Rayan legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zur Mastspitze empor. Das Gesicht des Freiseglers wirkte blaß und kränklich. Seine Augen waren gerötet und müde; mit tiefen, blauschwarzen Ringen unterlegt und eingefallen, was seinem Aussehen etwas von einer haarlosen fetten Eule verlieh. Die Haut glänzte, wo sie zum Schutz gegen Kälte und Wind mit Fischöl eingerieben war, und seine Bewegungen hatten viel von ihrer Behäbigkeit verloren und waren jetzt unkontrolliert und fahrig; nervös und von der hektischen Art eines Menschen, der am Rande des körperlichen Zusammenbruches stand und sich nur noch mit äußerster Anstrengung auf den Beinen hielt. Er hatte in den vergangenen drei Nächten kaum geschlafen, und die unzähligen Stunden, die er ununterbrochen an Deck gewesen war, begannen ihren Tribut zu fordern. Sein linkes Auge zuckte immer wieder, gleichermaßen nervös wie geblendet vom grellen Licht der Sonne; einer Sonne, die übergroß und strahlend im Zenit stand und Meer und Himmel mit einer Kaskade gelbroter Helligkeit übergoß, als wolle sie der grimmigen Kälte und dem Heulen des Eissturmes Hohn sprechen.
»Nun?«
Skar deutete nach Westen und sah den Freisegler fragend an.
Rayan drehte sich schwerfällig um. Sein linkes Augenlid flackerte noch immer nervös, und unter dem wulstigen Fett seines Doppelkinnes zuckte ein Nerv.
Für einen Moment spiegelte sich das rote Licht der Sonne in seinen Pupillen, was ihm zusammen mit seiner unnatürlich blassen Haut beinahe das Aussehen eines Albinos verlieh. »Nichts«, murmelte er. »Nichts Neues, jedenfalls. Er kommt näher.« Er seufzte, sah noch einmal zu der dickvermummten Gestalt im Mastkorb hinauf und hob die Schultern; eine leere Geste ohne wirkliche Bedeutung, die aber mehr als alle Worte seine Hilflosigkeit ausdrückte.
Skar sah ihn einen Moment lang scharf an, beließ es aber ebenfalls bei einem Achselzucken und fuhr herum, um mit zwei, drei schnellen Schritten zur Reling hinüberzugehen. Seine Bewegungen wirkten steif und ungelenk, als lähme die Kälte seine Muskeln, so daß sie ihm nur noch widerwillig gehorchten. Die zernarbten Planken ächzten unter seinen Füßen, als könnten sie sein Gewicht kaum mehr verkraften und wären müde geworden wie die Männer, die sie tragen mußten. Das Schiff hob und senkte sich in sanftem, unablässigem Auf und Ab, aber selbst diese Bewegung erschien Skar träge und mühsam, und das Knarren, Quietschen und Stöhnen der Takelage schien einen bizarren Gegentakt zum Heulen des Sturmes zu schlagen.
Skar legte erschöpft die Hände auf die Reling, schloß die Augen und gab sich für die Dauer eines Atemzuges ganz der eisigen Kälte und den wütenden Hieben des Windes hin. Der Sturm riß Wasser in gischtenden Schwaden von der Meeresoberfläche empor und schleuderte es gegen das Schiff. Die nadelspitzen Tropfen bissen wie winzige scharfe Zähne in seine Haut, und der Hauch des Salzwassers vermischte sich mit der Kälte und dem fauligen Geruch, der aus der Bilge heraufstieg, zu einem seltsamen, nicht einmal unbedingt unangenehmen Aroma. Hier, nur wenige Fuß über dem schäumenden Meer, spürte man die Kälte besonders schmerzhaft. Skar konnte fühlen, wie sie aus dem vereisten Holz in seine Fingerspitzen kroch, langsam in seinen Armen emporstieg und sich wie ein klammer, lähmender Mantel über seinen ganzen Körper ausbreitete. Die Luft schmeckte nach Metall und brannte bei jedem Atemzug in seiner Kehle, aber der Schmerz und die Kälte vertrieben wenigstens für einen Moment die quälenden Gedanken aus seinem Schädel und schufen eine wohltuende Leere.
