Skar wußte nicht, wie viele Stufen sie in die Tiefe gestiegen waren. Er wußte nicht mehr, wie viele Rampen und Schächte sie hinabgegangen, über wie viele Hindernisse sie geklettert waren und wie viele Räume sie durchquert hatten. Die Zeit war bedeutungslos geworden, und nach einer Weile waren selbst die Schmerzen in seinen verkrampften Muskeln verblaßt und das Jagen seines Herzens zu einem mühsamen, schweren Schlagen geworden. Über ihnen mußte die Sonne untergegangen sein, aber so wie es hier unter dem Eis niemals richtig hell wurde, wurde es auch nicht dunkel. Die Wände verstrahlten ein unwirkliches, graues Licht, in dem ihre Bewegungen abgehackt und ruckhaft wirkten; schneller, als sie waren, und in dem man niemals wirklich sagen konnte, wie weit sich der Weg noch erstreckte, der vor ihnen lag. Die Gänge und Stollen schienen endlos, und jedesmal, wenn Skar glaubte, nun endlich die unterste Sohle dieses furchteinflößenden grauweißen Labyrinths erreicht zu haben, klaffte ein neuer Abgrund, ein neuer Treppenschacht, eine weitere vereiste Rampe vor ihnen auf, ging es tiefer hinab in die Erde und den eisigen Panzer, der Cor-ty-cor erstickt hatte.
Die Eiskrieger waren hinter ihnen zurückgeblieben, als sie den Eingang gefunden hatten, aber Skar wußte, daß sie weiter in ihrer Nähe waren, so wie sie sie die ganze Zeit wie unsichtbare stumme Schatten begleitet hatten, sie beobachteten, vielleicht belauerten und warteten. Auch die Stimme in seinem Inneren schwieg. Aber es war nicht wie die Male vorher, als sie eingeschlafen war und er sie für tot und besiegt gehalten hatte. Sie wartete wie die Eiskrieger, wie Helth und die Macht, die ihn lenkte, wie Yar-gan und die Krieger, wartete auf etwas, von dem sich Skar keine Vorstellung zu machen wagte und das ihn trotzdem erschreckte. Mehr als irgend etwas, das er je zuvor in seinem Leben gespürt hatte.
Sie waren noch dreiundzwanzig, als sie den Hafen erreichten. Die graue Dämmerung teilte sich vor ihnen und gab den Blick auf eine glatte, wie polierter Stahl schimmernde Wand frei, auf deren Oberfläche sich die Gestalten der Männer wie bizarre Doppelgänger spiegelten. Durch einen halbhohen, wie fast alles hier unten in Größe und Form nicht wirklich zu erkennenden Durchgang gewahrten sie eine sichelförmige, von einem Gewirr ineinander verwachsener, brusthoher Eiszähne begrenzte Plattform. Es fiel Skar schwer, durch den Nebel aus Erschöpfung vor seinen Augen noch Einzelheiten zu sehen, aber über, unter und hinter ihr glaubte er die Wände einer titanischen Höhle zu erkennen. Der sterile Geruch des Eises war dem scharfen Aroma von Salzwasser gewichen. Der Boden unter seinen Füßen zitterte schwach, und das dumpfe Pochen, das jeden ihrer Schritte begleitete und das seine Phantasie zum Schlagen eines schwarzen Riesenherzens hatte werden lassen, war das Geräusch der Brandung, die irgendwo jenseits der Wand gegen einen eisigen Strand rollte. Plötzlich fürchtete sich Skar davor, den nächsten Schritt zu tun und auf den Balkon auf der anderen Seite zu treten. Für einen kurzen Moment verspürte er eine irrsinnige Furcht, Angst, dort hinüber zu gehen und vielleicht nichts als eine weitere leere Katakombe zu entdecken, zu erkennen, daß dieser Hafen leer und tot wie der Rest Cor-ty-cors war, und sich eingestehen zu müssen, daß ihre letzte Hoffnung zerbrochen und alles, was sie noch erwarten konnten, ein hoffentlich rascher Tod war. Aber auch diese Furcht verging, versank in der Woge von Schwäche und Müdigkeit, die seine Gedanken einzunebeln begann. Als hätten sich jetzt selbst seine Instinkte gegen ihn gewandt, gab ihm der Anblick nicht noch einmal jenen verzweifelten Trost, den er mobilisieren sollte, sondern lähmte ihn. Er kam sich vor wie ein Verdurstender, der nach tagelangem Marsch durch die Wüste das rettende Wasserloch gefunden und nicht mehr die Kraft hatte, die letzten zwei Meter zu kriechen.
