7.

Die SHAROKAAN schwenkte in weitem Bogen herum. Die Männer hatten die Segel gerefft und statt dessen wieder die Ruder zu Wasser gelassen. Die Rahen des Schiffes stachen wie blattlose Äste eines bizarren Baumes in den dunstverhangenen Himmel, dürre schwarze Finger, die vergeblich versuchten, das schimmernde Grau hoch über ihnen anzukratzen. Der Segler bewegte sich nur widerwillig. Schiffe wie die SHAROKAAN waren nicht dazu konstruiert, sich auf diese Weise fortzubewegen, und die sanfte, aber beständige Strömung stemmte sich zusätzlich gegen das Schiff und zehrte den Schwung der Blätter wieder auf. Sie ruderten jetzt seit zehn Minuten, aber der Segler schien sich kaum von der Stelle bewegt zu haben.

Skar lehnte sich an die Reling und stützte die Ellbogen auf. Die lähmende Stille, die nach seiner Rückkehr von dem Schiff und der Mannschaft Besitz ergriffen hatte, war dem dumpfen, rhythmischen Klatschen der Ruder und den vielfältigen Geräuschen des langsam wieder erwachenden Schiffes gewichen: dem Knarren und Ächzen von feuchtem Holz, naß und verquollen trotz der fingerdicken Teerschicht, dem ständigen Flappen des Besansegels, das als einziges hochgezogen war, um den Ruderern zu helfen, das schwerfällige Boot auf Kurs zu halten, dem Singen von Tauwerk und Kabel. Es war, als seufzte das Schiff erleichtert, endlich von der erdrückenden Last des Eises befreit zu sein. Durch die Hitze, die das Wasser des Sees zum Kochen gebracht hatte, war auch der Eispanzer über der SHAROKAAN geschmolzen. Zum ersten Mal seit Tagen war das Schiff eisfrei. Der blausilberne Spiegel des Sees war wieder zerbrochen; die Ruhe durch die vielfältigen Geräusche des Schiffes und seiner Besatzung gestört. Vielleicht hatte hier - bevor sie kamen - ein Jahrtausend Schweigen und Stille geherrscht, aber mit der SHAROKAAN waren Hektik und Unruhe über den See hereingebrochen, menschliche Stimmen und Lachen; aber auch Krieg und Feuer und Tod.

Skar bewegte den Kopf. Seine Nackenwirbel knackten leise, und ein dünner, pfeilspitzer Schmerz schoß über seinen Rücken. Es wurde wirklich Zeit, daß er von diesem Schiff herunterkam und wieder festen Boden unter den Füßen fühlte. Er war steif und ungelenk geworden, und es lag nicht allein an der Kälte oder den Anstrengungen der vergangenen Nacht. Er bekam hier an Bord einfach nicht genug Bewegung. Anders als Del widerstrebte es ihm, unter den Augen der Besatzung seine Übungen zu absolvieren. Er wußte selbst nicht, warum, aber er wäre sich albern dabei vorgekommen, Gymnastik zu treiben und Schwertkämpfe gegen nicht vorhandene Gegner auszutragen. Der See lag noch immer unter einer dichten Decke aus Nebel und Dampf, hinter der die Sonne seltsam unscharf und verschwommen aussah - ein leicht in die Länge gezogener Kreis mit zerfaserten Rändern, gelb und von ungewöhnlich heller Farbe. Der Nebel war warm; wärmer, als er hätte sein dürfen, vermischt mit Dampf, der noch immer vom Kanal herüberwehte. Von Zeit zu Zeit riß der Wind die wirbelnden Schwaden auseinander, und er konnte die großen, trichterförmigen Wunden sehen, die die Brandgeschosse in das Eis geschlagen hatten. Er wußte, wie hart dieses Eis war, hart wie Stahl, gehärtet von unzähligen Jahrhunderten der Kälte, und obwohl er das Höllenfeuer am eigenen Leibe verspürt hatte, erschien es ihm fast unmöglich, daß die Geschosse des Dronte eine solche Verheerung angerichtet haben sollten.

Skar sah flüchtig auf, als Gowenna neben ihn trat. Er ging ihr aus dem Weg, wo er konnte, aber auf einem so kleinen Schiff wie der SHAROKAAN war das fast unmöglich, und wenn Gowenna es bemerkte, so ignorierte sie es. Seine Lippen verzogen sich für einen Moment zu einem bedeutungslosen Lächeln und erschlafften dann wieder. Seine Muskeln schmerzten. Er gehörte nicht hierher, sondern hinunter in die Kajüte und ins Bett. Aber er wußte, daß er keinen Schlaf finden würde. Gowenna war gegangen, vorhin, aber er war weiter wach geblieben und hatte stundenlang in der leeren Kabine gehockt, bis das Schiff nach und nach wieder zum Leben erwacht war und das Zittern des Rumpfes und die Stimmen der Besatzung seine Müdigkeit vertrieben hatten.

»Du siehst aus wie jemand, der seit drei Wochen mit einem schmerzenden Zahn geschlagen ist«, sagte Gowenna in dem vergeblichen Versuch, ihn aufzuheitern. »Dabei hättest du allen Grund zu triumphieren.«

»So?« murmelte Skar. »Habe ich das?«

Er starrte auf den keilförmigen Durchlaß in der Eiswand. Es würde noch viel Zeit vergehen, ehe die SHAROKAAN ihn erreichte, vielleicht Stunden. Noch immer verwehrten dichte Nebelschleier den direkten Blick auf den Kanal. Das grelle Wetterleuchten darin hatte aufgehört, und die Strömung trug jetzt schon seit Stunden keine Flammen mehr in den See. Nur ein paar Wrackteile trieben von Zeit zu Zeit mit der Flut heran und prallten gegen den Rumpf der SHAROKAAN oder versanken in einem der zahllosen Strudel, die sich unter der trügerisch ruhigen Wasseroberfläche verbargen. Es wäre für die Männer an den Rudern sicher einfacher gewesen, wenn Rayan abgewartet hätte, bis die Ebbe einsetzte und das Schiff ins offene Meer hinauszog. Aber seltsamerweise hatte nicht einer der Männer protestiert, trotz gegenläufiger Flut loszurudern. Jedermann an Bord schien froh zu sein, so rasch wie nur möglich von hier verschwinden zu können. Auch Skar selbst schloß sich da nicht aus. Hätte es Rayan von ihm verlangt, würde er sich selbst hinter eines der schweren Ruder gesetzt haben. Er versuchte, den wallenden Vorhang aus Nebel und Dunst mit Blicken zu durchdringen. Für einen Moment glaubte er, einen schwarzen, formlosen Umriß zu sehen. Aber er mußte sich getäuscht haben. Er hatte gesehen, wie der Dronte zuerst geborsten und dann gesunken war. Der Mordsegler war vor seinen Augen in zwei Teile zerbrochen und verbrannt. Der Alptraum war vorbei. Endgültig. Aber es fiel ihm immer noch schwer, sich davon zu lösen. Das Bild des schwarzen, zuckenden Leibes hatte sich tief in sein Gedächtnis gebrannt. Und das Bild eines fallenden Körpers...