Die SHAROKAAN bebte, als eine besonders mächtige Woge heranrollte und sich brüllend an ihrer Flanke brach.
Der Seegang war nur scheinbar gleichmäßig. Skar hatte Zeit genug gehabt, ihn zu studieren: Jede zehnte oder zwölfte Welle war größer als die anderen, eine brüllende Wand aus schäumendem graugrünem Wasser, als müsse das Meer jedesmal Atem schöpfen, um zu einem besonders wütenden Hieb gegen den frechen Eindringling auszuholen, der es gewagt hatte, so weit in sein Reich einzudringen. Für einen Moment krängte das Schiff über; eisiges Wasser schwappte auf das Deck und schlug mit einer Million winziger schäumender Krallen nach Skars Beinen, so daß er sich unwillkürlich fester an die Reling klammerte. Das bewahrte ihn zwar davor, über Bord gespült zu werden, würde ihm aber nichts nützen, wenn die SHAROKAAN wirklich kenterte. Ein Sturz in das eisige Wasser mußte in wenigen Augenblicken zum Tode führen. Doch er wußte auch, daß das so plump wirkende Schiff eine ganze Menge mehr vertrug als diesen Sturm. Der Freisegler mochte dem ungeübten Auge einer Landratte, wie Del und er es noch vor wenigen Tagen gewesen waren, schwerfällig erscheinen, aber dieser Eindruck täuschte. Der Dreimaster erreichte bei voll aufgezogener Takelage eine erstaunliche Geschwindigkeit, und der breit ausladende Rumpf widerstand Brechern, die weitaus größere Schiffe wie Spielzeuge zerschmettert hätten. Nein - das Meer war nicht ihr Feind. Die wirkliche Gefahr kam aus einer ganz anderen Richtung. Skar drehte das Gesicht in den Wind und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen nach Westen. Selbst mit bloßem Auge war der Dronte jetzt zu erkennen: ein winziger schwarzer Punkt, der im monotonen Takt der Wellen am Horizont erschien und wieder verschwand, erschien und wieder verschwand, immer und immer wieder, als wolle er sie damit zusätzlich verspotten.
Seine Hand glitt unwillkürlich zum Gürtel und fuhr über die leere Schwertscheide. Das Gefühl, unbewaffnet zu sein, irritierte ihn noch immer. Er kam sich nackt und schutzlos vor. Selbst der Gedanke, daß dieser Kampf nach anderen Regeln als den ihm vertrauten ausgetragen wurde und ihm die Waffe sowieso nichts genutzt hätte, änderte nichts daran. Er hatte Rayan einmal gebeten, ihm seine Waffe wiederzugeben, gleich nachdem sie den Dronte zum ersten Mal sichteten, aber der Freisegler war hart geblieben. Niemand außer ihm und den beiden Veden besaß an Bord das Recht, Waffen zu tragen; nicht einmal einen Dolch oder einen Zierdegen. Skar hatte nicht noch einmal gefragt. Er war es nicht gewohnt, zu betteln.
Sein Blick wanderte ziellos über das Deck. Die verquollenen Planken waren von einer matt glänzenden Schicht aus eingetrocknetem Salz und Fett überzogen; da und dort hatten sich Rauhreif und Eis in kleinen glitzernden Nestern festgesetzt. Takelage und Segel waren schwer vom Eis, und von der Reling wuchs ein bizarres Netz blitzender Eiszapfen.
