Fünfundzwanzig

Sam und Dean wollten gerade in Professor Wallace’ Zimmer gehen, als ein paar Leute in OP-Kleidung, die sich gegenseitig etwas zuriefen, vor ihnen hineinrannten.

„Verdammt guter Zeitpunkt, um in einer Folge Emergency Room zu landen“, murmelte Dean.

Sam hatte Dean angerufen, nachdem er mit dem Professor gesprochen und die Leiche des Gangsters in der Nähe des Richmond Inner Harbour vergraben hatte.

Damit Sam nicht den ganzen Weg zurück nach San Francisco und dann auf der gleichen Strecke zurück nach Berkeley fahren musste, war Dean mit dem Bus zur Civic Center Station der BART gefahren und hatte die rote Linie nach Berkeley genommen. Sam hatte ihn an der Station abgeholt. Sie waren direkt zur Fakultät für Asiatische Studien gefahren, um den Laptop zu holen und zum Krankenhaus zu fahren.

Eine kleine Asiatin ging rückwärts aus dem Krankenzimmer und wurde von einer Krankenschwester gestützt. Sie weinte.

„Professor Wallace! Professor Wallace!“, schluchzte sie.

„Bitte, Ma’am, Sie müssen hierbleiben“, sagte die Schwester in einem annähernd beruhigenden Tonfall. „Wir versuchen alles, um ihn zu retten.“

Dean ging zu der Frau.

„Entschuldigen Sie, was ist mit Professor Wallace passiert?“

Sie blickte zu ihm hoch und Tränen strömten über ihre Wangen. Sie hatte ’ne nette Ähnlichkeit mit Lucy Liu, fand Dean.

„Ich weiß es nicht! Wir haben uns gerade unterhalten und dann hat er sich plötzlich ganz merkwürdig benommen und alle Monitore piepten. Es war schrecklich.“

Er blickte nach oben und sah, wie Sam in den Raum schaute.

„Sie sind gerade bei ihm“, sagte er, als er sich umdrehte.

„Scheiße“, zischte Dean durch seine zusammengebissenen Zähne. Selbst wenn die Docs seinen Arsch noch einmal aus dem Feuer zogen, würde es Stunden dauern, bis Wallace wieder bei Bewusstsein war und noch dazu Besucher empfangen konnte.

Er drehte sich wieder zu der Frau um und suchte nach einer Möglichkeit, sich elegant zu entschuldigen. Wenn sie Wallace kannte, würde sie nicht begeistert sein, dass jemand seinen Laptop hatte.

Aber bevor er etwas sagen konnte, torkelte sie gegen ihn und griff mit einer Hand nach seinem Bizeps. Sie war nicht schwer, aber er traute sich nicht, sich zu bewegen, weil er Angst hatte, dass sie dann hinfallen würde.

„Äh“, er blickte seinen Bruder hilflos an.

Sam zuckte die Schultern.

„Es tut mir leid“, sagte die Frau atemlos. „Ich brauche frische Luft.“

„Dann bringen wir Sie, äh, besser mal nach draußen, okay? Wir schauen dann später wieder nach dem Professor.“

„Ja“, erwiderte sie. „Danke.“

Sam starrte Dean an, der einfach nur wütend zurückstarrte.

Was soll ich denn sonst machen?

Als sie erst einmal auf dem Parkplatz waren, hatte die Frau ihre Fassung zurückgewonnen und sprach mit einer stärkeren Stimme.

„Danke sehr, Dean.“

„Sicher, kein …“

In diesem Moment begriff Dean. Er wich schnell zurück.Seine Hand bewegte sich zur Innentasche seines Anzugs und schloss sich um den Griff von Rubys Dämonenkiller-Messer.

„Hör mit dem Quatsch auf, Schwester.“

Die Frau setzte ein widerliches Grinsen auf und ihre Augen wurden dämonenschwarz.

„Ah, ja. Es war einen Versuch wert. Ein Typ wie du – ich dachte, du wolltest die scharfe asiatische Braut retten. Fandest das ganze Lucy-Liu-Ding gut, oder?“

Ah, Mist. Aber Dean schnappte nicht nach dem Köder.

„Du hast ein paar Sekunden, um zu verduften, Scherzkeks.“

„Nicht so einfach, Jungs“, sagte sie und blickte Sam an, der ihnen nach draußen gefolgt war. „Sieh an, ihr beiden seid sogar noch wertvoller als das Hakenschwert. Vielleicht sogar wertvoller als der Geist von Nakadai.“

Sein jahrelanges Pokern half Dean, einen neutralen Gesichtsausdruck zu bewahren.

Der Dämon sprach weiter mit seinem jüngeren Bruder.