»Wir haben etwas vollbracht, was vor uns noch keinem gelungen ist«, knüpfte Gowenna an den Gedanken an. »Wir haben einen Dronte besiegt, Skar.«

»Sag das Rayan«, knurrte Skar. »Besiegt...« Er schüttelte den Kopf und stieß einen Laut aus, der irgendwo zwischen einem Lachen und einem unterdrückten Stöhnen zu liegen schien. »Siegen, Gowenna, kann man nur in einem Kampf. Und es war keiner.«

Gowenna starrte ihn einen Herzschlag lang verwundert an. »Wieder die alte Leier, Skar?« fragte sie dann. »Ich nahm an, du hättest Helth diesen Blödsinn nur erzählt, um ihn zu reizen.«

»Es war kein Blödsinn, Gowenna«, antwortete er leise. »Ich dachte, du hättest es begriffen. Hast du wirklich nichts gelernt aus allem, was geschehen ist? Es macht einen Mann nicht zum Helden, einen Feind zu töten. Und eine Frau nicht«, fügte er nach sekundenlangem Schweigen hinzu, »ihren Gegner zu quälen.«

Gowenna gab ein abfälliges Geräusch von sich. »Du und deine Vorstellungen von Ritterlichkeit, Satai«, sagte sie. »Weißt du, wo wir alle jetzt wären, wenn wir fair gekämpft hätten? Auf dem Meeresgrund.« Sie ignorierte seine letzten Worte, obwohl er sie lauter und mit veränderter Stimme gesprochen und sie dabei scharf angesehen hatte. »Ich weiß«, murmelte Skar. »Ich sage ja auch nicht, daß...« Er brach ab, biß sich auf die Lippen und drehte sich dann mit einer ruckartigen Bewegung weg. »Vergiß es«, sagte er. Es tat ihm schon beinahe leid, das Thema überhaupt angeschnitten zu haben. Er wußte, daß Gowenna ihn verstand, genau begriff, was er sagen wollte, aber er wußte auch, daß er genausogut zu sich selbst oder in den Wind reden konnte. In gewissem Sinne waren sie sich gleich, immer noch. In ihnen beiden brannte ein verzehrendes, unlöschbares Feuer, etwas, das sie vorwärts trieb, ihnen beiden die Kraft gab, um die sie die anderen so beneideten. Die, die nicht wußten, welchen Preis sie dafür zahlen mußten. Aber es war Haß, der Gowenna weitertrieb, ein Haß, der sie aufzehrte, ihr im gleichen Maße, in dem er ihr Kraft gab, immer mehr und mehr von ihrer Menschlichkeit nahm.

Und was ist es bei mir? dachte er. War es nicht das gleiche? War nicht das, was er für Trauer hielt, in Wirklichkeit nur eine andere Form von Haß? Kein Haß wie der Gowennas, der sich in Grausamkeit und Zerstörung entladen würde, sondern eine andere, vielleicht schlimmere Form? Bildete er sich wirklich ein, über den Verlust, den er erlitten hatte, hinweggekommen zu sein? Jemals darüber hinwegkommen zu können?

Es war kein Zufall, daß er so selten mit Gowenna oder Del sprach. Er ging ihnen - beiden - aus dem Weg, seit sie an Bord gekommen waren, aber es hatte bis zu diesem Moment gedauert, bis er sich selbst darüber klargeworden war.

»Laß gut sein, Skar«, murmelte Gowenna nach einer Weile. »Lassen wir das Thema. Du bist müde. Müde und erschöpft. Ich bin eigentlich nur gekommen, weil Rayan mich geschickt hat.«

»Rayan? Was will er?«

»Mit dir reden«, antwortete Gowenna mit einem Achselzucken, »und ich dachte mir, daß es besser ist, wenn ich dich hole. Statt Helth«, fügte sie nach einer hörbaren Pause und mit leicht veränderter Stimme hinzu.

»Wie geht es ihm?«

»Rayan?«

Skar nickte.

»Er spricht wenig«, sagte Gowenna. »Und was er sagt, klingt nicht gut. Er versucht wohl, sich nichts anmerken zu lassen, aber Brads Tod geht ihm nahe. Wußtest du, daß der Vede sein Sohn war?«

Skar nickte. »Brad hat es mir erzählt, als wir auf den Dronte gewartet haben.«

»Er ist ein sonderbarer Mann«, murmelte Gowenna. »Ich hatte geglaubt, ihn zu kennen, aber ich muß mich getäuscht haben.« Sie lachte, sehr leise und auf sonderbare Art, trat neben Skar an die Reling und stützte die Hände auf das feuchte Holz.

»Was hast du mit ihm zu tun?« fragte Skar.

»Mit Rayan?« Gowenna schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich kenne ihn. Vela brachte mich einmal zu ihm, als sie mich auf eine ihrer Reisen nicht mitnehmen konnte, und seitdem haben wir uns immer wieder getroffen. Hier und dort - die Welt ist klein.«

Skar sah auf. »Und das ist alles?«

»Das ist alles«, bestätigte Gowenna. »Du solltest nicht hinter allem ein Geheimnis und Verrat sehen, Skar. Ich kenne Rayan. Jedenfalls habe ich das gedacht, bis vor wenigen Augenblicken. Weißt du, was er vorhat?«

Skar schüttelte den Kopf und starrte weiter auf die schimmernde Wasseroberfläche hinunter. Das Sonnenlicht spiegelte sich auf den winzigen Wellen und verlieh ihnen für Sekunden einen eigenartigen Perlmuttglanz.