Skar brach ein paar davon mit einer spielerischen Bewegung ab, warf sie ins Meer und sah ihnen nach, bis sie in den schäumenden Fluten versunken waren, ehe er sich herumdrehte und den Matrosen bei ihrem ruhelosen Tun zusah. Die Hälfte der Besatzung schien ununterbrochen damit beschäftigt zu sein, Taue und Segel frei und geschmeidig zu halten. Sie kämpften einen vergeblichen Kampf. Der Sturm überschüttete das Schiff seit Tagen mit einem Sprühregen aus Wasser und Hagel und Schnee. Feuchtigkeit, klamme, alles durchdringende Nässe hüllte es ein wie der Atem eines eisigen Gottes, kroch beharrlich in Holz und Segel und Tauwerk, selbst in die Körper der Männer, durchtränkte gleichermaßen ihre Kleider wie ihre Bewegungen, ihre Gedanken und ihre Seelen. Die SHAROKAAN schien sich mit Wasser vollgesogen zu haben wie ein gigantischer Schwamm, und die eisige Kälte ließ die Feuchtigkeit rascher gefrieren, als die Männer das Eis abkratzen und wegschlagen konnten. Das Schiff stöhnte bereits jetzt unter der schweren Last des Eispanzers, der sich wie ein wucherndes Geschwür über Deck und Rumpf und Segel und Masten ausbreitete, dünne, glitzernde Arme um Reling und Tauwerk schlang und bizarre weiße Gewächse aus Ecken und Winkeln emporsprießen ließ. Selbst das Salz, das sie anfangs verwendeten, um auf den vereisten Planken wenigstens schmale Wege begehbar zu halten, hatte jetzt seine Wirkung verloren. Das Meer schien sich einen bösen Spaß daraus zu machen, es rascher von Deck zu waschen, als sie es ausstreuen konnten, und die so vom Eis befreiten Planken nur noch schneller wieder mit einer rutschigen Schicht zu überziehen. Auch wenn der Dronte mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte -, die SHAROKAAN wurde stündlich langsamer, um eine Winzigkeit nur, aber stetig, und der Zeitpunkt war abzusehen, an dem das Schiff überhaupt keine Fahrt mehr machen oder einfach unter dem Gewicht des auf ihm lastenden Eises auseinanderbrechen würde. Es lag schon jetzt merklich tiefer im Wasser als zu Beginn der Reise.
Aber wahrscheinlich würde es gar nicht soweit kommen, dachte Skar düster. Irgendwann im Laufe der nächsten Tage mußte der Dronte nahe genug herangekommen sein, um seine furchtbaren Katapulte einsetzen zu können. Das gnadenlose Rennen zwischen ihnen und dem schwarzen Segler dauerte nun schon mehr als drei Tage und Nächte, aber an seinem Ausgang hatte von Anfang an kein ernsthafter Zweifel bestanden. Der Dronte war schneller. Nicht viel, aber er war schneller.
Skar trat von der Reling zurück und versuchte, die Gedanken an den Dronte und das, was vor ihnen lag, abzuschütteln. Es ging nicht, genausowenig, wie sie der Gefahr entgehen konnten, indem sie sie einfach ignorierten, konnte er sie aus seinen Gedanken verbannen. Fröstelnd schlang er die Arme um den Oberkörper, trat einen Moment auf der Stelle und schlitterte dann vorsichtig über das vereiste Deck zum Achteraufbau zurück. Eine Eisplatte löste sich von einem der Hauptsegel, als er unter dem Mast hindurchging, krachte weniger als einen Meter neben ihm wie eine gläserne Guillotine herab und zerbarst klirrend, aber Skar zuckte nicht einmal zusammen. Selbst gegen die größte Gefahr stumpft man mit der Zeit ab, wenn man ihr ständig ausgesetzt ist. Das Segel blähte sich, für einen Moment von der erdrückenden Last des Eises befreit, und ein ganzer Hagel kleinerer Eisstücke und Trümmer prasselte auf das Deck herab. Der Mast ächzte unter der plötzlichen Belastung, und das Knattern des Stoffes erinnerte Skar an den dumpfen Trommelschlag