Der Sturm brach los, als sie nach einer halben Stunde tief in die Stadt eingedrungen waren, und er war - wie alles, dem sie auf dieser Insel am Ende der Welt begegnet waren - extrem. Der Himmel wurde erst gelb, dann grau und wenig später schwarz, wie eine brodelnde Decke, die sich über den glitzernden Skulpturen Cor-ty-cors ausbreitete.
Skar hatte niemals einen Sturm wie diesen erlebt. Der Wind steigerte sich in wenigen Augenblicken zum Orkan und überschüttete sie mit unablässigen Hagelschauern von Schnee und winzigen scharfen Eiskristallen, die sich wie Glassplitter in ihren Haaren und Kleidern festsetzten und ihre Haut zerschnitten, wo sie sie ungeschützt und mit der ganzen Kraft, mit der sie der Sturm peitschte, trafen, und in immer schnellerer Folge zuckten Blitze aus den Wolken herab, ohne in die Erde oder in einen der gekrümmten Eisfinger, die die Stadt in den Himmel reckte, auch nur einmal einzuschlagen. Das Gespenstischste aber war die Lautlosigkeit, mit der dies alles geschah. Die Wolken brodelten wie ein schwarzgrauer Hexenkessel über der Ebene, so tief, daß Skar glaubte, nur den Arm ausstrecken zu müssen, um seine Hand in der wabernden schwarzen Masse versinken zu sehen, und der Sturm fing sich in den bizarr gekrümmten Gassen und Wegen, die zwischen den Eisruinen hindurchführten wie in einem Windkanal und gewann so noch zusätzlich an Kraft - und trotzdem war von alledem kaum mehr zu hören als ein dumpfes Rauschen und Brausen, das nicht viel intensiver war als der Laut einer noch weit entfernten Meeresbrandung. Anders als normales Eis reflektierte die blitzende Masse rings um sie herum den Schall nicht, sondern sog ihn auf und verschluckte ihn wie ein gewaltiger weißer Schwamm. Skar war schon zuvor aufgefallen, wie lautlos ihr Vormarsch vonstatten ging: Nicht einer von ihnen hatte noch Kraft oder gar Lust zum Reden gehabt, aber sie waren immerhin siebenunddreißig, und trotzdem war das Geräusch ihrer Schritte auf dem harten Eis beinahe unhörbar gewesen. Aber da hatte er seiner Beobachtung keine Bedeutung zugemessen. Und wahrscheinlich hatte sie auch keine - außer der, das Rätsel dieser Insel noch weiter zu vergrößern und der Liste des Unerklärlichen, dem sie begegnet waren, einen weiteren Punkt hinzuzufügen.
Del, der wenige Schritte vor ihm ging, wandte den Kopf, hielt die Hand schützend vor das Gesicht und schrie etwas; Skar erkannte es nur an seinen Lippenbewegungen. Die senkrechte weiße Wand, in deren Windschatten sie sich vorwärts tasteten, verschluckte seine Worte und ließ eine stumme Pantomime daraus werden. Skar schüttelte den Kopf, deutete auf sein Ohr und schüttelte wieder den Kopf; mit der übertriebenen Art, deren sich Menschen bedienen, die auf Gesten angewiesen sind. Del verstand. Vorsichtig, die linke Hand haltsuchend an die Wand gepreßt, um nicht durch eine plötzliche Böe von den Füßen gerissen zu werden, drehte er sich um, schützte die Augen mit der anderen Hand gegen die heranrasenden Eissplitter und Schneekristalle und wandte Skar vollends das Gesicht zu. Solange sie in direktem Blickkontakt zueinander standen - wenigstens das hatten sie herausgefunden -, war eine Verständigung möglich.