»Man sollte meinen, daß er nach allem so schnell wie möglich von hier weg will«, fuhr Gowenna fort, »aber er läßt gerade jetzt im Moment ein Beiboot ausrüsten. Wohl kaum, um damit hinter der SHAROKAAN herzurudern. Ich glaube, er will sich das Wrack des Dronte ansehen.« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Er ist wie besessen«, sagte sie leise.

»Dann paßt er ja zu uns«, murmelte Skar. Er seufzte, drehte sich herum und schlenderte wortlos an ihr vorbei, ehe sie Gelegenheit hatte, weiterzusprechen. Er ging langsamer, als notwendig gewesen wäre, beinahe, als wolle er so die Begegnung mit Rayan so lange wie möglich hinauszögern, und sei es nur wenige Sekunden.

Der Freisegler stand auf dem erhöhten Achterdeck und feuerte die Männer an den Rudern mit schriller Stimme zu größeren Anstrengungen an. Sein Gesicht war unbewegt, fast starr, und seine Bewegungen waren ruckhaft und von großer Kraft, eine stumme Pantomime, mit der der Freisegler seinen Kummer ausdrückte, ohne es selbst zu merken. Er gab sich noch immer Mühe, sich den Schmerz über den Verlust seines Sohnes nicht anmerken zu lassen. Etwas von einem Veden war wohl immer noch in ihm, auch nach all der Zeit, dachte Skar.

»Du wolltest mich sprechen?«

Rayan schwieg einen Moment und sah ihn an. In seinem Gesicht zuckte es, aber er sagte nichts von alledem, was Skar erwartet hatte, sondern gab sich plötzlich einen sichtlichen Ruck und deutete mit einer knappen Geste auf den Nebelvorhang vor dem Eiskanal. »Das da bereitet mir Sorgen«, sagte er. »Bist du sicher, daß er wirklich gesunken ist?«

Skar verneinte. »Ich habe gesehen, wie er auseinanderbrach und verbrannte«, sagte er. »Dann trieb mich die Hitze zurück. Macht das einen Unterschied?«

Rayan wiegte den mächtigen haarlosen Schädel. »Das Wrack könnte die Durchfahrt blockieren«, murmelte er. »Ich weiß nicht, wie tief der Kanal ist. Ehrlich gesagt, Skar, ich habe keine große Lust, mit der SHAROKAAN in dieses Mauseloch zu segeln, ohne zu wissen, was mich erwartet.« Er sprach langsam und mit übertriebener Betonung, klammerte sich mit aller Macht an rein pragmatische Probleme, nur um von den Qualen in seinen Gedanken abzulenken. Er war ein starker Mann, aber es gab Augenblicke, da war Stärke ein Fluch. »Es wird nicht schwierig sein«, sagte Skar mit einem angedeuteten Achselzucken, »das wenige, was noch übrig ist, zu versenken oder aus dem Kanal zu räumen. Schlimmstenfalls warten wir auf die Ebbe. Sie wird die Trümmer herausspülen. Falls es überhaupt Trümmer gibt. Du hast nicht gesehen, wie er gebrannt hat.«

»Trotzdem...« Rayan schürzte die Lippen. »Die letzten Tage haben mich gelehrt, vorsichtig zu sein.« Er blinzelte, fuhr sich mit der Hand über Kinn und Nase und starrte aus zusammengekniffenen Augen nach vorne. Die ehemals glatten Wände des Kanals waren unter der furchtbaren Hitze halb geschmolzen und zu bizarren Formen erstarrt. Der Kanal wirkte plötzlich wie ein gierig aufgerissenes, zahnbewehrtes Maul, der Rachen eines gigantischen Eisdrachens, der nur darauf wartete, über seinem Opfer zusammenzuschlagen.

»Vielleicht sollte man ein Boot mit ein paar Männern vorausschicken«, sagte Skar, um Rayan eine Brücke zu bauen.

»Ich hatte gehofft, daß du das sagst, Satai«, gestand Rayan leise. »Wirst du uns begleiten?«

»Uns?« fragte Skar. »Wer genau ist das?«

»Mich, Helth, ein paar meiner Männer und deinen Freund - wenn du es willst.«

Skar schwieg einen Moment. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, Gowenna allein mit Vela an Bord zu lassen. Seit er zurückgekommen war, hatte er streng darauf geachtet, daß sie die Zelle mit der gefangenen Errish nicht betrat. Brad hatte recht gehabt - niemand sollte einen Menschen wie einen Hund behandeln.

Rayan schien sein Zögern falsch zu deuten. »Ich gebe zu, daß ich neugierig darauf bin, den Dronte aus der Nähe zu sehen«, sagte er. »Man bekommt eine solche Gelegenheit nicht jeden Tag. Aber es könnte wichtig sein. Vielleicht erfahren wir genug über sie, um die Gefahr ein für allemal bannen zu können.«

Skar zögerte noch immer. Rayans Worte waren logisch -, daß sie nichts als eine Ausrede waren, wenn auch eine Ausrede, die er sich selbst gegenüber brauchte, änderte daran gar nichts -, aber gerade das war es, was ihn störte. Vermutlich würden sie nie wieder eine Gelegenheit wie diese bekommen; weder sie noch irgendein anderer Seefahrer. Im Grunde waren sie sogar verpflichtet, das Wrack des Dronte - falls es eines gab - peinlich genau zu untersuchen.

Skar ertappte sich bei dem Gedanken, daß es gut wäre, nichts zu finden. Die Vorstellung, die verkohlten Überreste des Schiffes aus der Nähe sehen zu müssen, bereitete ihm Unbehagen.

Und auch Rayan war nicht halb so gefaßt, wie er vorgab. Unter der dünnen Tünche aus Selbstbeherrschung brodelte es. Etwas, das nicht allein mit dem Schmerz über den Verlust seines Sohnes oder der Erregung über den Sieg - nicht einmal mit beidem gemeinsam - zu erklären war, ging in dem Freisegler vor. Die Tatsache, das begriff Skar plötzlich, daß Helth und Brad seine Söhne waren, war nicht alles. Sein Geheimnis war größer, größer und düsterer. Und es hing irgendwie mit dem Dronte zusammen.