galoppierender Pferde, einen Laut, den er in letzter Zeit immer häufiger vermißte. Satai waren nicht für das Meer geboren, wenigstens das hatte er begriffen. Wenn auch vielleicht zu spät. Das Schiff zitterte unter seinen Füßen. Er blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zu den winzigen, buntgekleideten Gestalten empor, die hoch über ihm durch die Takelage krochen und mit Äxten und Pickeln den schimmernden Panzer aufzubrechen versuchten. Die Männer waren mit Seilen und Ketten gesichert. Trotzdem war das, was sie taten, lebensgefährlich. Sie hatten schon vier Männer verloren; Opfer der Kälte und des tückischen Windes, die die schmalen Spieren in tödliche Fallen verwandelten, vereiste Laufstege, auf denen eine einzige Unaufmerksamkeit, ein Sekundenbruchteil des Leichtsinns bereits den sicheren Tod bedeutete. Der Anblick ließ Skar an ein gewaltiges, kompliziert gewobenes Netz denken, in dessen zahlreichen Zentren sich große plumpe Spinnentiere bewegten. Die vier, die bisher umgekommen waren, würden nicht die letzten sein. Und die Männer dort oben wußten das; vielleicht besser als er. Dessenungeachtet stiegen sie weiter hinauf, ohne zu protestieren, stellten sich dem Wind und der Kälte und arbeiteten, bis ihre Finger steif und nutzlos geworden waren und sie von anderen abgelöst werden mußten.
Skar ging weiter, öffnete die niedrige Tür und eilte zur Kajüte herunter. Die Treppe führte steil in die Tiefe und war auf den obersten Stufen vereist wie das Deck, und Skar mußte den Kopf einziehen, um sich nicht an der niedrigen Decke zu stoßen. Eine Wolke übelriechender, schaler Luft schlug ihm entgegen, und wie immer, wenn er sich unter Deck aufhielt, hatte er im ersten Moment das Gefühl, ersticken zu müssen.
Freisegler waren keine Passagierschiffe. Es gab hier keine hellen, freundlichen Kabinen mit Schlaf- oder Waschgelegenheiten, sondern nur einen einzigen niedrigen Raum, der gleichermaßen für den Kapitän als auch die Besatzung und eventuelle Passagiere als Unterkunft diente und zudem noch einige Fuß unter der Wasserlinie lag.
Skar blieb eine halbe Sekunde lang unter dem Eingang stehen, sah sich in dem von trüber rötlicher Helligkeit erleuchteten Raum um und ging dann auf Gowenna und Rayan zu, die an einem roh gezimmerten Tisch hockten und aufgeregt miteinander debattierten. Neben dem Freisegler saß Helth, einer der beiden Veden, die ihn gewöhnlich auf Schritt und Tritt begleiteten. Skar zögerte ein wenig im Weitergehen, aber das war nicht allein auf die Anwesenheit des schwarzhaarigen Hünen zurückzuführen - obwohl es kein Geheimnis war, daß sie nicht gerade Freunde waren. Er fühlte sich unwohl, körperlich unwohl. Die Wände waren feucht und strömten einen durchdringenden Modergeruch aus, und die niedrige Decke vermittelte ihm ein kaum zu bezwingendes Gefühl von Platzangst. In den Ritzen des Fußbodens hatte sich Wasser gesammelt, und trotz der glühenden Kohlebecken an den Wänden war es hier und da zur Bildung von Rauhreif gekommen: erste Vorboten des eisigen Winters, der das Schiff gepackt hatte und sich beharrlich in seine Eingeweide wühlte. Dazu kam das Wissen, sich tief unter der Wasseroberfläche zu befinden. Ein Wissen, das in Skar das Gefühl weckte, lebendig begraben zu sein. Er konnte das Wasser spüren. Tonnen um Tonnen eisigen, tödlichen Wassers, das das Schiff wie eine gewaltige Faust umklammerte und gierig an seinen Flanken leckte, immer auf der Suche nach einem Riß, einer Spalte, einer haarfeinen undichten Stelle, die es sprengen und zu einem Leck erweitern konnte.