Er blieb stehen, atmete ein paarmal tief durch und hob die Hand, um auch die Männer zum Anhalten zu bewegen. Einige blieben stehen, andere sanken wortlos zu Boden oder gegen die Wände, ein paar marschierten auch einfach weiter, zu erschöpft, um das Zeichen zu sehen, oder zu kraftlos, um noch darauf zu reagieren. Eine der ausgemergelten Gestalten brach direkt vor Yar-gans Füßen zusammen, krümmte sich und rang mit einem schrecklichen, pfeifenden Laut nach Luft. Der Sumpfmann beugte sich zu ihm hinab und berührte seine Stirn; der Atem des Mannes beruhigte sich, und der erstarrte Ausdruck von Schmerz auf seinen Zügen wich dem einer tiefen Entspannung. Aber Skar wußte, daß die Hilfe, die Yar-gan den Männern spenden konnte, trügerisch und nur von kurzer Dauer war. Es traf zu, was er selbst gesagt hatte: Er konnte ein wenig täuschen und Dinge vorgaukeln, die nicht wirklich waren; nicht nur dem Geist, sondern auch dem Körper. Die Kraft, die er dem zu Tode Erschöpften gab, war seine eigene, Teil seiner letzten Reserven, die er mit dem verborgenen Wissen seiner Art zu wecken imstande war. Aber sie waren fast aufgebraucht. Selbst den Kräften des Sumpfmannes waren Grenzen gesetzt, und er hatte sie erreicht.
Skar lehnte sich erschöpft gegen die Wand, atmete erneut tief durch und versuchte vergeblich, noch so etwas wie Hoffnung in sich zu entdecken. Das Eis in seinem Rücken ließ ihn erschauern, und es war, als dränge die Kälte bis in seine Seele und lähme sie, so daß er nicht einmal mehr fähig war, Schmerz zu empfinden. Sieben der einunddreißig Männer, die mit ihnen den Abstieg in dieses unirdische Reich der Dämmerung und Kälte begonnen hatten, waren tot. Zu Tode gestürzt auf Stufen, die nicht für menschliche Füße gemacht waren, mit einem lautlosen Schrei in Abgründen verschwunden, die plötzlich vor ihnen aufklafften, oder einfach zusammengebrochen wie leere Hüllen, in denen das letzte bißchen Lebenskraft verbraucht war. Zwei weitere waren zurückgeblieben, noch nicht tot, aber zu schwach, um weiterzugehen. Auch sie würden sterben. Der Schlaf, der der Erschöpfung folgte, würde der letzte sein. Aber er fühlte keine Trauer mehr, nicht einmal Mitleid. Fast beneidete er die Toten.
Yar-gan sagte etwas, aber Skar verstand die Worte nicht mehr. Das Gesicht des Sumpfmannes verschwand immer wieder hinter Schleiern der Erschöpfung, und seine Worte zerbrachen zu Lauten und Silben, die sein Verstand nicht mehr zu deuten imstande war. Etwas Dunkles, Warmes und unglaublich Mächtiges begann Besitz von seinen Gedanken zu ergreifen. Sein Dunkler Bruder oder der Tod; vielleicht beides. Yar-gan packte ihn unsanft bei der Schulter und schüttelte ihn so brutal, daß Skars Kopf zurückflog und gegen das Eis prallte. Der Schmerz erschien ihm unwirklich, und die Dunkelheit hinter seiner Stirn wurde tiefer. Er schmeckte Blut. Yar-gan schüttelte ihn noch heftiger, riß ihn schließlich grob zu sich heran und preßte seine Hand auf Skars Augen. Die Berührung tat weh. Dünne, flammende Linien aus rotem Schmerz fraßen sich durch seine Lider und zuckten wie glühende Dolche in seinen Schädel; er versuchte, Yar-gans Hand abzustreifen, aber der Griff des Sumpfmannes war eisern und verstärkte sich eher noch. Skar stöhnte.
»Verdammt, Skar, reiß dich zusammen!«
Diesmal verstand er die Worte. Die Dunkelheit wich zurück, aber nicht weit genug, floh nicht, sondern sammelte nur Kraft für einen neuen Ansturm. Er bewegte sich, krallte die Hand in Yar-gans Mantel und versuchte, den Sumpfmann zurückzustoßen. Yar-gan knurrte wütend, schlug seine Hand zur Seite und versetzte ihm einen schallenden Schlag ins Gesicht. Skar taumelte gegen die Wand, rutschte kraftlos zu Boden und stöhnte erneut, als Yar-gan ihn grob auf die Füße riß und erneut ohrfeigte.