»Hältst du es für klug, selbst mitzukommen?« fragte er vorsichtig. »Das Schiff wäre ohne Führung, wenn dir etwas zustieße.«

Rayan machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wenn uns dort vorne etwas zustößt«, sagte er betont, »wenn es dort noch irgend etwas Lebendes gibt, das uns die Ausfahrt verwehren kann, Skar, dann ist das Schiff so oder so verloren. Ob mit oder ohne Führung.« Skar überlegte einen Moment; verwundert über seine eigenen Gefühle. Wieso sorgte er sich plötzlich so um Rayan? Der Freisegler war gewiß erfahren genug, allein über sein Schicksal zu entscheiden und die Risiken abzuwägen. Aber seit sie dieses schweigende eisige Grab am Rande der Welt betreten hatten, war etwas mit ihm geschehen. Es war, als wäre die sterile, lebensverneinende Feindseligkeit der weißen Hölle in seine Seele gekrochen und hätte dort einen wahren Sturm von Gefühlen ausgelöst; Gefühle, die ihm selbst fremd waren und ihn erschreckten, etwas, als wehre sich sein Unterbewußtsein gegen das, was da von außen herandrängte.

»Gehen wir«, schlug er vor.

Rayan lief mit raschen Schritten die kurze Treppe zum Hauptdeck herunter und eilte an Skar vorbei zur Backbordreling. Einer seiner Matrosen verschwand auf einen wortlosen Wink des Freiseglers unter Deck, wahrscheinlich, um Del zu holen.

Das Boot - eine kaum zwölf Fuß lange Pinasse, die nur von zwei Rudern vorwärts bewegt wurde - war bereits zu Wasser gelassen und mit vier kräftigen Matrosen bemannt. Rayan machte eine einladende Geste und sprang mit einem eleganten Satz in das nur wenige Fuß tiefer liegende Boot hinab. Skar folgte ihm auf die gleiche Weise, suchte sich auf der schmalen Sitzbank einen Platz und ließ sich darauf nieder. Del erschien nach überraschend kurzer Zeit. Der Matrose schien ihm genau gesagt zu haben, was man von ihm erwartete, denn er stieg ohne zu zögern über die Reling, suchte einen Moment mit ausgebreiteten Armen in dem schwankenden Boot nach einem Platz und ließ sich dann neben Skar nieder.

Sie legten ab. Die Matrosen bewegten die Pinasse mit kräftigen Ruderschlägen von der SHAROKAAN weg und auf die Eiswand zu. Der Nebel schien sich zu lichten, als sie näher kamen, aber Skar wußte, daß das nichts als eine optische Täuschung war. Der Blick reichte kaum zwanzig Fuß weit, aber die huschenden Schatten erweckten den Eindruck, in graue Unendlichkeit zu blicken. Treibende Eisbrocken stießen mit dumpfem Geräusch gegen die Bordwand, und einmal schrammte etwas mit einem harten Schlag unter dem Rumpf entlang. Das Geräusch des Windes schien sich zu steigern, war plötzlich nicht mehr das Wimmern von Sturmböen, die sich an den Kanten und Erkern der eisigen Burg brachen, sondern das Heulen eines gewaltigen eisigen Gottes, in dessen Reich sie eingebrochen waren.

Skar warf Rayan einen verstohlenen Blick zu. Der Freisegler hatte jetzt, wo er sich unbeobachtet glaubte, seine starre Maske fallen gelassen. Sein Gesicht wirkte angespannt und verkrampft. Ein seltsames, verzehrendes Feuer glomm in seinen Augen. Schmerz? dachte Skar. Haß? Irgendwie konnte er sich keines von beiden vorstellen. Der Killersegler war ihr Feind gewesen, nicht nur ihrer, sondern der Todfeind aller Seeleute. Aber man haßte einen Dronte nicht. Man konnte es nicht, ebensowenig, wie man ein Erdbeben oder einen Vulkan hassen konnte. Man konnte den Dronte bekämpfen, vor ihm davonlaufen oder ihn verfluchen, aber man konnte ihn nicht hassen. Dronte waren keine Feinde wie normale Kaperschiffe oder Zollsegler, sondern etwas, das mit der Unerbittlichkeit eines Naturereignisses hereinbrach und dem man nur mit den gleichen Gefühlen begegnen konnte. Jedenfalls hatte er das bis jetzt geglaubt. Aber der Ausdruck auf Rayans Zügen war Haß. Ein Haß von einer Intensität, der dem Gowennas gleichkam und ihn schaudern ließ. Es war ein Haß, der nicht allein aus dem Verlust eines Sohnes geboren war.

Er drehte sich herum und blickte in das Gesicht des Veden, der halb aufgerichtet im Heck der Pinasse hockte und mit einer Hand das Ruder hielt. Helth hatte seinen scharlachroten Fellumhang gegen ein schwarzes, von dünnen silbernen Fäden durchzogenes Cape eingetauscht; ein dunkler, zweifingerbreiter Rußstreifen zog sich über seine Augen bis an die Schläfen herauf, und auf seiner Stirn war eine kleine, V-förmige Schnittwunde, kaum verkrustet und hellrot glänzend. Es war die Art, in der Veden sich zu kleiden pflegten, wenn sie trauerten. Oder wenn sie in einen Kampf zogen, von dem sie glaubten, sie würden ihn nicht überleben, dachte er erschrocken.

»Langsamer!«

Die Ruderschläge wurden langsamer und hörten schließlich ganz auf. Das Boot trieb noch ein Stück gegen die Strömung an und verharrte schließlich bewegungslos auf der Stelle, als sein Schwung aufgezehrt wurde.

Der Nebel riß unter einem plötzlichen Windstoß auseinander. Zu ihrer Linken tauchte die Eiswand auf, senkrecht, schimmernd und von der Gluthitze des Feuers mit einer Unzahl von Rissen, Einbuchtungen und großen blinden Flecken verunziert, die wie schorfiger Ausschlag aussahen. Davor begann sich ein großer, schwarzer Umriß abzuzeichnen.

Skars Herz schien einen Schlag zu überspringen und dann schneller und unregelmäßiger weiterzuhämmern. Der Nebel verwischte die Umrisse des Schiffes und gab ihm Bewegung und Leben, die nicht da waren; ließ es gleichzeitig größer und bedrohlicher erscheinen, als es war. Aber er war wiederum nicht dicht genug, um zu verbergen, daß das Schiff als länglicher schwarzer Umriß vor der Eiswand hockte, ein mißgestaltetes Monstrum, schwarz, leckgeschlagen und zernagt. Aber nicht gekentert und schon gar nicht zerbrochen.

