cor-ty-cor, auf die Dels ausgestreckter Arm wies. »Nein«, sagte sie. »Aber was sollten wir denn tun? Auf dem Wrack der SHAROKAAN bleiben und warten, bis einer nach dem anderen gestorben wäre?«

»Und was willst du hier tun?«

»Ich weiß es nicht. Ich... ich hatte gehofft, den Hafen zu finden, von dem die alten Lieder berichten. Cor-ty-cor liegt am Meer, und in einem Hafen gibt es Schiffe.«

»Schiffe!« keuchte Del. »Eine ganze Flotte kleiner Dronte-Kinder, wie? Und du hättest eines von ihnen an die Leine genommen, und -«

»Del, bitte.« Skar seufzte hörbar. Gowenna hatte recht - wo es einen Hafen gab, konnte es Schiffe geben, und sie waren verzweifelt genug, um nach einem Strohhalm greifen zu müssen. Draußen am See wäre ihnen der Tod gewiß gewesen.

»Außerdem sehe ich keinen Hafen«, murrte Del.

»Er ist da, und es ist nicht einmal mehr sehr weit«, antwortete Gowenna ruhig. »Er liegt unter der Erde, Del, so wie fast alles, was die Sternengeborenen erbaut haben. Wir könnten ihn in wenigen Stunden erreichen.«

Del zog eine Grimasse. »Aber das wäre zu einfach, wie?«

»Wir müssen Vela finden. Es kann sein, daß es nichts mehr gibt, wohin wir uns wenden könnten, wenn wir ein Schiff nehmen und davonsegeln würden.« Sie sprach ernst, und diesmal schien selbst Del zu spüren, daß sie von ihren Worten überzeugt war. Er erwiderte nichts mehr. »Wieviel Zeit ist noch«, fragte Skar, »bis das Kind geboren wird?«

»Ein paar Wochen - unter normalen Umständen. Aber ich fürchte, es wird eher kommen.«

»Und selbst wenn nicht, könnten wir keine paar Wochen nach ihr suchen«, murmelte Del. Er sah wieder auf die schimmernde Stadt aus Eis herab und ballte in ohnmächtigem Zorn die Fäuste. »Da unten kann sich eine Armee verstecken - und du willst einen einzelnen Menschen finden?« Er lachte böse. »Die Männer werden nicht mehr aufstehen, wenn sie sich noch einmal zum Schlafen niederlegen. Das heißt, wir müssen sie heute finden. In wenigen Stunden, Gowenna. Und du weißt, daß das unmöglich ist.«

»Ich werde wissen, wenn wir uns ihr nähern«, behauptete Gowenna. »Und Skar auch.«

Del sah überrascht auf. »Du -«

»Nicht Vela - aber dem Kind.« Gowennas Stimme hatte plötzlich etwas Beschwörendes, aber als er sie ansah, war in ihrem Gesicht nur Müdigkeit, und er begriff, daß er selbst es war, die Furcht in ihm, die ihren Worten den Klang eines unseligen bösen Omens verlieh. »Ist das wahr?« fragte Del.

Skar lächelte und widerstand im letzten Moment der Versuchung, sich umzudrehen, damit Del die Unsicherheit auf seinen Zügen nicht mehr sehen konnte. »Natürlich«, sagte er in übertrieben erheitertem Tonfall. »Hast du noch nie etwas von Vatergefühlen gehört?«

Del blieb ernst. »Doch«, sagte er. »das habe ich. Aber ich habe allmählich die Nase voll davon, auf klare Fragen nur Rätsel zur Antwort zu bekommen, Skar.« Er schwieg einen Moment, trat dann zwischen sie, als wäre er in der Arena und darum bemüht, den Blickkontakt zwischen zwei Kämpfern zu unterbrechen, und starrte Skar an. »Auf welcher Seite stehst du eigentlich?«

Skar drehte sich um. Er konnte spüren, daß die Kluft zwischen ihnen wieder da war, tiefer und unüberbrückbarer als zuvor. Sie war niemals geschlossen gewesen. Die scheinbare Gefahr hatte sie für ein paar kurze flüchtige Momente zusammengeschweißt, aber es war nichts als Gewohnheit gewesen, vielleicht nicht einmal mehr als ein Reflex. Del war und blieb der Fremde, den er seit dem ersten Tag ihrer Reise in ihm gesehen hatte. Mit einem Male ertrug er es nicht einmal mehr, ihm in die Augen zu sehen. »Ich wollte, ich wüßte es«, flüsterte er. »Auch eine Art, nicht zu antworten«, bemerkte Del böse. Aber der Zornesausbruch, mit dem Skar gerechnet hatte, blieb aus. Vielleicht hatte auch er nicht mehr die Kraft dazu.

»Wir müssen weiter«, entschied Skar. Angesichts der gewaltigen weißen Einöde unter ihm kamen ihm seine eigenen Worte beinahe wie böser Hohn vor. »Wie weit ist es bis zu diesem Hafen, Gowenna?«

»Fünf Meilen, vielleicht sechs.« Gowenna hob die Hand und wies nach Nordwesten. Skar versuchte, in der angegebenen Richtung etwas zu erkennen, aber obwohl die Luft über dem weißen Labyrinth klar wie Kristall war, vermochte er nicht weiter als zwei, allerhöchstens drei Meilen zu sehen. Alles, was dahinter lag, verschmolz mit den bizarren Formen Cor-ty-cors. Es war ein Anblick, der durchaus geeignet war, den Geist eines Menschen zu verwirren, sah man zu lange hin.