»Laß... mich«, murmelte er schwach.
»Ich denke nicht daran«, zischte der Sumpfmann. »Du wirst jetzt nicht aufgeben, Skar. Wir gehen weiter, und wenn ich dich dort hindurchprügeln muß!« Er drehte Skar wie eine willenlose Puppe herum, versetzte ihm einen Stoß in den Rücken, der ihn auf den Durchgang zutaumeln ließ, und fing ihn auf, als er zu stürzen drohte. Der Griff der Dunkelheit um Skars Gedanken lockerte sich, aber er fühlte sich noch immer wie in einem Traum, seine Umgebung erschien schemenhaft und unwirklich, er war nur müde. Er stolperte, fiel auf Hände und Knie und schluckte einen Schmerzenslaut hinunter. Die Welt vor seinen Augen begann sich rot zu färben.
Yar-gan kniete mit einem gemurmelten Fluch neben ihm nieder, riß ihn herum und legte die Hand - wie schon zuvor, aber weniger heftig, so daß die Berührung nur noch unangenehm und nicht mehr qualvoll war - auf seine Augen. Diesmal ließ es Skar geschehen, ohne sich zu wehren.
Einen Moment lang geschah nichts, dann fühlte er wieder eine Welle der Wärme und Entspannung in sich aufsteigen, beinahe so stark und mächtig wie die Woge der Dunkelheit zuvor, anders als sie, nicht lockend und tödlich.
Yar-gan blieb fast eine Minute neben ihm hocken, preßte Daumen und Mittelfinger auf seine geschlossenen Lider und murmelte in seiner Muttersprache vor sich hin, ehe er die Hand herunternahm. Skar atmete hörbar ein, versuchte vorsichtig die Augen aufzuschlagen und blinzelte ein paarmal. Er sah tanzende farbige Ringe und Kreise, aber es waren nur die Folgen des Druckes, den der Sumpfmann auf seine Augäpfel ausgeübt hatte, nicht mehr die Vorboten des Todes.
»Geht es wieder?«
Skar nickte. »Ja. Ich...« Er schüttelte den Kopf, schlug die Hände vor das Gesicht und betastete vorsichtig seine Wangenknochen. Yar-gans Griff war fest wie der einer stählernen Klaue gewesen. »Danke«, murmelte er. »Ich glaube, du hast mir gerade das Leben gerettet. Was hast du getan?«
»Dazu bin ich schließlich da«, sagte Yar-gan, ohne auf seine Frage einzugehen. »Kannst du aufstehen?«
Skar nickte, setzte sich gerade auf und sah zu dem gekrümmten Ausschnitt der Höhlendecke hinauf, der durch die Tür sichtbar wurde. Er spürte, wie neue Kraft in seine Glieder strömte, aber er wußte auch, daß dieses Gefühl trog. Es war geliehene Stärke, Kraft, die zu nutzen verboten und gefährlich war. Was er jetzt verbrauchte, war nicht die Kraft, die seine Beine und Arme bewegte und sein Herz schlagen ließ, sondern die Kräfte des Lebens selbst, die Energien, die die Flamme in seinem Inneren weiterbrennen ließen. Skar wußte, was geschehen würde, wenn er sich ihrer zu lange bediente. Er hatte es gesehen, hier, bei diesem Haufen Verdammter, die ihn und Yar-gan begleiteten, in Kämpfen und auf dem Marsch durch Nacht und Eis, unzählige Male: ein letztes Aufbäumen, jener kurze, beängstigende Ausbruch von Kraft und oft genug Raserei, der einen Mann manchmal zu unglaublichen Leistungen befähigen konnte. Und ihn tötete.
Yar-gan stand schweigend auf, trat gebückt durch den Durchgang und ging mit zwei, drei raschen Schritten auf die Barriere aus Eiszacken zu. Skar folgte ihm, langsamer und in großem Abstand. Sein Herz begann erneut schneller zu schlagen, als er neben den Sumpfmann trat und die Hände auf die natürlich gewachsene Balkonbrüstung legte. Er wußte nicht, was er erwartet hatte - eigentlich nichts, nicht nach allem, dem sie begegnet waren. Cor-ty-cor entzog sich seinen Erwartungen, war eine Welt, in der die Phantasie des Menschen nach einer Weile kapitulierte und es aufgab, sich ausmalen zu wollen, wie etwas Bestimmtes aussehen, sein würde. Trotzdem lähmte ihn der Anblick für Minuten. Aber es war diesmal nicht seine Fremdartigkeit, sondern gerade das Gefühl des Vertrauten, Bekannten, das das Bild in ihm weckte.