»Aber das ist doch... unmöglich«, murmelte er. In einer blitzartigen Vision sah er noch einmal die gleißenden Flammen aus dem aufbrechenden Leib des Dronte hervorquellen, feuriges Blut, das aus den Wunden brach, die sie ihm geschlagen hatten, noch einmal Wasser sich einen Weg durch die berstenden Rumpfplatten brechen, den Mast aufflammen und verglühen wie einen dürren Ast... Er sah noch einmal, wie sich das Schiff auf die Seite legte und dann langsam in zwei Teile zerbrach. Und bevor er sich dagegen wehren konnte, sah er noch einmal den schwarzen, spinnenfingrigen Riß, der die Eiswand hinauflief und Brad in die Tiefe schleuderte.

Das Boot schwenkte auf ein gemurmeltes Kommando Rayans herum und hielt auf den Dronte zu. Der Freisegler stand auf und trat mit einem schnellen Schritt zum Bug, streckte die Arme aus und blieb in einer erstarrten, beinahe grotesk wirkenden Haltung stehen, die Hände in einer weit geöffneten, greifenden Bewegung vorgestreckt. Sie zitterten, als könne er es nicht mehr erwarten, den Killersegler aus allernächster Nähe zu sehen, ihn zu berühren...

»Schneller!« Rayans Stimme krächzte.

Der Dronte wuchs heran. Er lag tiefer im Wasser, als Skar in Erinnerung hatte. Die Wellen schwappten nur wenige Handbreit unter den Resten der verkohlten Reling gegen den schwarzen Rumpf. Eine ölige, dunkle Flüssigkeit quoll wie dämonisches Blut aus den zerbrochenen Planken und durchsetzte das Meer mit schwarzen Schlieren.

Auch Skar hatte sich halb aufgerichtet und stand direkt hinter dem Freisegler. Seine Gedanken überschlugen sich. Unmöglich! dachte er entsetzt. Es war unmöglich. Unmöglich! Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie das Schiff unter einem höllischen inneren Feuer aufgebrochen und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war. Verbrannt und zerbrochen!

Sie konnten weitere Einzelheiten erkennen, als sie näher kamen. Der Dronte war verwundet, tödlich verwundet. Die Masten waren zu schweren, dürren Strünken verkohlt, von denen nicht einmal mehr die Reste von Segeln hingen, die Decksaufbauten verglüht und zu unförmigen Klumpen zusammengesunken, die wie geschmolzenes und nur halb wieder fest gewordenes Wachs aussahen. Formlose, dunkle Dinge bedeckten das verschmorte Deck. Einige davon sahen aus, als wären es einmal Menschen gewesen.

»Irgend etwas stimmt hier nicht«, murmelte Del. Er hatte unwillkürlich die Stimme gesenkt und flüsterte nur noch, als fürchte er, den schwarzen Todesengel allein durch den Klang seiner Worte aufzuwecken. Aber die spiegelnden Eismauern, die sie wie die Wände eines gewaltigen Grabes umschlossen, reflektierten seine Worte und warfen sie vielfach gebrochen und verzerrt wieder zurück. Skar schauderte. Mit einem Mal fror er wieder, aber es war nicht mehr die äußere Kälte, sondern etwas, das aus der Tiefe seiner Seele in ihm emporkroch und sich wie ein lähmendes Gift in seinen Adern ausbreitete. Er hatte das gleiche schon einmal gespürt, einen Tag bevor sie in den Kanal eingelaufen waren, nur war es diesmal ungleich stärker und furchteinflößender.

»Rayan!« keuchte er. »Kehr um. Laß uns hier verschwinden. Irgend etwas stimmt hier nicht. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er auseinandergebrochen ist!«

Rayan wandte mühsam den Kopf. Skar sah, wie schwer es ihm fiel, den Blick von den bizarren Umrissen des Dronte zu nehmen. Rayan machte den Eindruck eines Mannes, der aus einem tiefen, quälenden Alptraum erwachte und sich nur mühsam wieder in der Wirklichkeit zurechtfand.

»Umkehren?« murmelte er. »Jetzt? Jetzt, wo ich ihn habe? Wo ich dieses Ungeheuer endlich erlegt habe?« Skar entging der wahre Sinn seiner Worte.

»Du mußt zurück!« sagte er beschwörend. »Irgend etwas stimmt hier nicht. Ich spüre es, Rayan. Glaube mir - ich habe gesehen, wie er verbrannt ist, vor meinen Augen!«

»Du... du mußt dich getäuscht haben«, sagte Rayan mühsam. »Die Flammen können einem Dinge vorgaukeln, die nicht da sind. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, ob das Schiff verbrannt ist oder nicht. Seine Besatzung ist es. Niemand kann den Brand überlebt haben. Sie sind tot.«

Skar ballte in hilfloser Verzweiflung die Fäuste. Er wußte, was er gesehen hatte. Der Dronte war verbrannt, tatsächlich, nicht etwa in seiner Einbildung und nicht als Trugbild der Flammen. Aber er wußte auch, wie sinnlos es war, weiter mit Rayan reden zu wollen.

Gowennas Worte fielen ihm ein. Besessen, hatte sie gesagt. Ja, das war er wohl - besessen. Aber besessen wovon? Von Rache? Rache für den Tod seines Sohnes? dachte er. Kaum.

Das Boot stieß mit dumpfem Knirschen gegen das Wrack, und Rayan sprang mit einem kraftvollen Satz auf das Deck des Dronte hinauf. Skar, Helth und zwei der Matrosen folgten ihm, während die beiden anderen Seeleute und Del auf einen knappen Wink des Veden hin zurückblieben, um ihnen für alle Fälle den Rücken zu decken. Das Boot entfernte sich wieder ein Stück und blieb in geringem Abstand liegen.

Skars Anspannung wuchs ins Unerträgliche, als er das Wrack betrat. Er war sich der Tatsache bewußt, daß sie etwas taten, was vor ihnen noch keinem Sterblichen gelungen war. Sie hatten einen Dronte geentert! Der Alptraum aller Seefahrer, das absolute Nonplusultra des Schreckens lag tot und besiegt zu ihren Füßen.