Skars Atem ging unwillkürlich schneller. Er versuchte den Gedanken zu vertreiben und sich einzureden, daß seine Sorgen unbegründet seien, aber die Furcht in seiner Seele war nicht von der Art, gegen die man sich mit Logik zur Wehr setzen konnte.
Gowenna sah auf, als er neben sie trat. Ihre Haut glänzte wie Wachs in der trübroten Beleuchtung, und ihr Haar war, obwohl sie es auch hier an Bord jeden Tag sorgsam kämmte und bürstete, strähnig und glanzlos geworden. Das Salzwasser hatte die Farbe herausgebissen. Sie schien um Jahre gealtert und wirkte krank. Aber sie hatte die Wache vor Skar gehabt - zwölf Stunden bei eisigem Wind und kälteklirrender Luft -, und ihre Züge waren von der Anstrengung gezeichnet.
Skar nickte knapp. »Du schläfst nicht?«
Gowenna verneinte. »Nein, wie du siehst.« Sie sprach schnell und fast ohne jede Betonung, und ihre Lippen, die sich nur zur Hälfte bewegten, ließen die Worte noch monotoner erscheinen, als sie ohnehin klangen.
»Ich konnte nicht schlafen.« Sie machte eine einladende Geste, stützte sich mit den Ellenbogen auf die Tischplatte und bettete das Kinn in die Hände.
Skar zögerte einen Moment und ließ sich dann auf einen der dreibeinigen Schemel sinken. Sein Blick suchte den Rayans. Sie waren seit elf Tagen an Bord der SHAROKAAN, aber es war das erste Mal, daß er Rayan - oder irgendein anderes Mitglied der Besatzung - im Gespräch mit Gowenna sah. Bisher hatten sie alle ihre Nähe beinahe ängstlich gemieden.
Zwischen den buschigen Brauen des Freiseglers entstand eine steile Falte. »Du hast Wache«, sagte er leise. Rayan war kein Mann großer Worte. Während der letzten Tage war seine Art zu reden noch knapper als gewöhnlich geworden, und wenn er überhaupt sprach, dann kam er ohne Umschweife oder verzierende Schnörkel direkt zur Sache.
»Möglich«, antwortete Skar trotzig. »Aber ich pflege Befehle nur dann zu befolgen, wenn ich ihren Sinn zu erkennen vermag.«
Seine rüde Antwort tat ihm fast sofort wieder leid. Er hatte keinen Streit mit Rayan; im Gegenteil. Aber die Stimmung an Bord war gereizt, und er machte da keine Ausnahme. Schließlich war auch er nur ein Mensch.
Zu seiner Überraschung nahm Rayan die Worte hin, ohne mehr als ein leises Stirnrunzeln als Zeichen seiner Mißbilligung zu äußern. »Skar hat recht«, sagte Gowenna. »Eine Wache hat nur dann Sinn, wenn es etwas zu bewachen gibt. Es hat nicht sehr viel Sinn, seine Kräfte damit zu verschleißen, daß man dem Sturm zusieht und die Hagelkörner zählt. Es wäre klüger, wenn du deine Leute für den Kampf schonst.«
Der Vede wollte auffahren, aber Rayan brachte ihn mit einer raschen Handbewegung zur Ruhe. Er lehnte sich zurück, musterte Gowenna mit einem schwer zu deutenden Blick und verschränkte die Arme vor der Brust. In seiner Stimme schwang ein spöttischer Ton, als er antwortete. »Es wird keinen Kampf geben«, sagte er ruhig. »Gegen Brandgeschosse kämpft es sich schlecht.«
»Wie lange wird es noch dauern, bis sie uns einholen?« fragte Skar hastig, als er sah, wie sich Gowennas Gesicht vor Ärger verdüsterte. Auch sie war reizbarer geworden. Schon eine spöttische Entgegnung wie die Rayans konnte genügen, sie aus der Haut fahren zu lassen. Und das letzte, was sie im Moment gebrauchen konnten, war ein Streit zwischen einem von ihnen und Rayan oder seinen Veden. Sie waren Gäste an Bord, aber - das hatte er sehr schnell begriffen - keine willkommenen, sondern allerhöchstens geduldete Gäste.