Der Balkon lag weniger als fünf Meter über dem Boden, und es war kein Balkon, nichts künstlich Geschaffenes, sondern einer von zahllosen Vorsprüngen und Erkern, die die Natur willkürlich über die Wände verstreut hatte, als sie diese zyklopische Höhle erschuf, nur nachträglich geglättet und mit einer Brüstung versehen. Die Höhle selbst war gigantisch - eine kuppelförmige Blase aus zernarbtem braungrauem Fels, deren Wände nicht einmal das geduldig vorrückende Eis vollkommen bedecken konnten. Ihr höchster Punkt mußte annähernd eine halbe Meile über ihren Köpfen liegen. Skar war verwirrt, aber auch erleichtert, auf eine schwer zu beschreibende Art. Wenn dies wirklich ein Teil der Stadt war, deren erstarrten Leichnam sie durchquert hatten, so einer, der von ihren Erbauern unverändert von der Natur übernommen und für ihre Zwecke nutzbar gemacht worden war. Obwohl die Kälte und der scharfe, durchdringende Geruch des Salzwassers wie kleine scharfe Messer in seine Kehle schnitten, hatte er plötzlich das Gefühl, zum ersten Mal seit Tagen wieder frei atmen zu können. Der die ganze Zeit auf seinen Gedanken und seiner Seele lastende Druck wurde schwächer.
»Was, glaubst du, ist das hier?« fragte Yar-gan. Skar verstand die Worte, obwohl er ihn nicht angesehen und der Sumpfmann mit Dels-menschlicher-Stimme geredet hatte. Der finstere Zauber Cor-ty-cors war hinter ihnen zurückgeblieben. »Jedenfalls kein Eis«, antwortete Skar mit einer Heiterkeit, die ihn selbst erstaunte. Er seufzte. »Ich habe schon angefangen zu glauben, daß die ganze Welt aus Eis besteht.«
Yar-gan lächelte kurz und wurde dann wieder ernst. »Dort drüben scheint die Einfahrt zu sein«, murmelte er. Skar sah in die Richtung, in die der Sumpfmann deutete. Der braune Fels und das Wasser, das geduldig an ihm nagte, saugten das Licht auf und machten es schwer, Einzelheiten zu erkennen; der Blick reichte nicht weit über die Hälfte der steinernen Blase hinaus, und alles, was dahinter lag, waren Schatten und Finsternis. Aber ein Teil dieser Dunkelheit schien tiefer zu sein, nur um eine winzige Nuance; ein noch dunkleres Schwarz auf schwarzem Hintergrund, und als Skar eine Weile hinsah, glaubte er eine Anzahl winziger flimmernder Punkte zu erkennen. Sterne, die auf dem Nachthimmel glitzerten, der hinter dem niedergebrochenen Teil der Höhlenwand erkennbar war. Wenn es so war, dann mußte die Einfahrt gewaltig sein: breit genug, zehn Schiffe von der Größe der SHAROKAAN gleichzeitig hindurchzulassen. Die Vorstellung erschreckte Skar. Dieser Hafen konnte eine Armada aufnehmen, die größer war als alle Kriegs- und Handelsflotten der Welt zusammengenommen.
»Dort unten ist etwas«, sagte Yar-gan. Er beugte sich weit vor, hielt sich mit der Linken an der Balkonbrüstung fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und deutete mit der anderen Hand nach unten. Skar erkannte, was der Sumpfmann meinte: Etwa eine Meile entfernt schaukelten drei dunkle, gedrungene Schatten auf der Wasseroberfläche.
»Schiffe?« fragte er.