Was hatte Brad gesagt? Das Ende eines Mythos? Ja, das war es wohl. Das Ende einer Legende, das Ende eines Schreckens, der so alt wie das Meer war. Ganz gleich, was aus ihm oder diesen Männern um ihn herum wurde - wenn nur einer von ihnen lebend zurückkam und berichtete, was sich hier abgespielt hatte, waren die Tage der Dronte gezählt. Sie waren nur so lange unbesiegbar gewesen, wie man sie dafür gehalten hatte. Aber Skar verspürte nichts von Hochgefühl oder gar Ehrfurcht, nichts von alledem, was in einem solchen Augenblick angebracht gewesen wäre. Er hatte nur Angst. Erbärmliche Angst.

Und diese Angst war nicht einmal unbegründet. Etwas, das nicht einmal in Gedanken, geschweige denn in Worte zu kleiden war, ging von dem Wrack aus. Eine Stimmung der Düsternis, des Schreckens, als wäre das Schiff von einer unsichtbaren, dunklen Aura umgeben, eingesponnen in ein Netz, dessen Maschen aus den wehklagenden Seelen seiner Opfer geknüpft waren. Es war genau das, was Skar dachte, genau diese Worte; Worte, über deren Sinn und Wahl er in einem anderen Augenblick nur gelacht hätte. Jetzt ängstigten sie ihn. Er zog sein Tschekal aus der Scheide und sah sich mißtrauisch nach allen Seiten um. Der Anblick war grauenerregend und faszinierend zugleich. Der Dronte war tot, und er war es doch nicht, so wie ein Schlachtfeld nach der Schlacht nicht tot ist, sondern von den Geistern der Erschlagenen spukt. Etwas Dunkles, Unsichtbares schien über dem Deck zu schweben, eine körperlose Stimme, die mit unhörbaren Tönen drohte und flüsterte. Rayan und Helth waren vorausgeeilt und zum Bug gegangen, zwei zerbrechlich wirkende Gestalten, die auf dem mattschwarzen Leib des Dronte seltsam deplaciert und falsch wirkten. Mehr als alles andere demonstrierte der Anblick der beiden Menschen die Fremdartigkeit des Dronte. Das schwarze Monstrum war nicht einfach ein Piratenschiff, das Tod und Verderben säte, sondern ein Ding aus einer anderen Welt. Ein böses Ding aus einer bösen Welt. Wo es war, konnte kein Leben sein, und umgekehrt. Plötzlich begriff Skar, warum die schwarzen Mordsegler so waren. Sie konnten nicht anders. Es war weder Berechnung noch Lust am Töten in ihrem Tun. Die Gegenwart des Dronte schloß die von Leben aus. So wie Feuer und Wasser sich unerbittlich bekämpften, konnte auch in einer Begegnung zwischen dem Dronte und Leben - Leben in jeder Form - nur einer von beiden weiter existieren. Ein Kampf auf Leben und Tod war unvermeidlich.

Irgendwo, tief unter seinen Gedanken, seinem bewußten Zugriff noch entzogen, unformuliert und nicht in Worte gefaßt, war etwas. Er spürte, daß er dicht vor der Lösung eines phantastischen Geheimnisses stand. Aber gleichzeitig schreckte er davor zurück, wehrte sich mit aller Macht gegen den Gedanken.

Von plötzlicher Unruhe gepackt, begann er über das Deck zu wandern. Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich seltsam hart und unnachgiebig an, als befände sich unter der krumig verbrannten schwarzen Schicht kein Holz, sondern massiver Stahl. Er blieb stehen und schlug mit seinem Schwert spielerisch auf die Reling. Die Schneide drang fingertief ein und sprang mit einem hellen Klingen zurück. Skar hob die Waffe verblüfft vor die Augen. Die Klinge aus nahezu unzerstörbarem Sternenstahl hatte eine deutliche Scharte abbekommen.

Ein unmerkliches Beben ging durch den Schiffsrumpf. Skar fuhr zusammen, als er eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrzunehmen glaubte. Für einen winzigen Moment glaubte er, eine schlanke, in schwarzes Leder gehüllte Gestalt am Heck des Schiffes zu sehen, dunkle Augen, die ihn unter einem schwarzen Helm hervor anblickten ... Aber da war nichts. Das Schiff lag tot und reglos wie ein gewaltiger verkohlter Leichnam unter ihm.

Ein Blick in die Gesichter der anderen sagte ihm, daß es ihnen nicht besser erging. Selbst die Lippen des Veden zuckten nervös; seine Augen hatten sich um eine Winzigkeit geweitet. Er war blaß. Auch im Tode strahlte der Dronte noch immer Feindseligkeit und Haß aus. Einen Haß, der alles überstieg, was Skar jemals erlebt hatte.

Skar ging mit ein paar Schritten in Richtung Heck und blieb erneut stehen. Hier ungefähr mußte die Stelle sein, an der das Deck des Dronte aufgebrochen war. Aber die schwarzen Planken waren glatt und unbeschädigt. Er glaubte, eine veränderte Färbung entlang einer gezackten Linie zu seinen Füßen zu bemerken, aber er war sich nicht sicher, ob sie Realität war oder er die Wunde nur sah, weil er sie sehen wollte.

Er kniete nieder und fuhr mit den Fingerspitzen über den Boden. Er fühlte sich an dieser Stelle nicht hart, sondern im Gegenteil weich und nachgiebig und - so absurd ihm selbst dieser Vergleich vorkam - fiebrig an.

Skar schloß die Augen und konzentrierte sich für einen Moment ganz auf die Eindrücke, die ihm die Nervenenden in seinen Fingerspitzen übermittelten. Er glaubte, ein sanftes, langsames Vibrieren zu spüren, etwas wie das mühsame Schlagen eines gigantischen Herzens... Skar griff fester zu. Das scheinbar massive Holz zerriß unter seinen Fingern, zerfaserte zu einer dünnen, lappigen Haut, die von feuchtglänzenden Fäden durchzogen war, und gab den Blick auf den darunterliegenden Hohlraum frei, eine klaffende, dunkle Wunde, auf deren Grund etwas Schwarzes, Formloses brodelte... Dunkle Linien aus Schwarz vor einem noch schwärzeren Hintergrund, ein Netz vibrierender, schimmernder Linien, da und dort verdickt, lebend, pochend, lebend, lebend, lebend...