»Wir......ssen ...ein Versteck suchen!« brüllte Del. »Der Sturm wird noch stä... er!« Er sagte noch mehr, aber Skar verstand nur Fetzen - seine Stimme klang noch immer seltsam verzerrt und so dumpf, daß Skar die Worte mehr erriet als wirklich hörte. Es war ein Gefühl, als hätte er Wasser in den Ohren. Ein äußerst unangenehmes Gefühl. Er nickte, hob den Kopf und blinzelte in die tobenden Sturmböen. Sie waren eine halbe Stunde lang durch diesen bizarren weißen Irrgarten gelaufen, ehe der Sturm sie eingeholt hatte, aber es war Skar mit jedem Schritt schwerer gefallen, wirklich zu glauben, daß dies eine Stadt sein sollte. Die Gebilde, die ihren Weg flankierten, schienen vollkommen willkürlich geformt. Anders als bei der Ruine, in der sie draußen auf dem Eis übernachtet hatten, war hier nicht mehr zu erkennen, was künstlich geschaffen und was im Laufe der Jahrhunderte entstanden war - die Mächte, die den eisigen Tod über Cor-ty-cor gebracht hatten, waren hier gründlicher gewesen. Ein paarmal hatte er geglaubt, eine vertraute Form zu erkennen - eine Treppe, ein Stück eines Turmes, ein Fenster. Aber er war sich nie sicher gewesen. Die Vielfalt der Formen war so gewaltig - und die Phantasie, die Eis und Stürme bei der Erschaffung ihrer Geschöpfe entwickelt hatten, so überschwenglich -, daß vielleicht gerade das, was er wiederzuerkennen glaubte, nichts als eine zufällige Ähnlichkeit war.
Er blickte zurück. Die Freisegler bildeten eine lange, vielfach unterbrochene Reihe gebückt gehender Gestalten, die letzten bereits in wirbelndem Schnee und Sturm verschwunden. Sie hatten bisher keinen Mann verloren, aber das war reines Glück, mehr nicht. Wenn der Sturm noch an Gewalt zunahm, würde ein Dutzend Tote ihren Weg markieren. Del hatte recht.
Er ging ein paar Schritte weiter, blieb abermals stehen und deutete auf ein niedriges, entfernt kuppelförmiges Etwas, das wie der Buckel eines urzeitlichen Panzertieres wenige Schritte entfernt aus dem Eis ragte. Durch die wirbelnden weißen Schwaden erkannte er einen schmalen, halbrunden Eingang, hinter dem er die Wände eines weitläufigen Innenraumes zu erkennen glaubte. »Dort!« brüllte er.
Del nickte und wollte losgehen, aber Gowenna hielt ihn zurück, schüttelte heftig den Kopf und begann zu gestikulieren, als sie merkte, daß weder Del noch Skar ihre Worte verstanden. Gebückt und gegen die Gewalt des Sturmes absurd stark zur Seite geneigt, taumelte sie an Skar vorüber, sah sich ungeduldig um und deutete schließlich auf ein formloses weißes Gebilde fünfzig Schritte weiter.
Skar widersprach nicht. Er war sicher, daß Gowenna ihre Gründe hatte, und es blieben ihnen weder Zeit noch Kraft, darüber zu diskutieren - es diskutierte sich auch schlecht, wenn man nicht miteinander reden konnte. Er signalisierte mit den Händen seine Zustimmung, stemmte sich gegen den Orkan fünf, zehn Schritte zurück und blieb stehen, um die Männer einzuweisen. Es wäre nicht nötig gewesen - es war sowieso kaum einer unter ihnen, der noch darauf achtete, was um ihn vorging. Sie folgten einfach stur dem Vordermann, ganz gleich, wohin er gegangen wäre - aber er fühlte sich trotz allem noch für sie verantwortlich. Ein paar von ihnen waren so schwach, daß sie kaum mehr die Kraft hatten, sich auf den Beinen zu halten.