Yar-gan zuckte mit den Schultern. »Ich kann zwar etwas besser sehen als du, aber...« Er überlegte einen Moment, zuckte abermals mit den Achseln und richtete sich wieder auf. Das Eis war geschmolzen, wo er sich festgehalten hatte. Seine Hand hinterließ einen deutlichen Abdruck auf der weißen Fläche. »Holen wir die Männer und sehen nach«, sagte er. »Wenn es Schiffe sind, finden wir auch eine Möglichkeit, sie wieder seetüchtig zu machen und von hier zu verschwinden.« Plötzlich lächelte er. »Es scheint fast, als hätten wir ausnahmsweise einmal Glück, Skar.«
»Aber sicher«, erwiderte Skar bissig. »Wir müssen nur noch Vela und Gowenna finden, Gowennas Pläne durchkreuzen - wie immer sie aussehen mögen -, Helth unschädlich machen, die Eiskrieger besiegen und den Dronte vernichten. Mehr nicht.«
Gegen seine Erwartung wurde Yar-gans Grinsen noch eine Spur breiter. »Allmählich beginnst du wieder zu dem zu werden, der du einmal warst, Skar«, sagte er. »Ich habe deine herzerfrischende Art, einem Mut zu machen, schon immer geliebt.« Er lachte, drehte sich um und deutete auf den Stollen. »Warte hier. Ich hole die Männer.« Skar blickte ihm verwirrt nach. Yar-gans Worte hatten ein seltsames Echo in ihm ausgelöst. Das Gefühl von etwas Vertrautem, denn der Sumpfmann hatte auf eine Weise und in einem Tonfall mit ihm geredet, wie er es sonst nur von Del gekannt hatte, aber auch fast so etwas wie Erstaunen über sich selbst. Plötzlich fiel ihm auf, wie sehr sich seine Gedanken geklärt hatten, seit sie aus dem Stollen heraus waren. Alles wirkte mit einem Mal wieder real und echt, selbst die Kälte und die zahllosen winzigen schmerzenden Wunden an seinen Gliedern - es war, als wäre ein Schleier von seinen Sinnen gezogen worden, als wären die vergangenen Tage wirklich nicht mehr als ein übler Traum gewesen, aus dem er allmählich erwachte. Yar-gan hatte recht gehabt - er schien zu erwachen wie aus einem tiefen, bedrückenden Schlaf, wurde wieder zu dem Mann, der er gewesen war, bevor dieser Alptraum begann. Selbst das Gefühl der Mutlosigkeit wich allmählich jenem Jetzt-erst-recht, das er von Del gelernt und das ihm schon so oft geholfen hatte. Und es ging schnell, sehr schnell. Der logische Teil seines Denkens sagte ihm immer noch, daß sie so gut wie verloren waren und nicht nur ein, sondern gleich ein halbes Dutzend Wunder brauchen würden, um diese Insel lebend zu verlassen, aber daneben war auch, noch schwach, aber mit jedem Atemzug an Kraft gewinnend, der alte Trotz, der Wille zu überleben, ganz gleich wie, weiterzukämpfen, auch wenn seine Lage noch so aussichtslos erschien.
Er spürte erst jetzt, wie sehr er dieses Gefühl vermißt hatte in den letzten Tagen. Und im gleichen Maße wurde ihm klar, wie oft er an den Tod gedacht hatte. Wie konnte er es geschehen lassen, daß er sich ihm näherte, es zulassen, daß er sich Stück für Stück an ihn herantastete, bis er ihm fast wie eine Erlösung erschienen war! Sein Blick wanderte nachdenklich über die verzerrten Ränder des Eistunnels, durch den sie hierher gekommen waren. Yar-gan war dabei, die Männer zusammenzurufen - einigen mußte er helfen, überhaupt noch auf die Füße zu kommen -, aber ihre Gestalten kamen ihm unwirklich und beinahe transparent vor. Es gab eine unsichtbare Grenze, irgendwo zwischen dem Platz, an dem er stand, und dem Eingang zur Stadt, eine Linie, hinter der alles irreal und verschwommen wirkte; die Grenze zwischen seiner und der Welt der Sternengeborenen, die sie mit hierher auf Enwor gebracht hatten. Cor-ty-cor war mehr als eine tote Stadt, dachte er schaudernd. Der Geist, der ihre Mauern einst beseelte, war noch immer da. Die Seele der Stadt lebte noch, und sie war fremd und erschreckend wie ein schleichendes Gift, das in die Gedanken aller sickerte, die es wagten, sich ihr zu nähern. Cor-ty-cor brauchte keine Wächter, weder den Dronte noch die Eiskrieger oder Helth. Sie schützte sich selbst. Diese Stadt war der Tod, und sie tötete jeden, der sie betrat; langsam, fast unmerklich, aber unerbittlich.
Skar verscheuchte den Gedanken und drehte sich wieder herum. Nach allem, was sie durchgemacht hatten, mußte ihm selbst eine Umgebung, die nur um eine Winzigkeit weniger tödlich und fremd war, wie ein Paradies erscheinen, und er wußte, daß das Hochgefühl in ihm trog, unter Umständen sogar ein ebenso gefährlicher Feind wie der böse Geist Cor-ty-cors sein konnte.