»Skar!« Dels Stimme kippte fast über vor Panik. »Zurück! Komm zurück! DAS DING LEBT!«

Für eine endlose Sekunde war Skar gelähmt vor Schrecken und ungläubigem Entsetzen. Er wollte sich bewegen, aber es ging nicht. So wie dieses Ding unter ihm plötzlich von Leben erfüllt war, schien sein Körper erstarrt, gelähmt durch den ungeheuerlichen Anblick, durch die Furcht und die Erinnerungen, die er in seinem Geleit führte. Und dann geschah alles gleichzeitig.

Das Schiff bebte. Eine Reihe schneller, krampfartiger Stöße lief durch den Rumpf, ein Vibrieren und Zittern, als schüttle sich der gewaltige Leib unter einer Welle von Schmerz und Qual. Oder Zorn. Ein Teil der Reling brach ab und stürzte ins Wasser, Wasser, das plötzlich wie unter einer gewaltigen inneren Spannung zu kochen und zu brodeln begann. Ein dumpfes, mahlendes Stöhnen drang aus dem Rumpf, brach sich an den glatten Eiswänden des Kanals und wurde grausam verzerrt zurückgeworfen. Etwas Großes, Dunkles löste sich mit einem peitschenden Knall vom Hauptmast, sirrte wie die Klinge eines gewaltigen schwarzen Schafotts herunter und blieb zitternd neben Skar stecken. Der Aufprall schlug winzige Splitter aus dem Deck; mikroskopische Pfeile, die rings um ihn niederregneten, über seine Haut schrammten und mit trockenem Knacken von seinem Harnisch abprallten, dunkle Furchen in das steinharte Leder reißend. Einer der winzigen spitzen Dolche traf seinen ungeschützten Oberarm und biß tief in seinen Muskel.

Skar schrie vor Schmerz und Überraschung auf und erwachte endlich aus seiner Erstarrung. Ein neuerliches Beben ließ das Schiff unter seinen Füßen erzittern. Die scheinbar fugenlosen Planken unter ihm brachen auf, verwandelten sich in ein gewaltiges schnappendes Schildkrötenmaul, das ihn zu verschlingen trachtete. Skar prallte zurück, ließ sich blitzschnell zur Seite und nach hinten fallen und rollte über die Schulter ab. Seine Gedanken waren noch immer taub, starr vor Schrecken und ungläubiger Furcht, ein ungläubiges Gefühl fürchterlichen dejá-vus, das ihn stärker lähmte als Gift, aber seine Reflexe, in Jahrzehnten antrainiert, behielten die Oberhand. Seine Schläfe krachte gegen den zusammengeschmolzenen Rest eines Decksaufbaus. Er stöhnte, rollte blindlings herum und sah ein weiteres messerscharfes Knochenmaul vor sich aufklaffen. Blind vor Schmerz und Panik riß er seine Waffe hoch und schlug mit aller Gewalt zu. Die Klinge schrammte über verkohltes schwarzes Horn, geriet zwischen die mahlenden Kiefer und brach ab; der Ruck prellte ihm das Heft aus der Hand und jagte einen neuerlichen lähmenden Schmerz durch seine Arme.

Skar warf sich fluchend herum, kam auf Hände und Knie hoch und robbte keuchend zur Reling. Neben ihm schrie einer der Matrosen gellend auf, warf die Arme in die Luft und verschwand, als der Boden unter ihm aufriß. Sein Schrei brach ab, wurde von einem gräßlichen mahlenden Geräusch verschluckt. Der Schmerz in seinem Arm steigerte sich ins Unerträgliche.

Skar brach zusammen, drehte sich mühsam auf den Rücken und tastete mit zusammengebissenen Zähnen nach dem winzigen beißenden Splitter in seinem Arm. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, aber er ignorierte ihn und riß das Geschoß heraus. Der Splitter war kaum länger als sein kleiner Finger, aber sein Arm schmerzte, als wäre er von einem Axthieb getroffen worden. Ein Tropfen schwarzer, ölig glänzender Flüssigkeit quoll aus der Wunde, gefolgt von einem Strom hellroten Blutes. Das Schiff zitterte erneut. Ein gellender Aufschrei zerschnitt die Luft, gefolgt von einem hellen, schlangenhaften Zischen und einem fürchterlichen Laut, der ihn an das Geräusch brechender Knochen erinnerte. Skar warf sich blind nach vorne, als er eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. Seine Finger krallten sich um den verschmorten Rest der Reling. Mit einer verzweifelten Bewegung zog er seinen Körper über Bord. Da, wo er gerade noch gelegen hatte, bohrte sich etwas Riesiges, Dunkles und Schweres in das Deck. Der Aufprall ließ das gesamte Schiff erzittern.

Der Sturz in das eisige Wasser betäubte ihn fast. Mühsam kämpfte er sich an die Oberfläche, rang keuchend nach Atem und versuchte, den immer noch schlimmer werdenden Schmerz in seinem Arm zu ignorieren. Seine Hand war gelähmt und taub, ein nutzloser, verquollener Fleischklumpen, in dem keine anderen Gefühle als Schmerz und unerträgliche Qual waren. Er spürte, wie die Lähmung sein Handgelenk erreichte und unbarmherzig weiterkroch. Obwohl er erst wenige Sekunden im Wasser war, begann die Kälte bereits deutlich an seinen Kräften zu zehren. Er rang keuchend nach Luft, versuchte den Kopf über Wasser zu halten und schwamm, mit ungeschickten, ruckartigen Stößen und nur den rechten Arm und die Beine gebrauchend, auf das Boot zu, in dem Del und die beiden Matrosen hilflos den letzten Akt des Dramas verfolgten. Irgend etwas klatschte neben ihm ins Wasser und versank sprudelnd in der Tiefe.

Skar warf sich herum, schluckte Wasser und kam keuchend und würgend wieder an die Oberfläche, nur um eine halbe Sekunde später erneut wie von einer gewaltigen eisernen Faust in die Tiefe gezogen zu werden. Das Wasser rings um ihn herum schien zu kochen. Die Kälte biß wie flüssiges Feuer durch seine Haut, verwandelte seine Muskeln in verkrampfte, nutzlose Bündel und lähmte seine Lungen. Jemand griff nach seinem Arm - dem linken, schmerzenden Arm -, packte ihn und riß seinen fast leblosen Körper mit einem Ruck, der ihm fast das Schultergelenk auseinanderzureißen schien, an Bord der Pinasse. Seine Rippen schrammten über die niedrige Bordwand.