Rayan zuckte mit den Achseln, beugte sich vor und griff nach der ausgefransten Zeichenfeder, die vor ihm lag, um damit zu spielen. Ihre Spitze hinterließ eine Reihe unregelmäßiger dunkler Tintenflecke auf der Tischplatte.
»Einen Tag«, antwortete er nach kurzem Überlegen. »Allerhöchstens zwei - wenn wir Glück haben und unser Tempo halten können, heißt das. Vielleicht auch weniger«, fügte er mit einem lakonischen Achselzucken hinzu. »Niemand weiß genau, wie weit ihre Katapulte schießen. Aber wir werden es sicher bald erfahren.«
»Zumindest weiter als unsere Pfeile«, sagte Gowenna. Sie fuhr plötzlich herum, starrte Skar an und schlug die Faust in die geöffnete Linke. »Der Gedanke, mich wie ein Stück Vieh abschlachten zu lassen, macht mich krank«, stieß sie hervor.
Skar erwiderte ihren Blick gelassen. Der unausgesprochene Vorwurf in ihren Worten entging ihm keineswegs, aber er antwortete nicht darauf. Er hatte es aufgegeben, mit Gowenna zu streiten. Weder über dieses noch über irgendein anderes Thema. Sie war nicht mehr die Frau, die er in Ikne kennengelernt hatte. Schon lange nicht mehr. Ihr Gesicht war nicht das einzige, was zerstört war. Der Atem des Drachen hatte auch ihre Seele verbrannt.
»Ich will wenigstens einen von diesen Halunken mitnehmen, ehe es mich erwischt«, fuhr sie nach sekundenlangem Schweigen fort. »Die Gelegenheit hast du verpaßt«, sagte der Vede halblaut.
Skar sah alarmiert auf. Veden galten schon im allgemeinen als schweigsam und verschlossen, und die beiden schienen sich ihrem Dienstherrn noch mehr angepaßt zu haben. Er konnte sich nicht erinnern, daß einer von ihnen während der ganzen Fahrt mehr als zehn zusammenhängende Worte geredet hätte. Aber er hatte auch nicht viel Kontakt mit ihnen gehabt. Noch mehr als Rayan und seine Männer mieden sie seine und Gowennas oder Dels Nähe, gingen ihnen unauffällig, aber konsequent aus dem Weg und beschränkten sich darauf, auf eine direkte Frage mit einem Kopfnicken oder einer Geste zu antworten. Um so mehr überraschten ihn jetzt die Worte des Veden; nicht so sehr, was er sagte, sondern wie er es tat. Seine Stimme vibrierte beinahe unhörbar, und seine Haltung war nur scheinbar entspannt und drückte in Wahrheit Aggressivität und Wut aus, Regungen, die Skar an dem Veden noch nie zuvor bemerkt hatte.
»Du hättest über Bord springen und den Dronte entern können, als er nahe genug war. Vielleicht hätte uns das einen größeren Vorsprung verschafft.«
»Helth!« sagte Rayan scharf.
Der Vede fuhr zusammen, sah Rayan für die Dauer eines Lidschlages mit undeutbarem Ausdruck an und wandte sich ab. Sein Gesicht erstarrte wieder zu einer unbeweglichen Maske. Für einen Moment erinnerte er Skar an Gowenna - jene Gowenna, die in der flammenden Hölle Combats verbrannt war, nicht die, die neben ihm saß.
Skar sah an der Reaktion auf Gowennas Zügen, daß es in ihr brodelte. Ihre Hand glitt zum Gürtel und krampfte sich um die leere Schwertscheide.