Er blickte erneut und aufmerksamer als beim ersten Mal über das Hafenbecken und den braungrauen porösen Fels, der die kreisförmige Wasserfläche säumte. Es gab keine Kais oder Hafenanlagen in irgendeiner Form, sondern nur ein glattes, vereistes Felsband, das sich am Fuße der Höhlen wand rings um das Wasser zog; nicht mehr als zehn oder zwölf Schritte breit und ohne sichtbare Unterbrechungen. Da und dort entdeckte er weitere Stollen wie den, durch den sie hierher gelangt waren, manche ebenerdig oder auf Vorsprüngen und Balkonen endend, ähnlich dem, auf dem er stand, andere wie die Einfluglöcher von übergroßen Vogelhöhlen weit oben in der Wand, ohne daß es eine Treppe oder irgendeine andere Möglichkeit zu geben schien, zu ihnen hinaufzugelangen. Aber vielleicht waren sie auch zerfallen in all den Äonen, die vergangen waren, seit sich das Schweigen des Todes über diese Stadt gelegt hatte. Hier draußen war die Zeit nicht stehengeblieben wie in den anderen Teilen Cor-ty-cors. Ihre Spuren waren überall. Der Fels war zernagt von Äonen voller Wind und Salzwasser und Erosion, und im gleichen Maße, in dem sich seine Augen an das unsichere Dämmerlicht gewöhnten, begann er, die Spuren zu erkennen, die das Meer in die Wände gegraben hatte: dunkle, übereinanderliegende Linien, die sich von der Wasserlinie bis fast unter die Decke erstreckten, ein Dutzend oder mehr Markierungen, jede für ein Jahrtausend oder mehr stehend. Der Wasserspiegel des Ozeans mußte sich mehrmals gehoben und gesenkt haben, seit diese Höhle entstanden war. Vielleicht hatte es damals noch nicht einmal einen Ozean gegeben. Vielleicht war sie älter als die Meere, so alt wie diese Welt, eine Narbe, die von ihrer Geburt zurückgeblieben war, und vielleicht hatte es Millionen und Abermillionen Jahre lang hier unten weder Licht noch Laute gegeben, sondern es war ein Universum des Schweigens gewesen, so lange, bis ein Teil ihrer Wand einstürzte und das Meer brausend und schäumend in den Hohlraum schoß. Sie mußte bereits uralt gewesen sein, als die Sternengeborenen sie entdeckten und für ihre Zwecke nutzten.
Irgendwie beruhigte Skar die Vorstellung. Der Schrecken, den sie in den vergangenen Tagen durchlebt hatten, verlor ein wenig von seiner Macht angesichts der schweigenden Größe dieses unterirdischen Hafens. Vielleicht spielte es gar keine Rolle, was sie taten, dachte er. Vielleicht blieb es sich gleich, ob sie gewannen oder verloren. Ob es die Menschen oder die Erbauer dieser Stadt waren, die für die nächsten hundert oder auch hunderttausend Jahre über Enwor herrschten. Wer immer es wäre, irgendwann würde seine Zeit abgelaufen sein, und irgendwann würde er gehen, und alles würde sein wie vorher. Ein Jahrtausend war eine so lächerlich kurze Zeit für das Schicksal einer Welt. Yar-gan kam mit den ersten Männern zurück, und Skar drehte sich zu ihm um und scheuchte die Gedanken dorthin zurück, wo sie hingehörten. Später, wenn sie die Insel verlassen hatten, war Zeit genug, über die Zukunft dieser Welt nachzudenken. Wenn es ein Später für sie gab.
Er ging Yar-gan entgegen, half ihm jedoch nicht, sondern sah schweigend zu, wie er den Männern beistand, die letzten Schritte zu tun. Skar wußte aus eigener Erfahrung, wie schwer sie waren. Cor-ty-cor wehrte sich gegen das Fremde, aber es hielt auch eifersüchtig diejenigen fest, die ihm einmal ausgeliefert waren.
»Rasten wir hier, oder willst du gleich weiter?« fragte der Sumpfmann mit einer Kopfbewegung dorthin, wo hinter dem Vorhang aus Dunkelheit und Schatten die Hafenausfahrt lag. Und hinter ihr das offene Meer.