So war er der letzte, der in den Schutz der Eisruine hineinstolperte und sich mit einem erschöpften Keuchen gleich hinter dem Eingang zu Boden sinken ließ. Er sah nicht viel von seiner Umgebung: Was er wahrnahm, war weiß, Formen und blinkende sinnlose Flächen von grausam hellem Weiß, und er wunderte sich beinahe, daß noch keiner der Männer schneeblind geworden war. Für einen Moment - wie oft in Augenblicken der Entspannung - drohten ihn seine Kräfte vollends zu verlassen, Müdigkeit hüllte ihn ein und begann seine Gedanken zu umnebeln, aber er kämpfte die Erschöpfung nieder und zwang sich, noch einmal aufzustehen und zu Gowenna hinüberzugehen. Sie war ein paar Schritte weiter getaumelt als er und die meisten Männer, aber trotzdem dicht beim Eingang geblieben. Del war bei ihr. Er war nicht von ihrer Seite gewichen, seit sie den Paß überschritten hatten, aber er machte keinen Hehl daraus, daß er jetzt als Bewacher bei ihr blieb, nicht als Helfer. Es schien Gowenna auch nichts auszumachen. Skar stakste ungeschickt zwischen den kreuz und quer auf dem eisigen Boden liegenden und sitzenden Männern hindurch und ging vor Gowenna in die Hocke. Sie hatte sich auf eine schmale Eiszunge gesetzt, die aus einer der Wände wuchs - eine von zahllosen bizarren Formen, über deren Sinn und Zweck er schon lange nicht mehr nachdachte -, und war zusammengesunken, die Arme auf die Oberschenkel gestützt, Kopf und Oberkörper so weit nach vorne geneigt, daß sie eigentlich hätte vornüber kippen müssen. Ihr Atem ging rasch; jetzt, als er direkt vor ihr kniete, hörte er es.
Gowenna spürte seine Nähe und sah auf. Eiskristalle glitzerten auf ihrer Haut und gaben ihrem Gesicht etwas Maskenhaftes.
»Was ist das hier?« fragte Skar. Seine Worte versickerten in den Wänden. Eine bizarre, fremdartige Akustik war hier drinnen deutlich zu spüren. Trotzdem verstand ihn Gowenna.
Der Raum, in dem sie Unterschlupf gefunden hatten, war niedrig, aber groß. Das Eis über ihm war klar wie Glas, aber etwas in ihm führte seinen Blick in die Irre, so daß er nicht erkennen konnte, was darüber lag. Del würde nicht aufrecht hier stehen können, ohne gegen die Decke zu stoßen, aber die gegenüberliegenden Wände des Saales verloren sich in der Entfernung, so daß Skar nicht sicher war, was von dem, was er sah, wirklich und was Schatten war. Er war verwirrt. Von außen hatte das Gebäude klein ausgesehen.
Gowenna bewegte die Lippen. Skar winkte ab, legte behutsam die Hand unter ihr Kinn und drehte ihren Kopf so, daß sie ihn direkt ansah. Er spürte, wie sie unter der Berührung seiner Finger zusammenzuckte.
»...ffe, einer der Zugänge«, verstand er. Sein Herz hämmerte, und das dumpfe Rauschen seines eigenen Blutes füllte seine Ohren und machte es zusätzlich schwer, ihre Worte zu verstehen.