»Du warst dabei, die Karte zu studieren?« fragte er hastig, um die Situation zu entspannen. Die Stimmung an Bord hatte sich während der letzten drei Tage merklich verschlechtert, und er spürte, daß nur noch ein winziger Anlaß notwendig war, um das Schiff wie ein Pulverfaß explodieren zu lassen. Ihr Verhältnis zu den Veden war schon zu Beginn der Reise nicht gerade gut gewesen, besonders Gowenna begegnete den beiden Nordländern mit kaum verhohlener Feindschaft, der gleichen eifersüchtigen Feindschaft, die sie auch ihm anfangs entgegengebracht hatte und die wohl noch immer irgendwo in ihr schlummerte. Aber es war noch etwas anderes hinzugekommen, etwas, das zuvor in ihrem Wesen fehlte und ihr vielleicht einen letzten Rest von Menschlichkeit beließ. Verbitterung. War sie vorher nur von Mißtrauen und einer geradezu grenzenlosen Wut auf die gesamte Menschheit erfüllt gewesen, so war jetzt auch noch Haß hinzugekommen. Selbst Skar ertappte sich in letzter Zeit immer öfter dabei, daß er beinahe so etwas wie Furcht vor Gowenna verspürte. Eine Furcht, die durch den Anblick ihres verbrannten Gesichtes nur noch vertieft wurde. Und die drohende Gefahr hatte die aufgestauten Ängste noch verstärkt. Rayan schenkte ihm einen raschen, dankbaren Blick, der ihm zeigte, daß er seine Absicht durchaus verstanden hatte, und nickte. »Das habe ich. Aber es ist reine Zeitverschwendung.« Er deutete auf die ausgebleichte Karte, die vor ihm auf dem Tisch lag. Fett, Schmutz und große, bräunliche Flecken, wo das Pergament ausgetrocknet und brüchig geworden war, verunzierten ihre Oberfläche. Die Ränder waren unregelmäßig vor langer Zeit einmal aus einer weitaus größeren Karte herausgerissen worden. Die Tinte war längst verblichen und die Schriftzeichen für den, der nicht sowieso wußte, was sie bedeuteten, unleserlich.
Rayan tippte mit dem Zeigefinger auf eine gestrichelte Linie, die Skar mit einiger Phantasie als die Küste des Drachenlandes erkannte. »Wir sind hier losgesegelt«, erklärte er. »In Anchor. Und hier« - er bezeichnete einen Punkt dicht daneben, ohne daß Skar klar wurde, wieso er in diesem unleserlichen Wirrwarr aus Strichen und Linien und verschmiertem Dreck irgend etwas erkennen oder gar ihre Position bestimmen konnte - »sind wir auf den Dronte gestoßen. Von dort aus sind wir ununterbrochen nach Nordwesten gesegelt und müßten uns jetzt ungefähr...« Er zögerte, fuhr mit der Fingerkuppe über den Rand der Karte hinaus und bezeichnete eine Stelle zwischen der Tischkante und dem Rand des Blattes, »...hier befinden.«
»So weit?« zweifelte Skar.
Rayan nickte. »Eher weiter. Tausend Meilen, schätze ich.«
Rayan verzog beleidigt das Gesicht. »Vielleicht sind es auch nur achthundert« schränkte er ein. »Vielleicht mehr, vielleicht weniger. Dieser verdammte Sturm hat uns weit vom Kurs gebracht. Ich weiß nicht, wie weit er uns von der Küste weggetrieben hat.«
»Könnt ihr Seeleute nicht die Position anhand der Sterne bestimmen?« fragte Gowenna.
Rayan starrte sie finster an und antwortete gar nicht.