»Du erwartest doch nicht im Ernst, daß ich auch nur einen Fuß in dieses... dieses Ding setze«, fuhr Del auf. »Eine perfektere Falle ist mir noch nie begegnet. Helth kann uns da unten einen nach dem anderen erledigen, ganz wie es ihm gefällt.«

Skar schüttelte heftig den Kopf. »Glaubst du ernstlich, daß er allein und praktisch ohne Waffen in dieser Hölle überleben und einen Privatkrieg gegen uns führen kann?« fragte er. »Das ist doch lächerlich. Vermutlich ist er längst tot. Und wenn nicht, wird er in wenigen Stunden sterben.« Er deutete nach Süden. Der Himmel über dem Meer hatte sich schwefelgelb gefärbt. Das Meer war in grauem Dunst versunken, Horizont und Himmel miteinander verschmolzen. Die Luft roch durchdringend nach Schnee. »Ich fürchte, wir werden dort unten Unterschlupf suchen müssen, ob wir wollen oder nicht. Dort hinten zieht ein mächtiger Sturm auf.«

»Wie praktisch.« Del ballte die Faust und stieß die Luft durch die Nase aus. »Und genau im richtigen Moment, nicht wahr?«

»Jetzt werde bitte nicht albern«, versetzte Skar grob. »Für den Sturm können weder Gowenna noch Helth. Vielleicht hilft er uns sogar. Wir werden irgendwo Deckung finden, aber mit etwas Glück schafft er uns diesen Verrückten vom Hals.«

»Und wenn Vela nicht dort ist?« versteifte sich Del. »Sieh dir diesen Irrgarten doch an! Wer sagt dir, daß wir sie finden, wenn wir den Hafen erreichen - vorausgesetzt, er existiert überhaupt?«

»Er existiert«, behauptete Gowenna rasch. »Und wir werden sie dort treffen, Del. Sie ist so wie wir darauf angewiesen, Cor-ty-cor zu verlassen, wenn sie überleben will. Sie und das Kind.«

Skar wußte genau, daß Gowennas Worte nichts als ein verzweifelter Versuch waren, sich selbst zu belügen - und vielleicht Del zu beschwichtigen. Velas Leben spielte längst keine Rolle mehr, so wenig wie das des Kindes. Es genügte, wenn es geboren wurde und das Erbe, das es trug, denen übergab, die darauf warteten. Aber Del widersprach diesmal nicht mehr, und auch Skar schwieg.

»Hol die Männer herauf«, sagte er nach einer Weile. »Wir müssen eine passende Deckung finden, ehe der Sturm losbricht.«

Del grunzte irgend etwas, das er nicht verstand, fuhr auf dem Absatz herum und begann den Hang hinabzulaufen. Eis und Schnee behinderten ihn, noch mehr als während des Aufstieges, aber er war wütend genug, beides zu ignorieren und stürmte mit weit ausgreifenden Schritten zu den wartenden Freiseglern hinunter. Prompt kam er in dem lockeren Pulverschnee ins Rutschen, schlug lang hin und schlitterte ein gehöriges Stück talwärts, ehe er Halt fand und wieder auf die Füße kam.

Skar wartete, bis er ganz sicher war, daß sich Del außer Hörweite befand, ehe er sich wieder zu Gowenna umdrehte. »Du weißt, daß ich ihn belogen habe, nicht?« fragte er.

»Hast du das?« Gowenna wich seinem Blick aus.

»So wie du«, knurrte Skar verärgert. »Verdammt, Gowenna - ich beginne mich zu fragen, ob Del nicht recht hat und ich mir meine Verbündeten auf der falschen Seite suche. Del und ich waren einmal Freunde.«

»So wie wir.«

Die Worte stachen wie kleine dünne Messer in seine Brust. »Das war etwas anderes«, knurrte er. »Vielleicht erfüllt es dich mit Stolz, wenn ich dir sage, daß es vor dir noch niemandem gelungen ist, mich soweit zu bringen, Del zu belügen.«

»Aber das tust du doch gar nicht, Skar«, antwortete Gowenna leise. »Du belügst dich doch nur selbst.«

»Du -«

»Du scheinst mich für blind zu halten, Skar, oder dumm. Aber ich bin weder das eine noch das andere«, fuhr sie ungerührt fort. »Del ist nicht mehr der, den du gekannt hast, und du weißt es. Und du weißt auch, daß die Schuld daran nicht bei den Sumpfleuten oder Vela zu suchen ist. Er hat sich verändert, und du versuchst ihn mit Gewalt wieder zu dem zu machen, was er einmal war. So wie du in mir die Frau sehen willst, die ich nicht mehr bin. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es jemals war, Skar.«

»Lenk nicht ab.« Er wußte selbst nicht, wieso, aber Gowennas Worte taten weh. Sehr weh.

»Das tue ich nicht, Skar. Du wirfst uns vor, wir hätten uns verändert - und du? Was ist aus dem Mann geworden, der mit mir in Combat war? Der Elay gestürmt und Velas Macht gebrochen hat, ganz allein? Wo ist der Satai geblieben, der für die Gerechtigkeit gekämpft hat und -«

»Hör auf«, rief Skar. Seine Stimme zitterte. Gowenna gehorchte, aber sie starrte ihn weiter an, der Blick ihrer Augen - des rechten, sehenden und des linken, erloschenen - sprach weiter; Worte, die er nicht zum Verstummen bringen konnte.

»Was willst du tun, wenn du sie findest?« fragte er mühsam. »Ich will die Wahrheit wissen, Gowenna. Nicht wieder: Ich weiß es nicht. Vielleicht hat es dir Del geglaubt, aber ich nicht. Was wirst du mit ihr machen?«

»Das einzige, was zu tun bleibt«, antwortete Gowenna ernst, »falls wir sie finden, bevor das Kind geboren wird.«

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