19.

Es war hell geworden; nach einer Dämmerung, die so lang und grau und voller immer wieder neu zwischen den Felsen hervorkriechender Schatten gewesen war, als wolle sie überhaupt kein Ende mehr finden. Wie schon am vergangenen Morgen waren die Temperaturen mit dem Erwachen des Tages gefallen, und die Sonne, die über den vereisten Berggipfeln in seinem Rücken erschienen war und damit begonnen hatte, das Land mit Licht und dunkelroten flackernden Schatten zu überziehen, schien Kälte zu verstrahlen, statt Wärme.

Skar war wieder hierhergekommen, in den hinteren Teil der Höhle, hinauf auf den schmalen steinernen Sims, der wie ein natürlich gewachsener Balkon aus der Rückseite des Berges wuchs. Es hatte ihn nicht überrascht, daß die Treppe beinahe verschwunden war - sowohl im inneren Teil der Höhle als auch hier draußen: Die aus Eis geformten Stufen waren geschmolzen, ihre Ränder abgerundet und flach, hier und da zerfressen von Schmelzwasser, das in kleinen, schmutzigen Rinnsalen in die Tiefe floß und sich am Fuße des Felsens zu einem unregelmäßig geformten See sammelte. Sie war, wie die Eiskrieger und die Wand, die er abermals durchbrochen hatte, um hierherzugelangen, das Werk von Kräften, die er nicht begriff - Magie, wie es Helth ausgedrückt hatte, auch wenn es das sicher nicht war - und die er erst gar nicht zu verstehen versuchte. Er hatte auch nicht mehr die Kraft, zu staunen oder mehr als einen vagen Schrecken zu empfinden. Er nahm zur Kenntnis, das war alles.

Die Sonne stieg langsam höher, und wenn ihre Strahlen auch keine Wärme brachten, vertrieben sie doch wenigstens den Nebel, und Skar konnte mehr vom diesseitigen Teil der Eisebene erkennen; der Grund, weshalb er überhaupt hierhergekommen war.

Del und er hatten Gowenna versorgt, so gut sie es konnten - hauptsächlich Del, der in dieser Beziehung eine Menge dazugelernt zu haben schien, seit sie sich wiedergefunden hatten -, aber sie konnten es eben nicht sehr gut. Es gab weder saubere Tücher für einen Verband noch heißes Wasser, um die klaffende Wunde in Gowennas Schädel zu säubern, noch irgend etwas, um ihre Schmerzen zu lindern. Sie war bei Bewußtsein gewesen, die ganze Zeit, aber sie hatte weder auf ihre Fragen geantwortet noch sonst irgendwie reagiert; ihr Zustand erinnerte Skar auf bedrückende Weise an den Velas, und vielleicht - die Vorstellung war absurd, aber sie hatte sich einmal in ihm festgekrallt und blieb - war es nicht einmal ein Zufall. Schließlich konnte er es nicht mehr ertragen und ließ Del mit Gowenna allein, um sich noch einmal und im hellen Tageslicht auf diesem Teil der Ebene umzusehen. Wenigstens hatte er dies Del und den anderen gegenüber behauptet, auch wenn er - und wohl auch Del - ganz genau wußten, daß das nicht der wahre Grund war. In Wirklichkeit war er geflohen. Er hatte es einfach nicht mehr ertragen; nicht in der Höhle, nicht in der Nähe all dieser zum Tode verdammten Männer, nicht einmal mehr in der Dels. Skar hatte niemals Angst vor Höhlen oder engen Räumen gehabt, aber jetzt, in diesem Moment, hatte er plötzlich das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Er war die letzten Schritte hier herauf gerannt, nicht mehr gegangen.

Ein eisiger Windhauch streifte ihn. Der Sturm, der auf der anderen Seite der Berge noch immer mit ungebrochener Wut heulte, war auch hier noch fühlbar; nicht mehr so wie drüben, aber schlimm genug. Die steinernen Grate und Wälle, die seine Gewalt eigentlich brechen sollten, lenkten die eisigen Böen ab, zerrissen sie aber auch zu unzähligen einzelnen Wirbeln und ließen winzige Schneehosen und kleine Dämonen aus wirbelndem Eis und Schneestaub über die Ebene tanzen; Skar konnte die Kälte beinahe sehen.