»Und was«, fragte Skar rasch, »liegt vor uns?«
»Das wissen die Götter«, antwortete Rayan. »Und vielleicht noch die Fische. Es kann alles sein. Tausend Meilen leerer Ozean, Inseln, Festland, das Nichts...« Er seufzte. »Wenigstens wissen wir, was hinter uns ist.«
Skar wandte unwillkürlich den Blick nach Osten. Selbst durch den massiven Rumpf des Schiffes hindurch glaubte er plötzlich den dunklen, auf und ab hüpfenden Schmutzfleck auf dem Horizont zu erkennen. Es würden noch viele Stunden vergehen, ehe der Punkt so groß wurde, daß er die bizarre Form des gefürchteten schwarzen Segels erkennen konnte, und trotzdem glaubte er, die Nähe der Gefahr wie einen körperlichen Schmerz zu fühlen. Für einen Moment verspürte er ein aberwitziges Gefühl des Bedauerns. Er konnte Gowennas Unruhe verstehen - es war die gleiche Art von Unruhe, die auch ihn quälte, nur gedämpft durch die Erfahrung eines zehn Jahre längeren Lebens; oder was er dafür hielt. Die Gewißheit, einen Kampf ohne die geringsten Aussichten auf einen Sieg antreten zu müssen, war schlimm. Aber Stunde um Stunde dazusitzen und das unbarmherzige Näherkommen des Kaperschiffes zu beobachten war beinahe noch schlimmer. Er hielt Rayans Blick sekundenlang stand, versuchte zu lächeln und stand auf. Er fror. Die Kälte war längst auch in diesen Teil des Schiffes gekrochen, und die glühenden Kohlebecken kämpften einen vergeblichen Kampf gegen die Feuchtigkeit, die ihr auf dem Fuß folgte. Trotzdem trugen sowohl Gowenna als auch er nur dünne Lederhemden über ihren Panzern. Warme Kleidung, das hatten sie bereits nach den ersten Stunden an Deck feststellen müssen, nutzte an Deck kaum etwas. Der eisige Wind durchdrang alles, tränkte selbst die dicksten Pelze mit Feuchtigkeit und verwandelte sie in wenigen Augenblicken in kalte, klamme Mäntel, die ihre Körper eher noch mehr auskühlten als wärmten.
»Wohin?« fragte Rayan.
Skar deutete mit einer Kopfbewegung auf die niedrige Tür am anderen Ende des Raumes. »Ich werde nach Del sehen«, sagte er. »Vielleicht kann ich auch ein wenig schlafen oder wenigstens ausruhen.«
»Und deine Wache?« erinnerte Helth.
Skar schenkte ihm einen abfälligen Blick. »Ich schenke sie dir«, sagte er bissig. »Stell dich selbst an die Reling, wenn du Angst hast, daß dir der Himmel auf den Kopf fällt.« Seine Worte waren schärfer, als im Augenblick vielleicht angebracht war. Er lag nicht im Streit mit dem Veden und wollte ihn auch nicht, aber die hochmütige Art, in der Helth Gowenna behandelt hatte, ärgerte ihn. Er wußte wohl von allen an Bord am allerbesten, wie wenig Gowenna einen Beschützer brauchte, aber sie waren zu lange zusammen, als daß es ihm gleichgültig sein konnte, wie man sie behandelte. Vielleicht war er auch trotz allem zu sehr Mann und Gowenna, trotz allem, zu sehr Frau. Der logische Teil seines Denkens sagte ihm, daß Gowenna von dem Veden nichts zu befürchten hatte. Helth war, unbeschadet seines hochmütigen Auftretens und der Meisterschaft, mit der er seine Waffen zu handhaben verstand, nicht viel mehr als ein zu groß geratenes Kind, und zudem der einzige an Bord, der nicht wußte, wie sehr Gowenna ihm überlegen war; nicht nur mit Worten. Aber es gab noch einen anderen Skar, einen, der einfach nur Mann war und dessen Beschützerinstinkte durch Gowennas Anwesenheit geweckt wurden, der ihm zumindest das Gefühl gab, etwas für sie zu empfinden, auch wenn es in Wirklichkeit nicht da war. Nicht mehr. Trotzdem konnte er nicht so tun, als wäre sie eine Fremde. Dazu waren sie zu lange zusammengewesen.
Er schenkte Helth einen letzten, bösen Blick, wandte sich mit einem Ruck um und ging mit weit ausgreifenden Schritten auf die Tür zu.