Er spürte den Schmerz kaum noch. Im Wasser war die Kälte grausam gewesen; hier war sie unerträglich. Skar hustete, erbrach Salzwasser und blutigen Schleim und ließ sich keuchend und würgend zwischen Dels Beinen zu Boden sinken. Die Kälte fiel über ihn her wie ein wütendes Tier, versengte seine Haut, stach und wühlte in seinen Eingeweiden und machte jeden Atemzug zur Höllenqual. Vor seinen Augen wogten blutgetränkte Nebelschleier.

»Bist du in Ordnung?« Del berührte seine Schulter, schlug ihm zweimal hintereinander mit der flachen Hand ins Gesicht und schüttelte ihn so lange, bis er die Augen öffnete. Das Boot zitterte. Eine eisige Welle schwappte über seinen Rand. Ein gellender, unmenschlicher Aufschrei zerschnitt die Luft. Ruder klatschten ins Wasser. Jemand schrie.

»Rayan!« stöhnte Del.

Skar stemmte sich mühsam hoch. Er zitterte. Seine Zähne schlugen klappernd aufeinander, und seine Haut schien am eisverkrusteten Holz des Bootes festzukleben. Er mußte all seine Willenskraft aufbieten, um sich vollends aufzusetzen.

Rayan, Helth und der zweite Matrose waren wie durch ein Wunder noch am Leben. Skar begriff plötzlich, daß seit seinem verzweifelten Sprung ins Wasser erst wenige Sekunden verstrichen waren, obwohl es ihm wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen war.

Der Dronte schien alle Energie aufzubieten, um seiner Opfer doch noch habhaft zu werden. Irgend etwas Schwarzes, Formloses wuchs hinter den drei Männern auf und griff mit dünnen, peitschenden Tentakeln nach ihnen. Helth wirbelte herum. Das Schwert sprang wie von selbst in seine Hand, schnitt einen flirrenden Halbkreis in die Luft und zerbrach an schwarzglänzendem Horn. Der Vede taumelte zurück, strauchelte und fiel mit einem gellenden Aufschrei über Bord. Ein Hagel von winzigen Geschossen überschüttete die beiden anderen Männer als sie verzweifelt versuchten, ebenfalls zur Reling durchzubrechen. Der Matrose schrie auf, griff sich an die Brust und brach in die Knie. Roter, blasiger Schaum trat auf seine Lippen. Er ließ seine Waffe fallen, stemmte sich noch einmal hoch und taumelte, blind vor Schmerz und Angst, auf die Reling zu.

Del keuchte, als er die Gefahr erkannte. »Paß auf!«

Seine Warnung kam zu spät. Der Hauptmast zuckte. Rayan schrie auf, wurde wie eine Stoffpuppe durch die Luft geschleudert und versank in brodelndem Wasser. Eine rasche, wellenförmige Bewegung lief über das Deck des Dronte. Die Rahe senkte sich wie ein absurder dürrer Finger herab, schlug mit einer spielerisch anmutenden Bewegung nach dem flüchtenden Matrosen und schnippte ihm den Kopf von den Schultern. Der verstümmelte Torso taumelte noch zwei, drei Schritte weiter und brach wie vom Blitz getroffen zusammen.

Skar schloß entsetzt die Augen. Eine Übelkeit stieg in ihm empor, die nicht allein auf die Verletzungen und die Schwäche zurückzuführen war. Das Boot bebte, als die beiden Matrosen in die Ruder griffen und verzweifelt auf das zuckende Wrack des Dronte zupaddelten. Rayan trieb wenige Fuß vor ihnen im Meer, das sich in seiner unmittelbaren Umgebung hellrosa zu färben begann. Del beugte sich hinab, bekam den Gürtel des Freiseglers zu fassen und zerrte ihn mit einer gewaltigen Kraftanstrengung an Bord.

Skars Übelkeit wurde noch schlimmer, als er sah, wie schwer der Freisegler verletzt war. Sein rechter Arm war dicht unter dem Ellbogengelenk abgetrennt, und quer über Schädel und Gesicht zog sich eine klaffende, bis auf den Knochen reichende Wunde. Seltsamerweise bluteten die Wunden kaum.

Das Boot schaukelte heftig und füllte sich knöcheltief mit Wasser, als Helth auf der anderen Seite an Bord kroch. Einer der Matrosen wollte ihm helfen, aber der Vede schlug seine Hand wütend beiseite. Sein schwarzer Umhang war zerfetzt und blutig, und auf seinem Gesicht spiegelten sich Erschöpfung und Furcht, aber auch noch etwas anderes, nämlich Haß und starres, eingefrorenes Grauen. Ein Haß, der Skar an den Ausdruck erinnerte, den er auf Rayans Zügen bemerkt hatte, bevor sie an Bord des Dronte gegangen waren.

Rayan stöhnte leise, während Del sich einen Moment ungeschickt an seinem Gürtel zu schaffen machte und ihn dann kurzerhand entzweiriß, um seinen Armstumpf damit abzubinden. Eine Hilfeleistung, die ebenso schmerzhaft wie sinnlos war, dachte Skar. Sie zögerten das Ende nur hinaus, vermutlich um nicht mehr als Minuten. Es wäre barmherziger, Rayan verbluten zu lassen.

Die gespaltenen Lippen des Freiseglers zuckten. Ein gurgelnder, furchtbarer Laut entrang sich seiner Brust, vermischt mit schnellen, abgerissenen Worten in einer unverständlichen Sprache.

Die Pinasse wendete, und der Dronte fiel rasch hinter ihnen zurück. Schon nach wenigen Augenblicken war das Ungeheuer zu einem formlosen Schatten zusammengeschrumpft, der schließlich ganz hinter treibenden Nebelschwaden verschwand. Aber etwas von ihm schien sie zu begleiten, ein stummer, drohender, unsichtbarer Schatten, ein Stück der körperlosen Furcht, die der Dronte ausatmete. Etwas von seinem Haß auf alles Lebende, Fühlende.

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