»Was für ein Zugang? Zum Hafen?«
Gowenna nickte. »Es gibt viele Wege, um hinunterzugelangen«, antwortete sie. »Meist sind sie in Türmen wie diesen. Ich... werde danach suchen. Laß mich nur einen Moment ausruhen.«
»Ich glaube, wir können alle eine Pause vertragen«, mischte sich Del ein. Er setzte sich auf, massierte grimassenschneidend seinen Nacken und bewegte die Finger, einzeln und nacheinander, als hätte er Angst, sie könnten schon zu steif und damit unbrauchbar geworden sein. Es war Skar ein Rätsel, wie es möglich war, Gowennas Worte zu verstehen. Vielleicht hatte er sie auch einfach erraten. Es war nicht schwer. »Wir sollten warten, bis der Orkan vorüber ist.«
»Wenn wir so viel Zeit haben..., aber du hast recht. Die Männer sollen ausruhen, solange der Sturm tobt. Können wir Feuer machen?« Del nickte. »Selbstverständlich. Wenn du weißt, wie man Eis zum Brennen bringt, heißt das.«
Skar überging die Bemerkung und drehte den Kopf wieder zu Gowenna. »Dieser Zugang - wo liegt er?«
Gowenna fuhr auf. »Bei allem, was heilig ist, Skar - woher soll ich das wissen? Ich war sowenig hier wie du oder irgendein anderer. Es kann Dutzende von Türmen wie diesen hier geben. Wir sind eine Meile über der Stadt, vergiß das nicht.« Sie sprach schnell und laut und gereizt, aber es war ein Zorn, der nur ihrer Erschöpfung entsprang. Nicht genug, sie zu einer Unbedachtsamkeit zu verleiten. »Wenn es ihn gibt, dann muß es eine Treppe sein, vielleicht auch nur eine Rampe - was weiß ich.«
Skar zwang sich mit Gewalt, ruhig zu bleiben. Schließlich war er es, der sie aus der Reserve locken wollte, nicht umgekehrt. »Dann werden wir danach suchen«, sagte er gepreßt: »Del?«
Del machte keinen Hehl daraus, daß er alles andere als begeistert von Skars Idee war. Trotzdem stand er auf, verschränkte die Finger ineinander und ließ die Gelenke knacken. Seltsamerweise war dieser Laut deutlich zu hören. Einen Moment lang blieb er reglos stehen, dann beugte er sich zu einem der Matrosen hinab, wechselte ein paar Worte mit ihm und deutete auf Gowenna. Der Mann nickte. Gowennas Miene verfinsterte sich sichtlich.
»Wohin?«
Skar sah sich unschlüssig um. Alles um ihn herum war weiß, weiß in allen nur denkbaren und einer ganzen Menge undenkbaren Schattierungen und Tiefen. Er sehnte sich nach Farbe. Selbst das Feuer des Dronte erschien ihm für einen Moment besser als diese erstarrte weiße Einöde.
»Dort entlang.« Skar deutete ziellos nach vorne. Jede Richtung schien so gut wie die andere.
Del nickte; eine knappe, abgehackt wirkende Bewegung, bei der sein Blick dem Skars auswich, sein Gesicht war starr, nur um die Mundwinkel zuckte es manchmal. Skar hatte diesen Ausdruck unzählige Male auf seinen Zügen gesehen: dieses rasche, nur an Del zu beobachtende Nicken und die Art, in der sich seine Finger immer wieder um den Griff seiner Waffe schlossen. Es war Dels ganz persönliche Art, sich (auf einen Kampf?) vorzubereiten. Mit seiner Nervosität fertig zu werden. Er ahnte, was in dem jungen Satai vorging. Es war schlimm genug, zwischen den bizarren weißen Gebilden draußen auf dem Eis herumgehen zu müssen. Ins Innere dieses Monstrums aus Eis und erstarrter Furcht vordringen zu sollen war ein Alptraum. Und für einen kurzen, ganz kurzen Moment glaubte er dem alten Del gegenüberzustehen, spürte er einen schwachen Hauch dieses vertrauten, warmen Gefühles, das sie einst verbunden hatte.
»Komm.«
Das Wort ließ die Illusion zerplatzen. Skar nickte, kramte eine Fackel aus seinem Bündel und suchte nach Feuersteinen. Er fand keine, hob resignierend die Schultern und legte die Fackel zurück. Sie würden nicht so tief in das Gebäude vordringen, um sie zu brauchen. Sie ließen Gowenna und die Freisegler zurück und machten sich auf den Weg ins Innere des blitzenden Riesenkristalles. »Du weißt schon, daß es nicht viel nutzt, ziellos hier herumzustolpern, nicht?« fragte Del.
Skar nickte. Er wußte selbst nicht so recht, was er zu finden hoffte, vielleicht wollte er einfach nur allein sein. Und er hatte Angst gehabt, einzuschlafen, sobald er sich ruhig hinsetzte.