„Du siehst furchtbar aus, Sam. Du solltest wirklich besser auf dich achten“, bemängelte das Wesen. „Immerhin bist du Luzifers Gefäß. Es steht dir nicht, überall blaue Flecken zu haben.“ Sie schüttelte den Kopf. „Verdammmich. Michaels Schwert und Luzifers Gefäß. Ich habe wirklich den Jackpot geknackt.“

Dean nahm das Messer aus der Tasche.

„Wir auch.“

Ihre Gesichtszüge entgleisten.

„Aaah, scheiß drauf!“

Der Kopf der Frau fiel zurück und Rauch strömte aus ihrem Mund. Er schoss wirbelnd nach oben wie ein Tornado.

Sie brach zusammen.

„Komm mit“, sagte Dean und ging geradewegs auf den Impala zu. „Das ist ’ne größere Sache, als wir dachten. Wir müssen uns auf die Socken machen.“

„Dean …“, begann Sam, aber sein Bruder schnitt ihm das Wort ab.

„Wir sind auf dem Parkplatz eines Krankenhauses“, sagte er, während er den Autoschlüssel aus der Tasche fischte. „Einer wird ihr schon helfen und wir müssen hier abhauen, bevor der seinen Dämonen-Kumpels erzählt, wer wir sind. Sie können uns zwar dank Castiel nicht aufspüren, aber wir wurden reingelegt, Sam.“

„Ja“, murmelte Sam während er seinem Bruder hinterherrannte. „Du hast recht.“

Einige Minuten später fuhr der Impala auf die I-80 und die Bay Bridge zu.

„Verdammt, das war scheiße“, sagte Dean.

„Wenigstens haben wir den Laptop“, erwiderte Sam. „Wenn wir zurück ins Hotel kommen, sehe ich zu, ob ich etwas finden kann.“

„Wenn es etwas zu finden gibt.“ Dean bewegte das Steuer mit einer Hand. „Er war sich nicht mal sicher. Ich würde darauf wetten, dass Wallace’ Herzinfarkt etwas Nachhilfe von der scharfen asiatischen Braut bekommen hat.“

„Wahrscheinlich.“

„Du hast eine Stunde“, sagte Dean.

„Wie bitte?“

„Wir fahren zurück. Ich ziehe mir richtige Klamotten an und du nimmst dir eine Stunde, um etwas zu finden. Dann gehen wir zu Shin’s Delight, egal was du herausgefunden hast. Das ist Albert Chaos Hauptquartier und dort muss der tote Samurai sein. Wenn auch ein Dämon auf den Geist aus ist …“

Sam nickte.

„Ja, der Einsatz ist höher, als wir dachten.“

„Das erklärt auch, warum Cass uns hierher geschickt hat. Vielleicht glauben die Dämonen, dass ein Typ wie der Geist in einem Kampf nützlich sein kann.“

„Oder die Engel“, schlug Sam vor.

„Ja, oder die Engel.“ Dean fand, dass die Engel nicht viel besser waren als die Dämonen, die sie bekämpften. In vieler Hinsicht waren sie sogar schlimmer – nachdem er in der Hölle gewesen war, verstand Dean, wie verdammte Seelen so werden konnten.

Engel hatten dagegen keine Entschuldigung.

Nachdem sie die Brücke überquert hatten, navigierte Dean durch die Straßen von San Francisco. Als er das erste Mal hier gefahren war, hatte er die Zähne zusammenbeißen müssen. Er verbrachte die meiste Zeit auf Interstates, und selbst wenn er durch hügelige oder bergige Gebiete fuhr, war die Straße meistens gerade. Aber während die meisten Highways durch die Hügel hindurch gebaut worden waren, damit die Straßen möglichst gerade verliefen, waren diese Straßen einfach über die Hügel drapiert worden.

Bei seinem ersten Besuch war Dean zwanzig und Sam noch in der High School. John schlief auf dem Beifahrersitz und Dean hatte ihn nicht wecken wollen.

Als sie endlich an ihrem Ziel im Mission District angekommen waren, glaubte er, dass seine Fingerknöchel für immer weiß bleiben würden. Nachdem ihre Geschäfte erledigt waren, hatte er seinen Vater aus der Stadt herausfahren lassen.

Aber er hatte sich in den vergangenen Jahren daran gewöhnt und es machte ihm nichts mehr aus, wenn der Impala sich so anfühlte, als würde er im rechten Winkel zum Boden fahren.

Sie kamen in die Lobby, wo Castiel auf einem der schlecht gepolsterten Sofas saß und direkt in den Weltraum starrte.

„Cass?“, fragte Dean.

Castiel erhob sich vom Sofa und starrte ihn an.

„Wir müssen reden.“

„Wann müssen wir das nicht?“ Dann schüttelte Dean den Kopf und zuckte mit der Schulter in Richtung der Treppe. „Komm mit.“

Als sie im Zimmer waren, setzte Sam sich an den Schreibtisch und klappte Wallace’ Laptop auf. Dean setzte sich auf sein Bett. Castiel stand in der Mitte des Zimmers.