Aber vielleicht war es auch gar nicht die Kälte, die ihn schaudern ließ. Er war nicht sicher, ob sein Entschluß, auf dieser Seite der Bergkette weiterzumarschieren, richtig war. Die Landschaft vor ihnen war anders, vollkommen anders als die auf der Seeseite. Vor ihm waren... Er suchte vergeblich nach einem Wort, einer passenden Bezeichnung oder auch nur Umschreibung dessen, was er sah. Es waren Dinge. Gebilde aus Eis und Schnee und erstarrter Luft, die die Ebene wie ein gefrorener gläserner Wald bis zum Horizont bedeckten, manche so klein, daß er sie von seinem erhöhten Standpunkt aus nur als Punkte erkennen konnte, andere gewaltig, groß wie eine Festung. Es gab keine Regel, kein Muster, dem sie folgten, kein System. Es war wie damals in Urcôun, der Festung der Sternengeborenen, aber schlimmer, tausendmal schlimmer. Unter ihm erstreckte sich ein gewaltiges weißes Labyrinth, in dem nicht einmal das Licht beständig war, sondern flackerte, hierhin und dorthin kroch, als würden sich die blinkenden Eisflächen ständig bewegen und die Strahlen der Sonne in ständig neuem Winkel reflektieren, in dem die Schatten lebendig waren und die Furcht Körper bekommen hatte. Da und dort glaubte er eine vertraute Form zu erkennen, eine Linie, an die sich sein Blick klammern, ein Bild, das er wiedererkennen oder wenigstens einordnen konnte, aber es gelang ihm nie, sie wiederzufinden, wenn er einmal wegsah, und ein paarmal hatte er geglaubt, eine Bewegung zu sehen.

Und es war ein Anblick von fast tödlicher Schönheit. Obwohl er Zeit gehabt hatte, sich daran zu gewöhnen, im gleichen Maße, in dem das Grau der Dämmerung dem erbarmungslosen Weiß dieses bizarren gläsernen Waldes wich, faszinierte ihn das Bild so sehr, daß es ihm unmöglich war, sich davon zu lösen. Eine seltsame, böse Verlockung ging von ihm aus, etwas, das ihn gleichermaßen mit Grauen erfüllte, wie es ihn anzog. Ein paarmal hatte er geglaubt, Stimmen zu hören, Stimmen, die verbotene Worte in einer uralten, seit Äonen vergessenen Sprache wisperten; Worte, die er nicht verstehen konnte und die ihn trotzdem auf sonderbare Weise berührten. So ähnlich, dachte er, mußte es sein, wenn man in ein Traumkristall blickte. Er hatte Männer gesehen, deren Geist zerbrochen war, auf ewig gefangen in den blitzenden Facetten dieser verbotenen weißen Steine. Vielleicht, dachte er mit einem Anflug von Hysterie, war dies alles gar nicht wahr. Vielleicht war auch er längst nicht mehr Herr seiner Sinne, sondern gefangen in einem endlosen, quälenden Alptraum, der irgendwo dort draußen auf dem Meer begonnen hatte.

Skar hörte ein Geräusch hinter sich, riß sich gewaltsam aus seinen Gedanken und von dem bizarren Anblick los und wandte sich um. Automatisch straffte er sich; eine nutzlose Geste angesichts des gigantischen weißen Molochs in seinem Rücken. Aber er hatte auch nicht mehr die Kraft, gegen Gewohnheiten zu kämpfen.

Es war einer der Freisegler, der sich, auf Händen und Knien kriechend, die halb geschmolzenen Eisstufen hinaufquälte. Skar trat ihm entgegen, ergriff seine ausgestreckte Hand und zog ihn mit einem kraftvollen Ruck zu sich herauf. Der Mann nickte dankbar, richtete sich auf und erstarrte, als er des blitzenden Labyrinths ansichtig wurde. »Ja?« sagte Skar, schnell und so barsch, daß der Freisegler ihn beinahe automatisch wieder ansah. Sein Blick flackerte.

»Ihr... der Satai verlangt nach Euch, Herr«, meldete er stockend. »Ich soll Euch holen.«

Der Satai, wiederholte Skar in Gedanken. Die Männer kannten seinen und Dels Namen so gut wie sie selbst, aber für sie waren sie immer noch die Satai - was hatte er erwartet? Freundschaft?

»Ich komme«, beschied er ihm einsilbig. »Geh voraus und sage Del Bescheid.«

»Ihr sollt gleich kommen, Herr. Der Satai sagte ausdrücklich sofort.« Der Mann war nervös. Sein Blick hielt dem Skars nicht stand; wie immer, wenn er mit einem der Freisegler sprach. Warum haben sie Angst vor mir? dachte er. Und irgendwo, tief unter seinen Gedanken, antwortete eine Stimme: Weil du ihr Todesengel bist, Skar. Und weil sie es wissen. Er nickte, deutete mit einer knappen Geste in die Höhle zurück und folgte dem Matrosen.

Загрузка...