Nach einer Weile wurde der Boden uneben. Die Decke senkte sich, so daß bald nicht nur Del, sondern auch er gebückt gehen mußten und im Boden gähnten jetzt Löcher, zu perfekt gerundet, um zufällig entstanden zu sein, aber nur wenige Fuß tief. Dann erreichten sie die gegenüberliegende Wand. Skar blieb stehen, drehte sich um und sah zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Die Männer waren nicht mehr zu sehen, obwohl sie nur ein paar Dutzend Schritte zurückgelegt hatten.
»Da vorne ist eine Tür«, sagte Del. Skar blickte in die Richtung, in die er wies. Es war ein niedriger, dreieckiger Durchgang, hinter dem die ersten Stufen einer steil in die Tiefe führenden Treppe sichtbar wurden. Sie gingen weiter, blieben aber erneut stehen, als sie den Durchgang erreicht hatten. Del spielte nervös mit seiner Waffe, und das flackernde Licht verlieh seinen Zügen Bewegung, die nicht da war. Skar setzte dazu an, etwas zu sagen, aber Del schüttelte hastig den Kopf; Skar schwieg und lauschte.
Vor ihnen, auf der anderen Seite der schimmernden Wand aus Weiß und finsterer Magie, war etwas. Der Raum dort drüben war nicht still und verlassen, sondern voller Dinge, die nicht dorthin gehörten. Es war nichts Greifbares, nur Geräusche, die die Barriere aus Schweigen unterliefen und vielleicht natürlichen Ursprunges waren, zu denen seine Phantasie aber Bilder erschuf, ohne daß er sich dagegen wehren konnte: Laute wie von fernen Blitzen, die in Wälder fuhren, ein Krachen und Bersten wie von zersplitterndem Eis oder von Kontinenten, die sich aneinanderrieben, das Heulen des Sturmes, das er draußen vermißt hatte und das plötzlich wie ein mühsames Atmen klang. Ein Pochen und Schlagen wie das eines gewaltigen bösen Herzens... Skar schüttelte die Bilder mühsam ab und versuchte sich einzureden, daß es nichts als Einbildung war, vielleicht ein letzter Schatten des Traumes, den er am Morgen gehabt hatte und der ihm in die Wirklichkeit hinüber gefolgt war und seine Sinne narrte. Aber als er sich aufrichtete und in Dels Gesicht sah, erkannte er, daß er diesmal nicht allein mit seiner Furcht war, daß auch er es spürte und daß es ihn ebenso erschreckte. Vielleicht mehr. Er hatte etwas die ganze Zeit über gefühlt, den Ruf des unseligen Geistes, der diesem Land innewohnte. Für Del war die Stimme dieses finsteren Gottes neu und doppelt erschreckend.
Del machte einen einzelnen Schritt, blieb wieder stehen und zog sein Schwert. Der Stahl fing das weiße Licht des Eises auf und warf es verzerrt zurück an die Wand; für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Skar, durch das milchige Eis hindurchsehen zu können, etwas Großes, Gigantisches und Böses zu erkennen, das dort drüben lauerte, mit der Geduld eines finsteren Rachegottes wartete und lauerte...
Skar atmete hörbar ein. Das Flüstern in seinem Inneren wurde lauter, drängender, hatte jetzt eindeutig den Charakter einer Warnung. Für einen Moment ließen die flackernden Lichtblitze die Umrisse seines eigenen Gesichtes auf der Wand vor ihm entstehen. Dann verging es, das Eis war wieder glatt und makellos.
Del atmete hörbar ein und schlug mit dem Schwertknauf gegen die Wand neben dem Durchgang, als hätte er Angst, das Eis könne hinter ihm zusammenbrechen, ehe er gebückt hindurchtrat und vorsichtig den Fuß auf die oberste Stufe setzte. Skar folgte ihm.