Skar antwortete nicht sofort. Das beste wäre wohl gewesen, so schnell wie möglich weiterzugehen, die Freisegler auf dem kürzest möglichen Weg aus dieser kälteklirrenden Hölle herauszuführen. Das Beste, und das einzig Logische, überlegte er düster. Aber es ging schon lange nicht mehr um das, was logisch oder gar gut für ihn oder einen der anderen war. Erneut und schmerzhafter als zuvor kam ihm zu Bewußtsein, in welch erbärmlichem Zustand sich die Männer befanden, die den Marsch hierher überlebt hatten - ein paar von ihnen waren auf Händen und Knien auf den Balkon hinausgekrochen, und wenn Skar auch sicher war, daß Cor-ty-cors Gift bei ihnen seine Wirkung ebenso schnell verlieren würde wie bei ihm selbst, so waren sie doch am Ende ihrer Kräfte.
So wie schon ein halbes Dutzend Mal zuvor überlegte er finster. Nur, daß sie es diesmal endgültig waren.
»Ich möchte mir die -« Er zögerte, drehte den Kopf und sprach erst nach sekundenlangem Schweigen weiter, »- die Schiffe ansehen. Aber es ist nicht nötig, daß du mitkommst. Ich kann genausogut allein gehen.«
Yar-gan schüttelte den Kopf. »Ich begleite dich«, sagte er entschieden. »Es ist zu gefährlich für einen einzelnen Mann allein.«
»Gefährlich?« Skar zog eine Grimasse. »Du denkst, Helth könnte irgendwo dort vorne auf mich warten, um mich ins Meer zu zerren und zu ersäufen?«
Sein Spott verfehlte sein Ziel. »Vielleicht.«
»Vielleicht wartet er aber auch gerade darauf, daß wir beide gehen und die Männer allein zurücklassen.«
»Mach dich nicht lächerlich, Skar«, knurrte Yar-gan. »Es sind immer noch zwanzig Mann. Sie brauchen keinen Aufpasser.«
»Aber ich, wie?« Skar lachte, aber es war ein Lachen ohne Humor; es war hart und verletzend, bewußt verletzend. »Wenn Helth uns umbringen wollte, dann hätte er es ein Dutzend Mal tun können«, fuhr er fort. »Es gab Gelegenheit genug dazu auf dem Weg hier herunter, das weißt du.«
Yar-gan wollte erneut widersprechen, aber Skar drehte sich schnell und demonstrativ um, ging zur Schmalseite des Balkons hinüber und beugte sich vor. Der Boden lag fünf Meter unter ihm - schon für einen ausgeruhten und kräftigen Mann ein gewagter Sprung. Für die vollkommen erschöpften Krieger mußte es - selbst mit den Seilen, die sie mitgebracht hatten - eine lebensgefährliche Kletterpartie werden. Und wohl auch für ihn, fügte er in Gedanken hinzu. Sie waren der Stadt entkommen, aber dieser kleine Sieg durfte ihn jetzt nicht dazu verleiten, leichtsinnig zu werden. Auch er hatte seine Grenzen schmerzhaft zu spüren bekommen in den letzten Tagen. Mehrmals. Er konnte nicht genau erkennen, woraus der Boden unter ihnen bestand, aus Eis oder Fels. Aber das blieb sich gleich. Schon ein verstauchter Fuß war hier gleichbedeutend mit einem Todesurteil.
»Dann nimm wenigstens eine Fackel mit.« Yar-gans Stimme klang resignierend, als er neben ihn trat. Die Worte waren bewußt banal gewählt, aber Skar spürte, daß der Sumpfmann ihn anstarrte, so durchdringend, als erwarte er eine ganz bestimmte Reaktion, eine Antwort auf eine Frage, die er noch nicht gestellt hatte.
Er drehte sich wieder um, lehnte sich gegen die Brüstung und stützte sich mit weit gespreizten Armen auf dem Eis ab; eine Haltung, die Entspannung vortäuschte und das Gegenteil bedeutete. Yar-gans Gesicht schien im grauen Licht selbst grau zu werden, und für einen Moment waren seine Augen nicht mehr die eines Menschen, sondern lichtlose schwarze Löcher, leer und doch nicht leer. Die Augen eines unbegreiflichen, nichtmenschlichen Wesens, in denen eine gestaltlose Furcht loderte.
Er hat Angst! dachte Skar bestürzt. Der Gedanke verwirrte ihn, aber er löste - wie ein bizarres gedankliches Echo - auch in ihm Furcht aus. Er hatte bisher nicht einmal gewußt, daß diese Wesen fähig waren, so etwas wie Angst zu empfinden, aber der Ausdruck in Yar-gans Augen log nicht. Er hatte Angst, panische Angst. Eine Angst, die er nur noch mit Mühe zu beherrschen imstande schien. Sein Gesicht zuckte, und diesmal war Skar sicher, daß es kein Lichtreflex, kein Schatten und kein Trugbild war. Die Maske des Del begann zu zerfließen, wurde zu grauem Nichts und festigte sich wieder, aber Skar spürte, welches Übermaß an Kraft es den Sumpfmann kostete, sie aufrechtzuerhalten.