„Es hat eine Schlacht im Convention Center in der Innenstadt gegeben“, berichtete Castiel. „Ramiel wurde getötet, ebenso ein halbes Dutzend Dämonen. Das Herz des Drachen ist noch nicht im Spiel, aber das ist nur eine Frage der Zeit.“

„Ja“, seufzte Dean. „Wir haben einen Vorgeschmack bekommen.“ Er berichtete Castiel von ihrer Begegnung im Krankenhaus. Der Engel starrte nur mit unbewegtem Gesicht ins Leere.

„Das Herz des Drachen muss aufgehalten werden. Seine Macht ist seit mehr als einem Jahrhundert gewachsen. Unter dem Einfluss der Dämonen könnte sie das Gleichgewicht der Kräfte verändern.“

„Nun, ich bin für Vorschläge offen“, sagte Dean. „Ohne das Schwert …“

Plötzlich wurde es unglaublich heiß im Zimmer – besonders in Richtung des Badezimmers.

Dean sprang auf die Beine und wirbelte herum. Dann sah er einen Mann, der von Feuer umgeben war.

Er musste zugeben, dass er eindrucksvoll aussah. Seine ganze Erfahrung mit Samurai beschränkte sich auf Toshiro-Mifune-Streifen und John-Belushi-Sketche. Jetzt einem echten zu begegnen, war irgendwie cool.

Der Geist bewegte sich weder, noch breiteten sich die Flammen aus. Trotzdem zog Dean das Dämonenkiller-Messer.

Castiels Stimme klang angespannter als sonst.

„Wird … nicht … funktionieren …“

Dean blickte zu Castiel hinüber und sah, dass er sich mit aller Kraft konzentrierte – es schien, als hielte er das Herz des Drachen in Schach.

Dann sprach der Geist.

„Ihr habt das Schwert nicht?“

Das erwischte Dean kalt – die Gestalt sprach japanisch, aber irgendwie verstand er jedes Wort.

„Sag das noch mal?“, antwortete er.

„Ich habe die Anweisung meines Nachfahren, euch beide zu töten, aber dieses Wesen hält mich zurück“, intonierte der Geist mit tiefer, hohler Stimme. „Das ist gut, weil ihr mich vielleicht befreien könnt, aber nur, wenn ihr das Schwert führt.“

Sam stand vom Schreibtisch auf und sprach die Kreatur an.

„Das Schwert wurde uns gestohlen, wir glauben von Albert Chao. Wir versuchen, es zu finden …“

„Ah, Albert Chao“, sagte das Wesen. „Mein Nachkomme hat dieses Mal, so scheint es, kunstfertiger geplant. Er ist keine vertrauensselige Seele. Wenn er befohlen hat, euch das Schwert zu nehmen, hat er es jetzt in seiner Nähe. Ihr müsst es finden – und wenn ihr das getan habt, könnt ihr mich endlich befreien.“

„Ich verstehe nicht“, sagte Sam, „wie kann es dich befreien? Der Zauber darauf bannt dich doch nur für weitere zwanzig Jahre, oder?“

„Ihr müsst den Zauber sprechen, während ihr mein Herz mit der Spitze durchbohrt. Nur dann kann ich frei sein.“

Dean schüttelte den Kopf. Manchmal waren Versuch und Irrtum einfach Mist. Wenn Dad das vor zwanzig Jahren gewusst hätte, wären eine Menge Leute heute noch am Leben.

Dann erhob der Geist sein flammendes Schwert.

„Cass!“, schrie Dean.

Schweißperlen bildeten sich auf Castiels Stirn.

„Ich versuche es …“

„Es tut mir leid“, sagte das Herz des Drachen, als es auf Dean zuging. Ein Schuss knallte in Deans Ohren und der Geist verschwand in einem Lichtblitz. Die Flammen verschwanden im Nichts.

Er drehte sich um und sah, dass Sam ein rauchendes Gewehr in der Hand hielt. Es war, wie immer, mit Steinsalz geladen.

„Guter Schuss“, sagte Dean.

Sam lächelte freudlos.

„Gut zu wissen, dass die Klassiker immer noch funktionieren.“

„Ja, so etwas sollten alle Leute dabeihaben – erspart ’ne Menge Kummer“, stimmte Dean zu und öffnete seine Krawatte. „Wir müssen uns beeilen. Das Salz wird unseren Yojimbo hier für ’ne Weile auf Eis legen und Chao wird ziemlich sauer sein, wenn er merkt, dass sein Lieblingsgeist den Schwanz eingezogen hat.“ Er zog die Krawatte vom Nacken und blickte Sam an. „Du hast zehn Minuten, um etwas Brauchbares zu finden. Dann fahren wir nach Chinatown.“

Sam nickte, setzte sich hin und kauerte sich über den Laptop.

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