Die Treppe führte steil in die Tiefe. Ihre Stufen waren unterschiedlich hoch und in verschiedenen Winkeln zueinander geneigt, das Gehen war schwierig. Das Licht, das hinter ihnen durch die Tür fiel, breitete sich wie eine glitzernde Flüssigkeit in den Wänden aus und ließ sie von innen heraus leuchten. Skar versuchte, die Stufen zu zählen, die sie nahmen, aber irgend etwas schien mit seinen Gedanken zu geschehen: Er verzählte sich, wußte plötzlich nicht mehr weiter und gab es auf. »Skar!« Dels Stimme wehte geisterhaft verzerrt zu ihm herauf, leise und hallend, als wäre er Meilen unter ihm statt weniger Schritte. »Hier geht es weiter.«
Del deutete mit der Schwertspitze auf ein gezacktes, mannsgroßes Loch in der Wand, zögerte einen Moment und trat dann kurz entschlossen hindurch. Skar beeilte sich, ihm zu folgen.
Der Anblick war überwältigend, von fast betäubender Wirkung. Sie standen auf einem schmalen, an einer Seite im Nichts endenden Sims aus Eis, zu ihren Füßen ein Schacht, der geradewegs in die Hölle hinabzuführen schien. In seiner Mitte erhob sich eine gewaltige zerschrundene Säule aus Eis, hundert oder mehr Manneslängen durchmessend und auf unmögliche Weise zusammengestaucht und in sich selbst verdreht. Skar schwindelte, als er versuchte, an ihr hinabzusehen. Der Schacht mußte mehr als eine Meile in die Tiefe führen; der Fuß der gewaltigen Eissäule verlor sich in wogendem Nebel, und irgendwo unter ihnen leuchtete etwas.
»Endstation«, sagte Del lakonisch. Seine Stimme wurde vom Eis aufgefangen und reflektiert, tausendfach gebrochen und verzerrt. »Hier geht es jedenfalls nicht weiter.«
Der Sims, auf dem sie standen, führte auf einer Seite in kühnem Bogen über den Abgrund und verschmolz mit den obersten Stufen einer steilen, wie ein Schneckenhaus gewundenen Treppe, die in einer endlosen Spirale an der Außenseite des titanischen Pfeilers in die Tiefe führte. Der Anblick erinnerte ihn an die Höhle der Drachen tief unter den Mauern Elays. Aber anders als dort war diese Treppe zerstört; die Stufen endeten nach wenigen Metern im Nichts, zerfetzt und zerbrochen von den gleichen Gewalten, die den Pfeiler zusammengepreßt hatten. Skar war fast erleichtert. Die Vorstellung, über diese Treppe eine Meile oder vielleicht mehr hinabsteigen zu sollen, jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken.
Skar schluckte, um den bitteren Geschmack, den er auf seiner Zunge spürte, loszuwerden, drehte sich um und trat wieder hinaus auf die Treppe. Der Weg hinauf erschien ihm weiter als der hinunter, und mit jeder Stufe, die er nahm, wurde das Bedürfnis stärker, einfach loszustürmen und zu rennen, so schnell er konnte. Er atmete erleichtert auf, als sie endlich wieder oben in der Halle waren.
Etwas war anders. Es war, als wäre ihnen die Furcht, die sie dort unten überfallen hatte, nachgekrochen und hätte sich in den eisigen Wänden hier oben eingenistet. Anders als noch vor wenigen Augenblicken fingen die glitzernden Eisskulpturen an den Wänden und an der Decke das Licht auf und verstärkten es; der Saal schimmerte wie ein gewaltiger ausgehöhlter Kristall, in dem ein Strahl Sonnenlicht eingefangen war. Skar machte einen Schritt, blieb stehen und tauschte einen beinahe hilflosen Blick mit Del. Das Knistern und Mahlen war noch immer zu hören, aber es gelang Skar nicht, die Quelle des Geräusches auszumachen - es schien aus Boden und Wänden und Decke, ja selbst aus der Luft zu kommen, körperlos und unabhängig von irgend etwas anderem zu entstehen, als hätte es keine Ursache, sondern existierte isoliert. Vielleicht war es kein Geräusch, sondern etwas, das er nur dafür hielt, weil er kein anderes Wort dafür fand. Und es war jetzt auf dieser Seite der Wand...