»Verzeih«, sagte er so leise, daß nur der Sumpfmann seine Worte hören konnte. »Ich wollte dich nicht kränken. Wir gehen zusammen, wenn du willst.«
Diesmal war es Yar-gan, der den Kopf schüttelte. »Du hast recht, Skar«, sagte er. »Jemand muß bei den Männern bleiben. Ein paar von ihnen sterben, wenn ich ihnen nicht helfe.« Seine Stimme gewann mit jedem Wort an Kraft, und auch seine Züge festigten sich wieder. Er starrte Skar eine endlos scheinende weitere Sekunde an, trat einen halben Schritt zurück und lachte ganz leise. »Das ist jetzt das zweite Mal, daß du mich vor einer Unbesonnenheit bewahrst, Skar«, fuhr er fort. »Ich fürchte, ich war zu lange mit Del verschmolzen. Sage mir Bescheid, wenn er zu stark wird.«
Der Augenblick der Schwäche war vorbei. Yar-gan war wieder er selbst, der starke, unnahbare Sumpfmann, ein Wesen, das auf seine Weise so fremd und unmenschlich zu sein schien wie die, die diese Stadt erschaffen hatten. Aber für einen kurzen, ganz kurzen Moment hatte Skar einen Blick hinter die Maske des Sumpfwesens getan, und seltsamerweise erschien er ihm jetzt menschlicher als zuvor. Ohne ein weiteres Wort schwang er sich auf die niedrige Brüstung, balancierte einen Moment auf dem Eis und sprang federnd in die Tiefe.
Der Aufprall war weniger hart, als er gefürchtet hatte. Sofort rollte er sich instinktiv zusammen und überschlug sich zwei-, dreimal, ehe er mit einer geübten Bewegung wieder auf die Füße kam. Sein eigener Schwung riß ihn abermals vorwärts, und um den Sturz abzufangen, rollte er über die Schulter ab. Er prallte unsanft gegen die Wand und blieb einen Moment lang mit geschlossenen Augen liegen, lauschte in sich hinein und suchte seinen Körper nach neuen Verletzungen und Schmerzen ab, wie er es gelernt hatte. Dann stemmte er sich hoch und sah zu Yar-gan hinauf. Der Boden fühlte sich seltsam weich und nachgiebig unter seinen Fingern an, gar nicht wie Fels, sondern wie zähes Leder. Er achtete nicht darauf.
»Alles in Ordnung?« Die Stimme des Sumpfmannes hatte hier, obwohl er kaum fünf Meter unter ihm stand, einen völlig anderen Klang: dünn und bleich, halb verschmolzen mit dem Flüstern und Murmeln der Brandung und beinahe geisterhaft. Seine Gestalt hob sich nur noch als dunkler Schatten über dem Eis ab.
Skar nickte und hob wortlos die Hand. Yar-gan setzte die Fackel in Brand, schwenkte sie ein paarmal hin und her, bis die Flamme in dem feucht gewordenen Holz genügend Nahrung gefunden hatte und hell loderte, und warf sie zu ihm herab. Skar versuchte sie aufzufangen, aber er griff daneben; sie prallte dicht vor seinen Füßen auf den Boden, hüpfte wie ein Gummiball davon und verzischte im Wasser. Beim zweiten Versuch hatten sie mehr Glück. Skar bekam die Fackel zu fassen - wenn auch am falschen Ende - verbrannte sich jämmerlich die Finger und wechselte das brennende Holz fluchend in die andere Hand. Yar-gan lachte schadenfroh, aber es war auch ein hörbarer Unterton von Sorge darin. Skars Griff war nicht nur ein Mißgeschick gewesen, sondern ein deutliches Zeichen, wie sehr seine Konzentration bereits nachgelassen hatte. »Eine Stunde«, rief der Sumpfmann. »Wenn du bis dahin nicht zurück bist, folge ich dir.«
Wenn ich in einer Stunde nicht zurück bin, mein Freund, dachte Skar, brauchst du das nicht. Dann gibt es niemanden mehr, dem du folgen müßtest. Aber er sagte nichts, sondern drehte sich mit einem stummen Kopfnicken um und machte sich mit eiligen Schritten auf den Weg.