Del drehte sich langsam um seine eigene Achse, streckte den Arm aus und stützte sich an der Wand ab. Das Eis begann unter seinen Fingern zu schmelzen; Dels Körperwärme verwandelte es in Wasser, das in winzigen gezackten Bahnen zu Boden lief und auf halbem Wege wieder gefror. Tausendmal rascher als normal. Der Gedanke blitzte so schnell hinter Skars Stirn auf, als wäre er nicht in ihm entstanden, sondern von außen gekommen; eine Botschaft. Vielleicht eine Warnung. »Skar«, keuchte Del. »Was... was ist das?« Sein Blick flackerte, und in seiner Stimme war ein leiser, beinahe schon hysterischer Unterton. Seine Fingernägel bohrten sich durch den Umhang in Skars Oberarm, so fest, daß er vor Schmerz aufstöhnte. Del schien es nicht einmal zu bemerken. »Was ist das, Skar?« wiederholte er. Sein Blick saugte sich an einer Stelle unweit des Durchganges fest, und als Skar ihm folgte, erkannte er etwas Dunkles, Wirbelndes hinter dem blitzenden Eis. Felsen, der kein Felsen war.
Skar streifte seine Hand ab, zog sein Schwert aus dem Gürtel und machte einen zögernden Schritt nach vorn. Seine Hände zitterten. Das Eis knisterte unter seinen Stiefeln wie eine dünne, verwundbare Haut. Dicht vor der Wand blieb er stehen, wechselte das Schwert in die Linke und griff mit der rechten Hand nach dem Eis. Seine Finger zitterten stärker, verharrten Millimeter über der trügerischen weißen Glätte. Plötzlich hatte er Angst, sie zu berühren.
Er war nicht überrascht, als er die Finger gegen das Eis preßte und das Wispern hörte. Das Schlagen eines gewaltigen finsteren Herzens. Die Stimme des Dronte, mit der das Eis flüsterte. Seine Finger folgten den dunklen, haarfeinen Linien, die sich unter der milchigen Oberfläche der Wand abzeichneten. Es waren Risse, dünne, geborstene Linien, die einer fremdartigen Symmetrie folgten, weiterliefen, noch während er dastand und sie anstarrte, ein Muster, ein Netz bildeten... Skar fuhr so abrupt herum, als wäre die Wand plötzlich glühend heiß geworden. Sein Blick streifte Del, glitt neben ihm an der Wand hinab, über den Boden und wieder hinauf. Es war überall, nicht nur hier, sondern hinter und neben Del, selbst unter seinen Füßen. Ein Netz dunkler zuckender Linien, Risse und Sprünge, das mit unglaublicher Geschwindigkeit wuchs. Das Eis sprang, zerbarst mit lautlosen, harten Schlägen und formte sich zu etwas Neuem, Tödlichem.
Del spürte es auch. Seine Augen weiteten sich, als er sah, wie die Risse weiterliefen, sich die dunklen Linien vereinigten und titanische, grob modellierte Körper zu formen versuchten: menschenähnlich und doch grotesk verzerrt, eine böse Karikatur der beiden Eiskrieger, denen sie draußen begegnet waren.
»Es ist soweit«, sagte Skar leise. »Die Jagd geht los, Del.«
Er hatte mit Widerspruch gerechnet, aber Del schwieg und starrte weiter auf die groteske Veränderung, die mit dem Eis zu seinen Füßen vorging. Skar versuchte vergeblich, einen Körper zu erkennen, ein System in den zuckenden Linien auszumachen. Was immer es war, es entzog sich seinen Blicken auf unheimliche Art, war in beständiger Verwandlung und Änderung. Einmal glaubte er einen Menschen zu erkennen, dann ein Ding wie eine Kreuzung zwischen einem Banta und einer Riesenspinne, die groteske Karikatur einer sprungbereiten Beterin - es war ein Ding, das nicht leben durfte und es auch nicht tat, sondern auf eine andere, unbegreifliche Weise existierte, der Schrecken einer Zeit, die vor Äonen untergegangen war und ihnen jetzt mit Riesenschritten über den Abgrund der Jahrtausende nacheilte. Der einzige klare Eindruck, den er hatte, war der des Fremdartigen. Und einer Feindseligkeit, die ihn innerlich aufstöhnen ließ. Er wich einen Schritt nach links, als sich die Schemen unter seinen Füßen zu bewegen schienen. Glitzernde Spinnenaugen folgten jeder seiner Bewegungen. Kälte hüllte ihn ein, Kälte, die die Kreatur ausatmete, die ihr Lebenselixier war wie Luft und Wärme das der Menschen.
»Wir... müssen hier raus, Del«, stöhnte er.
Del sah ihn an und runzelte die Stirn, und Skar fiel plötzlich wieder ein, daß er seine Worte nicht verstanden haben konnte. »Laß uns zu den anderen zurückgehen«, sagte er noch einmal und übermäßig betont. »Aber sag ihnen nichts von... von dem hier.«
Del war sichtlich überrascht, aber wieder widersprach er nicht, sondern setzte sich gehorsam in Bewegung, als Skar losging. Die Veränderung war nur auf einen relativ kleinen Bereich unmittelbar hinter dem Durchgang beschränkt, aber die dunklen Rißlinien eilten ihnen nach, verwandelten das Eis in ein Labyrinth miteinander verschmolzener Formen und Umrisse, und das Wispern und Lachen der Geisterstimmen wehte ihnen noch lange hinterher, auch als unter ihren Füßen längst wieder massives Eis war. Skar ging immer rascher und rannte schließlich fast. Sein Atem ging schnell und stoßweise, als er zu den wartenden Freiseglern zurückkehrte, und er hatte Mühe, sich seine Erregung nicht zu deutlich anmerken zu lassen. Für einen Moment war er fast froh über die bizarre Akustik dieser Welt.
»Wir brechen auf«, sagte er laut. Nur wenige der Leute verstanden die Worte wirklich, aber auch die, die nur die Lippenbewegungen und seine Gesten sahen, gehorchten. Es ging schnell; schneller, als er zu hoffen gewagt hatte. Die Männer standen auf und sammelten sich vor dem Ausgang. Skar registrierte besorgt, daß die Mehrzahl von ihnen wankte; ein paar hatten kaum mehr die Kraft aufzustehen und mußten sich von Kameraden helfen lassen, trotzdem hörte er nicht ein einziges Wort des Protestes.
Er fuhr zusammen, als ihn eine Hand am Arm berührte, und drehte sich mit einer übertrieben heftigen Bewegung herum. Es war Gowenna. Sie hatte die Kapuze zurückgeschlagen und den Verband von ihren Schläfen genommen. Die Wunde an ihrem Kopf glitzerte noch feucht. Aber sie war kleiner - und wohl auch harmloser -, als Skar am Morgen befürchtet hatte. »Habt ihr den Weg gefunden?«
Skar nickte und machte seinen Arm los. »Ja. Aber er führt ins Nirgendwo.« Auf Gowennas Zügen erschien ein fragender Ausdruck, aber Skar sprach nicht weiter, sondern drehte sich weg und ging auf die wartenden Männer zu. Del war schon vorausgeeilt, aber so wie sie wenige Schritte vor dem Ausgang stehengeblieben. Der Sturm hatte nachgelassen. Auf dem schmalen Streifen freien Himmels, den sie von hier aus sehen konnten, türmten sich zwar noch immer schwarze Wolken, aber sie bildeten keine kompakte Decke mehr, sondern waren aufgerissen; hier und da stach sogar ein Sonnenstrahl auf die Ruinen Cor-ty-cors herab. Das Toben der Eiskristalle hatte nachgelassen. Es war jetzt nur noch ein normaler Sturm, keine Apokalypse mehr. Sie konnten es riskieren hinauszugehen.
Es ging zu schnell, als daß Skar auch nur Zeit für einen Warnschrei gehabt hätte. Die kochenden Schwaden vor dem Ausgang teilten sich, und Helth wuchs wie ein Dämon aus einer fremden Welt vor ihnen empor. Mit einem gellenden Schrei sprang er auf den vordersten Mann zu und tötete ihn mit einem einzigen blitzschnellen Hieb.